- Deutsche Literatur
Deutsche Literatur, im weitesten Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen Volkes, insofern sie Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten Anteils sind oder doch einen bestimmten geschichtlichen Wert für gewisse Perioden und Kulturentwickelungen gehabt haben. In der Regel unterscheidet man die deutsche Nationalliteratur von der wissenschaftlichen (gelehrten) Literatur der verschiedensten Gebiete.
A. Nationalliteratur.
Der Begriff der Nationalliteratur kann mit einer gewissen Willkür bald verengert, bald erweitert werden; immer aber bleibt es unzweifelhaft, daß die poetischen Schöpfungen im Mittelpunkte der Nationalliteratur stehen und deren wichtigsten Teil bilden. Die Werke der deutschen Literatur sind in verhängnisvollen Zeiten das einzige nationale Besitztum gewesen, und jeder Rückblick auf das Werden und Wachsen, Blühen und Welken, Streben und Irren in den Werken der Dichtung erschließt ein mächtiges Stück deutscher Geschichte und deutscher Eigenart.
Spuren deutscher Dichtung und Sage in vorliterarischer Zeit.
Lange vor den ältesten schriftlichen Denkmälern haben die Germanen eine mündlich überlieferte Poesie besessen. Rückschlüsse aus den Dichtungen späterer Perioden, vergleichende Literaturbetrachtung, die Angaben antiker Schriftsteller und altkirchlicher Quellen lassen Inhalt und Form dieser vorgeschichtlichen germanischen Poesie noch ungefähr erkennen. Sie stand mit dem heidnischen Kultus in engem Zusammenhang. Zaubersprüche, die nahe Beziehungen zu den Überlieferungen verwandter Völker zeigen, verbanden altüberlieferte Segensformeln mit knappen mythologischen Eingängen (s. Merseburger Zaubersprüche). Während sie und verwandte Gattungen den Einzelvortrag voraussetzen, wurden Hymnen zu Ehren eines Gottes oder eines Helden beim Umzug um den Opferaltar, um die Leiche oder das Grab des Helden, auch beim Auszug zum Kampfe vom Chor gesungen und mit taktmäßigen Bewegungen begleitet; laikas (alt- u. mittelhochdeutsch leich) war die gemeingermanische Benennung für diese chorische Poesie. Uralte Lieder, in denen die Germanen vom Ursprung des Menschengeschlechts und ihrer Nation sangen, erwähnt Tacitus, und er vergleicht sie nationalgeschichtlicher Überlieferung; daß aber auch das Andenken historischer Helden in der Dichtung bei den Deutschen fortlebte, bezeugt seine Nachricht von Liedern auf Arminius, die noch lange nach dessen Tod erklangen. So pflanzte sich auch bei den Goten die Erinnerung an ihre ältesten Wanderungen im Liede fort. Vor allem aber gaben seit dem Einbruch der Hunnen jene gewaltigen Kämpfe der großen Völkerwanderung, in denen die Germanen das römische Weltreich zertrümmerten, der epischen Dichtung einen reichen Stoff, der, vermischt mit alten mythischen Traditionen, das ganze Mittelalter hindurch den Hauptbestand deutscher Nationalepik gebildet hat. Der Untergang des Ostgotenkönigs Ermanrich, der zuerst dem Ansturm der Hunnen erlag, die mit rheinischen Traditionen vom mythischen Helden Siegfried in Verbindung gebrachten Schicksale des mittelrheinischen Burgunderreiches und seines Königs Gunther, Attilas mörderische Kämpfe und sein Tod wurden in Liedern besungen, deren Inhalt auch im skandinavischen Norden Eingang fand und dort in den Gedichten der »Edda« eigenartig gestaltet wurde.
In Deutschland traten ihnen vor allem die poetischen Überlieferungen vom Ostgotenkönig Theoderich zur Seite, ja die epische Tradition der Ostgoten wurde in Süddeutschland maßgebend; Dietrich (d. h. Theodorich) von Bern (d. h. Verona) wurde hier als Lieblingsheld in den Mittelpunkt der nationalen Epik gerückt, alle jene andern epischen Stoffe wurden mit ihm in Verbindung gesetzt, und gotische Auffassung spiegelt sich noch in ihrer mittelhochdeutschen Gestaltung wider.
Neben den altnordischen und mittelhochdeutschen Dichtungen geben auch mancherlei Erzählungen der ältern Historiker, wie vor allem des Langobarden Paulus Diaconus, Zeugnis von der Fortpflanzung episch ausgestalteter Erinnerungen aus der Völkerwanderung bei den verschiedenen deutschen Stämmen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß in der vorliterarischen Periode das deutsche Heldenlied eine sehr reiche und mannigfaltige Ausbildung erhalten hat.
Die dichterische Form aller dieser altgermanischen Dichtungen, der Sprüche wie der Leiche und der epischen Lieder, ist die alliterierende Verszeile gewesen (vgl. Deutsche Verskunst). Sie ist zugleich mit bestimmten poetischen Stilmitteln und einem bedeutenden Formelschatz der Folgezeit überliefert worden.
I. Zeitraum
von 750 bis um 1180. Die deutsche Literatur unter Führung der Geistlichkeit. 1) Die Karolingerzeit.
Während unter den Goten bereits im 4. Jahrh. mit der Einführung des Christentums auch zugleich eine christliche Literatur in der Nationalsprache durch Ulfilas (s.d.) begründet wurde, begann die allmähliche Christianisierung Deutschlands erst um die Mitte des 8. Jahrh. für die deutsche Nationalliteratur Früchte zu tragen. Waren es unter Ulfilas' Balkangoten naturgemäß griechische Kulturelemente, die mit der christlichen Mission arianischen Bekenntnisses Eingang fanden und die Anfänge gotischen Schrifttums beeinflußten, so war in Deutschland die unzertrennliche Begleiterin des Christentums die lateinische Bildung, seit die fränkischen Könige Vorfechter des römisch-christlichen Glaubens geworden, seit die angelsächsische Mission durch Bonifatius mit der Eingliederung der deutschen Kirche in die römische Hierarchie ihren Abschluß gefunden und seit Karl d. Gr. die römische Kirche und die christlich-lateinische Schule in seinem Reich organisiert, das römische Imperium mit dem fränkischen Königtum vereint hatte. Lateinisch wurde in Deutschland wie in ganz Westeuropa die Sprache der Kirche, der Wissenschaft, der Geschichtschreibung, lateinisch die Sprache der amtlichen Schriftstücke aller weltlichen Behörden, lateinisch alle Schulbildung, und eine reich ausgebildete lateinische Poesie geistlichen und weltlichen Inhalts hat seit der Neubelebung der Studien unter Karl d. Gr. das ganze Mittelalter hindurch auch in Deutschland bestanden. Naturgemäß war es in Deutschland auch die lateinische Schrift, die von den Geistlichen statt der heidnischen, nur für das Einritzen in Metall und Holz benutzten Runenschrift angewendet wurde, um deutsche Rede auf dem Pergament festzuhalten. Erst durch die Möglichkeit, in lateinischer Schrift deutsche Rede zu fixieren, wurde eine d. L. im eigentlichen Sinne begründet. Der Vermittelung lateinischer Sprache und Literatur aber dienten wiederum die ersten derartigen Aufzeichnungen. In lateinischen Texten wurden einzelnen oder auch allen Wörtern die deutschen in der genau entsprechenden grammatischen Form übergeschrieben, so entstanden deutsche Interlinearglossen und Interlinearversionen; auch lateinischen Wörtersammlungen, die man in alphabetischer Anordnung aus geistlichen und weltlichen Schriften zusammengestellt hatte, wurden die deutschen Bedeutungen beigefügt, oder sachlich geordnete Wörterverzeichnisse wurden in entsprechender Weise mit deutschen Erklärungen versehen, so daß man alphabetische oder systematische lateinisch-deutsche Glossare erhielt; hierher gehören das sogen. »Hrabanische« und »Keronische Glossar«, der »Vocabularius Sancti Galli« und andre Denkmäler des 8. und 9. Jahrh. Dienten diese Bemühungen wesentlich den gelehrten Studien, so riefen die Bedürfnisse der Laien die ersten zusammenhängenden Übersetzungen hervor, und zwar waren es die ernsthaften Bestrebungen Karls d. Gr., die Laien mit dem Inhalte des christlichen Bekenntnisses vertraut zu machen, die zunächst zur Übertragung katechetischer Stücke, wie der Taufformel, des Vaterunsers, des apostolischen und athanasianischen Glaubensbekenntnisses, führten. Umfänglichere Übersetzungen, wie die des »Evangelium Matthäi«, der apologetischen Schrift des Isidorus von Sevilla »De fide catholica« u. a., folg ten, zu einer Sammlung vereint, gleichfalls schon zur Zeit Karls und wohl nicht ohne seine Anregung; namentlich die Isidorübersetzung zeigt die deutsche Prosa schon auf einer hohen Stufe der Ausbildung. Nicht nur die christlichen, auch nationale Interessen leiteten Karl d. Gr. bei seinen Bemühungen um eine d. L. Er beschäftigte sich mit der Grammatik seiner Muttersprache und ließ auch die alten, bis dahin nur mündlich überlieferten deutschen Heldenlieder nach dem Zeugnis seines Biographen Einhard schriftlich auszeichnen. Von seiner Sammlung hat sich nichts erhalten, aber das bedeutende Bruchstück des »Hildebrandsliedes«, das gleichfalls damals niedergeschrieben wurde, kann uns einen Begriff von dem Charakter der epischen Überlieferungen jenes Zeitalters geben. Freilich ist es nur ein geringes und dürftiges Überbleibsel gegenüber der Fülle alter Heldenpoesie, die damals noch in Umlauf war. Die alleinigen Pfleger des Schrifttums, die Geistlichen, hatten an ihrer Auszeichnung kein Interesse. Von Wert wurde für sie die deutsche Dichtung nur, insoweit auch sie als Mittel zur Ausbreitung und Festigung des christlichen Glaubens verwendet werden konnte. So entstand eine Reihe geistlicher Gedichte in deutscher Sprache und in den altvertrauten Vers- und Stilformen der Alliterationspoesie; noch zu Karls Zeiten das kurze »Wessobrunner Gebet«, unter Ludwig dem Frommen und auf seine Veranlassung der »Heliand« und die altsächsische »Genesis«, unter Ludwig dem Deutschen das »Muspilli«, das von dem Schicksal der Seele nach dem Tod und den letzten Dingen handelt. Bald aber verließen die geistlichen Poeten die alten Traditionen der alliterierenden Dichtung, um sich der neuen, aus der lateinisch-romanischen Poesie stammenden Form des mit gleichmäßigerm Versbau und strophischer Gliederung verbundenen Endreims zuzuwenden. Dem aus der Fülle altepischer Überlieferung schöpfenden volkstümlichen »Heliand« stellt Otfried von Weißenburg (um 860) sein von Gelehrsamkeit triefendes »Evangelienbuch« in regelmäßigen Reimversen und Strophen gegenüber. Einige kleinere geistliche Reimgedichte schließen sich an, unter denen das »Ludwigslied«, das Lobgedicht eines Geistlichen auf den Sieg Ludwigs von Westfranken über die Normannen vom Jahr 881, durch seine lebhafte Auffassung und seine frische energische Darstellung poetisch den ersten Rang einnimmt.
2) Vom Anfang des 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts
In diesem Zeitraum tritt die deutsche Dichtung aus der literarischen Überlieferung wieder vollständig zurück. Zwar wissen wir, daß auch jetzt das nationale Heldenlied nicht ausstarb, wir wissen auch, daß von den fahrenden Leuten, die an den Höfen durch allerlei Unterhaltungskünste ihren Erwerb suchten, den Spielleuten, manche witzigen Improvisationen, Scherzsprüche, Spott- und Lobgesänge, Lieder auf historische Ereignisse, ähnlich dem Ludwigslied, ausgingen und von Mund zu Mund verbreitet wurden. Aber der Auszeichnung hielt man solche Dinge nicht für wert, und die geistliche Dichtung in deutscher Sprache scheint in diesem Zeitraum ganz außer Übung gekommen zu sein. Dagegen wurde die lateinische Poesie in den Klöstern und auch an den Höfen um so eifriger gepflegt und nach Form und Inhalt beträchtlich bereichert. Besonders zeichnete sich das Kloster St. Gallen aus, wo zugleich mit der Vervollkommnung des kirchlichen Kunstgesanges eine neue metrische Form, die in Verse und Strophen wechselnden Umfanges gegliederte Sequenz, für Deutschland gewonnen wurde. Hier entwickelte sich mit der Ausbildung der liturgischen Festresponsorien, wie in ihrer Verbindung mit symbolischen Handlungen, der erste Keim des geistlichen Dramas. Hier wurde auch (um 930) in dem »Waltharius manufortis« des Eckehart zum erstenmal eine deutsche Heldensage in lateinischen Hexametern besungen, während ein lothringischer Mönch in der »Ecbasis captivi« (um 940) das erste Tierepos schuf und in der ersten Hälfte des 11. Jahrh. im Kloster Tegernsee das Gedicht von »Ruodlieb« als erster Ritterroman verfaßt wurde. Alle diese Dichtungsgattungen treten uns in einer spätern Periode auch in deutscher Sprache entgegen, ebenso wie die Schwänke, Novellen und Gelegenheitsgedichte, die jetzt in der Form lateinischer Sequenzen oder Lieder auch an den Höfen der Könige und der Vornehmen vorgetragen wurden. Dagegen blieb es ein ganz vereinzelter, außerhalb des Stromes literarhistorischer Entwickelung liegender Versuch, wenn die Gandersheimer Nonne Hrotsvith durch die Verarbeitung christ licher Legenden zu lateinischen Prosadramen einen christlichen Terenz schaffen wollte.
In deutscher Sprache ist uns aus diesem ganzen Zeitraum fast ausschließlich prosaische Literatur überliefert, und auch sie erst seit dem Ausgang des 10. Jahrh., wo, wiederum in St. Gallen, Notker Labeo oder Teutonicus (gest. 1022) für die Zwecke seiner Klosterschule eine bedeutende Anzahl umfänglicher Übersetzungen und Erklärungen biblischer und philosophischer Schriften schuf. Seinen Bahnen folgte um 1060 der Abt Williram von Ebersberg mit einer deutschen »Paraphrase des Hohenliedes«.
3) Von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis um 1180
Erst seit den 60er Jahren des 11. Jahrh. erblühte auch wieder eine geistliche Dichtung in deutscher Sprache. Völlig außer Beziehung mit den christlichen Gedichten der Karolingerzeit, ist sie die Neuschöpfung eines Zeitalters, in dem durch die Einführung der von Clugny ausgegangenen Klosterreform asketische Anschauungen in die weitesten Kreise getragen und durch die siegreich aufstrebende Hierarchie die Unterwerfung alles weltlichen Lebens unter das geistliche gefordert wurde. Auch die Laien sollten ganz in diese Vorstellungswelt hineingezogen, alle ihre geistigen Bedürfnisse sollten durch die Kirche befriedigt, auch die deutsche Dichtung ausschließlich mit geistlichem Inhalt erfüllt werden. In Alemannien und in Österreich, am Niederrhein und in Ostfranken treten ziemlich gleichzeitig diese Bestrebungen hervor, welche die d. L. der nächsten hundert Jahre beherrschen. Die Bücher Mosis, die Geschichte der Judith, das Leben Jesu werden in Reime gebracht, der christliche Heilsplan wird von der Weltschöpfung und dem Sündenfall durch die Erlösungsgeschichte hindurch bis zum Ende der Dinge geführt, die Schrecken der Hölle, die Freuden des Himmels werden mit grellen Farben geschildert und Teile der kirchlichen Liturgie werden zur Unterlage umfänglicher Lehrgedichte. Selbst die Künsteleien symbolischer Bibelauslegung und scholastischer Spekulationen müssen für die deutsche Dichtung herhalten. Eine reichhaltige Sammlung solcher Gedichte vereinigten im 12. Jahrh. vor allem eine Handschrift des Stiftes Vorau in Steiermark (hrsg. von Diemer in den »Deutschen Gedichten des 11. und 12. Jahrhunderts«, Wien 1849) und eine des Klosters Milstatt in Kärnten (hrsg. von Karajan in den »Deutschen Sprachdenkmalen des 12. Jahrhunderts«, 1846; von Diemer in: »Milstätter Genesis und Exodus«, Wien 1862). Auch die christliche Legende bietet jetzt der Dichtung reichen Stoff, und von dem rheinischen »Annolied« (Ende des 11. Jahrh.) bis zu der mehr legendarischen als historischen »Kaiserchronik« (um 1152) und bis zum »Marienleben« des Priesters Wernher (1172) ist sie in mancherlei Beispielen vertreten. Durch diese ganze geistliche Poesie klingt als das Leitmotiv immer wieder das memento mori hindurch, das schon ein alemannischer Dichter um 1060 zum besondern Gegenstand einer eindringlichen Mahnung machte, und das hundert Jahre später Heinrich von Melk in einer grimmigen Satire allen Ständen mit erschütternder Beredsamkeit predigte. Aber das Leben verlangte sein Recht. Mit so feindlichen Ausfällen diese geistlichen Poeten auch die weltliche Dichtung ihrer Zeit, die Heldenepik, verfolgten, für die poetische Form und Darstellung haben sie doch deren Traditionen benutzt, und mancher suchte auch in der unterhaltenden Ausführung seines frommen Gegenstandes mit ihr zu konkurrieren. Ja, im 12. Jahrh. waren es Geistliche, die zuerst fremdländische Unterhaltungsstoffe in die deutsche Dichtung einführten. Um 1130 bearbeitete der Pfaffe Lamprecht ein französisches Gedicht von den sagenhaft ausgestalteten Taten »Alexanders d. Gr.«, und ziemlich gleichzeitig dichtete der Priester Konrad das französische »Rolandslied« ins Deutsche um. Dem Interesse an den Wundern des Orients und an den Glaubenskämpfen gegen die Heiden, das besonders durch den ersten Kreuzzug im ganzen Abendland angeregt war, kamen beide Gedichte entgegen und ließen es an frommer Verbrämung ihres Stoffes nicht fehlen. Ihre literarhistorische Bedeutung aber liegt vor allem darin, daß sie der französischen Unterhaltungsliteratur den Weg nach Deutschland öffneten und der deutschen Literatur die ersten umfänglichen Leseepen zuführten. Es war gewiß dieser Anregung zu danken, wenn jetzt der Inhalt alter einheimischer Lieder vom »König Rother« und vom »Herzog Ernst« durch Anfügung von Heidenkämpfen und orientalischen Wunderdingen zu Leseepen erweitert und so zur Niederschrift gebracht wurden: der »Rother« (um 1150) war seit dem alten Hildebrandslied wieder das erste Beispiel eines schriftlich überlieferten Gedichtes aus dem Kreis der deutschen Heldensagen. Besonders der zweite Kreuzzug, an dem die deutsche Ritterschaft sich zuerst unter Führung des Kaisers beteiligte, hat derartige Stoffe auch dem Tagesinteresse nahe gebracht. Er hat aber auch den ritterlichen Taten und dem ritterlichen Leben eine höhere Weihe verliehen und wesentlich dazu beigetragen, ein ritterliches Standesideal zu entwickeln, das auch in der Dichtung Ausdruck suchte. Mächtig wuchsen unter Friedrich Barbarossas tatenreicher Regierung Ansehen und Ansprüche des Rittertums; ritterliche Interessen und Anschauungen drängten sich mehr und mehr in der Literatur hervor, und während die geistlichen Dichter Weltflucht und Entsagung predigten, verherrlichten ritterliche Mären tätiges Heldentum und ritterliche Lieder die Frauenminne. In derselben Zeit und in derselben Gegend, wo Heinrich von Melk in seiner Satire auch gegen den ritterlichen Minnegesang eiferte, dichtete der erste Minnesinger, dessen Namen wir kennen, der von Kürenberg, seine Lieder, und einige andre Strophen, wie die des Burggrafen von Regensburg und manche des Dietmar von Eist, teilen in der schlichten Naturwahrheit wie in der Einfachheit der Form mit den Kürenbergschen Strophen die charakteristischen Merkmale dieser ältesten, aus der volkstümlichen Gelegenheitspoesie herauswachsenden ritterlichen Liebeslyrik. Versmaß und Stil dieser Liedchen stehen der epischen Dichtung ganz nahe, die Reimkunst ist, wie in der poetischen Literatur dieser ganzen Periode, noch unvollkommen. In den Gedichten aller Gattungen ist Reinheit des Reimes noch keineswegs Gesetz. Beim Wiederaufleben der geistlichen Dichtung in der zweiten Hälfte des 11. Jahrh. war der Versbau weit weniger geregelt als in den Reimgedichten der Karolingerzeit, und die unvollkommensten Assonanzen genügten zur Bindung der ohne strophische Gliederung in wechselnden Abschnitten aneinander gereihten Verspaare. Allmählich wurden diese Freiheiten im Laufe des 12. Jahrh. eingeschränkt, ohne daß doch zunächst eine strenge metrische Regel erreicht worden wäre.
II. Zeitraum
von 1180 bis um 1300. Blüte der mittelhochdeutschen Dichtung unter Führung des Ritterstandes
Mit der Glanzzeit des Rittertums fällt auch die volle künstlerische Ausbildung der mittelalterlichen Dichtung in deutscher Sprache zusammen. Die reiche und prächtige Ausgestaltung höfischen ritterlichen Lebens und Treibens, die Verfeinerung der Lebensformen, das Hervortreten der Frau in der höfischen Geselligkeit und das gesteigerte Bedürfnis nach anmutiger Unterhaltung förderte mächtig die Ausbreitung wie die Bereicherung und kunstmäßige Vervollkommnung der Dichtung des Ritterstandes. Erzählungsstoffe, in denen der äußere Glanz und die Ideale des Rittertums weit über die Wirklichkeit hinaus gesteigert erschienen, fanden Eingang. In zierlicher Darstellung, mit eindringlicher Beobachtung und Erörterung der seelischen Vorgänge wurden sie behandelt. Reicher stilistischer Schmuck wurde darüber hingebreitet, und Vers- und Reimkunst wurden zu voller Reinheit und zu gefälligem Wohllaut durchgebildet. Die lyrische Dichtung umspinnt das Empfindungsleben mit kunstvollem Gedankenspiel und entwickelt die metrischen Formen zu unübersehbarem Reichtum; die Lehrdichtung stellt weltliche Tugendideale neben die geistlichen und greift in die politischen Bewegungen und die sozialen Verhältnisse der Zeit ein. In der Ausbildung ritterlichen Lebens und Dichtens waren die Franzosen den Deutschen vorangegangen, und sie gaben ihnen für beides das maßgebende Vorbild. Von Frankreich entlehnte die höfische Epik ihre Vorlagen, an die sie sich oft auf das engste anschloß; von Frankreich nahm auch der höfische Stil der erzählenden wie der lyrischen Dichtung seinen Ausgang. Als Vater höfischer Erzählungskunst galt den spätern Dichtern Heinrich von Veldeke mit seiner um 1180 nach französischer Quelle gedichteten »Eneide«. Ihm folgte auf dem antiken Stoffgebiet Herbort von Fritzlar mit der Bearbeitung einer französischen Darstellung des »Trojanerkrieges«, Albrecht von Halberstadt mit einer Umdichtung von Ovids »Metamorphosen«, während die vollste Durchbildung der höfischen Kunstform und zugleich die Einführung der am meisten vom Geiste ritterlicher Romantik belebten Stoffe seit den 90 er Jahren des 12. Jahrh. durch Hartmann von Aue erfolgte. Durch seinen »Cree« und seinen »Iwein«, beides Bearbeitungen von Dichtungen des Chrétien von Troyes, verpflanzte Hartmann den Arturroman nach Deutschland; im »Gregor« und »Armen Heinrich« schuf er die ritterliche Legende; Stil und Vers der höfischen Erzählung aber bildete er zu unerreichter Anmut und Gefälligkeit aus. In weit weniger flüssiger, mit originellen Bildern schwer beladener Darstellung gestaltete der tiefsinnigere Wolfram von Eschenbach um 1205 einen französischen »Parzival«, in dem sich die Artursage mit der Gralsage verband, zu einem gedankenvollen biographischen Roman aus, in dem er sich den Helden durch ein tatenreiches Leben voll Torheit und Irrung zur Vereinigung ritterlicher und geistlicher Vollkommenheit emporringen läßt. Ebenso verkörpert er auch in seinem »Willehalm« sein Ideal des christlichen Ritters. Der allbezwingenden Gewalt der Minne ist dagegen das Werk seines literarischen Gegners Gottfried von Straßburg gewidmet, die Erzählung von »Tristan und Isolde« (um 1210), deren Stoff, schon um 1180 von Eilhart von Oberge als Abenteuerroman behandelt, bei Gottfried von einem begeisterten Minnekultus durchwärmt, mit feinfühligen psychologischen Erörterungen durchwebt und mit allen rhetorischen und metrischen Reizen höfischer Kunst geschmückt wird. Doch führt Gottfrieds glattfließende Form auch schon zur Breite und zu virtuoser Spielerei. Hartmann, Wolfram und Gottfried bleiben für die Folgezeit die unerreichten Vorbilder höfischer Erzählungskunst. An die beiden ersten schließen sich vor allem die Dichter der Arturromane an. So zeigt sich der Einfluß von Hartmanns »Erec« schon in dem wenig später verfaßten »Lanzelet« des Schweizers Ulrich von Zatzikhoven und der Einfluß Hartmanns und Wolframs in dem gut erzählten »Wigalois« des Wirnt von Gravenberg. Spätere Dichter, die für ihre Erzählungen aus dem Arturkreise schon nicht mehr französische Vorlagen benutzen, sondern überlieferte Motive mit eigner Erfindung frei kombinieren, wie Heinrich von Türlin, der Stricker und der Pleier, pflegen nicht nur im Ausdruck, sondern auch im Inhalt ihrer Gedichte Anleihen bei Hartmann und Wolfram zu machen. Diejenigen aber, die Wolframs Erzählungen unmittelbar fortsetzen, gehen auch in der einseitigen Nachahmung Wolframscher Manier am weitesten, so Albrecht, der Wolframs Fragmente eines »Titurel« zur Unterlage eines großen Gralromanes machte, so die Verfasser des »Lohengrin« und Ulrich von Türlin, der Fortsetzer des von Wolfram nicht vollendeten »Willehalm«. Hartmanns Einwirkung erstreckt sich auf allen Gebieten der höfischen Erzählung am weitesten; ihm folgt auch um 1220 Konrad Fleck in der Erzählung der anmutigen Liebesgeschichte von »Flore und Blancheflor«. Doch tritt ihm in Alemannien Gottfried von Straßburg als maßgebendes Vorbild zur Seite. Diesem folgen vor allem Rudolf von Ems (gest. 1250/54) und Konrad von Würzburg (gest. 1287), der kunstvollste und formgewandteste unter den Epigonen. Beide pflegen neben dem außerhalb des Arturkreises liegenden ritterlichen Abenteuerroman einerseits die großen historischen Stoffe, anderseits die legendarische und novellistische Gattung und wirken mit ihrer sorgfältigen Technik wiederum auf spätere Dichter ein. Die kleinere Erzählung in Reimpaaren ist, seit schon der Stricker (um 1230) sie mit Glück gepflegt hatte, zahlreich vertreten, und neben die schwankartigen und novellistischen Stoffe wird ein Motiv aus dem wirklichen Leben im »Meier Helmbrecht« von Wernher dem Gartenäre gestellt. Eine poetische Selbstbiographie liefert Ulrich von Lichtenstein in seinem »Frauendienst«, der gegenüber der Darstellung eines verkommenen Raubrittertums im »Meier Helmbrecht« die ganze Phantastik abenteuernder Arturhelden in die Wirklichkeit versetzt.
Die reinen gefälligen Formen der höfischen Epik werden vorbildlich auch für Erzählungen, die nicht ausschließlich der Unterhaltung dienen, sondern wie die Reimchroniken zugleich belehren, oder wie die Legenden erbaulichen Zwecken dienen wollen. So zeigen z. B. noch im Anfang des 14. Jahrh. die große steierisch-österreichische Reimchronik Ottokars Anlehnung an Hartmanns »Iwein«, die großen zyklischen Legendenwerke, »Das Passional« und das »Leben der Altväter«, Einfluß des Rudolf von Ems. In Niederdeutschland werden freilich in solchen Werken die alten kunstlosen Formen noch festgehalten, sofern sie ganz in der heimischen Mundart gedichtet sind, wogegen die Nachahmer der höfischen Kunstpoesie, vor allem Romandichter wie Eilhart von Oberge und Bertold von Holle, mit den hochdeutschen Kunstformen auch mehr oder weniger hochdeutsche Sprachformen aufnehmen.
Während von Westen aus die höfische Epik mit ihren aus Frankreich entlehnten Stoffen und ihren von ebendorther beeinflußten Formen eindrang, bildete sich im äußersten Südosten, in den österreichischen Ländern, das mittelhochdeutsche Nationalepos aus, und die alten von der Völkerwanderung her von Mund zu Mund in Lied und Sage überlieferten einheimischen Stoffe hielten erst jetzt ihren Einzug in die d. L. In denselben Gegenden und in derselben Zeit, wo der Kürenberger seine Lieder sang, sind in derselben Strophenform auch Lieder von den Nibelungen erklungen. Sie wurden um 1200 zur modernern Form des ritterlichen Leseepos vereinigt, umgedichtet und erweitert, und so entstand das Nibelungenlied. Die Großartigkeit der alten sagenhaften Hauptmotive und Charaktere, die tragische Verkettung der Handlung und die treue poetische Wiedergabe altnationaler Anschauungen erhebt es zum bedeutendsten aller mittelalterlichen Epen. Versbau und Reim sind auch hier durchaus nach den strengen Anforderungen der Blütezeit geregelt, aber der weit schmucklosere und objektivere Stil unterscheidet sich sehr wesentlich von der Weise des höfischen Epos. Das »Nibelungenlied« wurde vorbildlich für die literarische Ausbildung der nationalepischen Traditionen überhaupt. Am Rhein, wo die höfischen Kreise ganz durch die romanisierende Richtung beherrscht wurden, dauerten noch die alten Überlieferungen nationalepischen Stiles in den Erzeugnissen niederer Spielmannspoesie, wie »Orendel« und »Salman und Morolf«, unberührt durch die moderne Kunst und vielfach ins Burleske gezogen, fort. Zunächst beherrschte in Österreich und Bayern der edlere Stil des Nibelungenliedes das nationale Epos, das auch meist gleich ihm die strophische Form den Reimpaaren vorzog. Doch dringt mit der Zeit auch in diese Dichtungen aus der nationalen Heldensage die kunstlosere, formelreichere und weniger ernsthafte Behandlungsweise der Spielmannsdichtung ein. Am nächsten steht dem Nibelungenlied an poetischem Gehalt wie im Stil die in einer Erweiterung der Nibelungenstrophe gedichtete »Gudrun«. Die Bruchstücke einer mittelhochdeutschen Bearbeitung derselben Sage, die Eckehart im »Waltharius manufortis« behandelt hatte, sind ihm in der Darstellungsweise wie in der Strophenform verwandt. Ganz hat sich dem Einfluß des Nibelungenliedes kaum eins der mittelhochdeutschen Epen aus der nationalen Heldensage entzogen. Ihren beliebtesten Gegenstand bildete die Sage von Dietrich von Bern. Die Kämpfe, die Dietrich im Verein mit Etzels Helden gegen Siegfried und König Gunthers Recken ausfocht, werden im »Biterolf« und im »Rosengarten«, seine Kriege in Oberitalien in »Alpharts Tod«, der »Rabenschlacht« und »Dietrichs Flucht«, seine Kämpfe mit Zwergen, Riesen und Drachen im »Laurin« und den Liedern von »Ecke«, »Goldemar«, »Sigenot« und »Virginal« besungen. Aus einer alten fränkischen Königssage, die jedoch durch die Sage von dem Berner wesentlich beeinflußt wurde, erwuchsen die Dichtungen vom Helden »Wolfdietrich«, die z. T. mit einer Dichtung von der Brautfahrt und dem Tode des lombardischen Königs »Ortnit« vereinigt wurden und in ihren verschiedenen Fassungen die fortschreitende Umbildung des Nibelungenstils in die Spielmannsmanier erkennen lassen.
Während so eine volkstümliche Epik neben der französierenden höfischen durch diese ganze Periode hindurchgeht, wird die alte ritterlich volkstümliche Lyrik, wie sie zuerst in Kürenbergs Liedern hervortrat, bald durch den französischen Geschmack und die Nachahmung französischer, insbes. südfranzösischer, provenzalischer Dichtung verdrängt. Die ersten Vertreter der neuern Richtung sind der Limburger Heinrich von Veldeke, der Pfälzer Friedrich von Hausen, der Schweizer Rudolf von Fenis, der Thüringer Heinrich von Morungen, der zugleich der bedeutendste mittelhochdeutsche Lyriker vor Walther von der Vogelweide ist. In Süddeutschland ist Reinmar der Alte (R. von Hagenau) der Typus der neuen Auffassung. bei der die Minnelyrik der Ausdruck des konventionellen, nach Art des Lehnsdienstes aufgefaßten Minnedienstes ist, die unmittelbare Empfindung eine unbedeutende Rolle spielt und die Reflexion stark überwiegt. Den Höhepunkt der mittelhochdeutschen Lyrik stellt Walther von der Vogelweide (etwa 1170–1228) dar. Von direkter Nachahmung romanischer Muster ist bei ihm keine Rede mehr. Er verschmilzt die von der neuen Richtung ausgehenden Anregungen mit volkstümlichen Elementen; er vertritt in seiner Dichtung die verschiedensten Gattungen der mittelhochdeutschen Lyrik: das weltliche Lied in seinen verschiedenen Formen, ebenso das Tagelied, das geistliche Lied (in seinen Kreuzliedern, einem Lied auf Maria) wie die lehrhafte Spruchdichtung, die bei ihm zuerst auch politischen Charakter gewinnt, und in der er lebhaft für den Kaiser gegen das Papsttum Partei ergreift. Zahlreich sind die Nachfolger dieser Vorbilder gewesen. In Mitteldeutschland war hauptsächlich Heinrich von Morungen maßgebend, in Süddeutschland Reinmar und Walther. Besonders zahlreich sind schweizerische Dichter vertreten. Einer der besten unter den Epigonen ist der schon erwähnte Steiermärker Ulrich von Lichtenstein (um 1250). Eine entschiedene Richtung auf das Realistische nahm die mittelhochdeutsche Lyrik durch Neithart von Reuenthal (um 1230), den Begründer der »höfischen Dorfpoesie«, der seine Stoffe aus dem bäuerlichen Leben, aus der Tanz- und Liebesfreude der Dörfler schöpft. Zu den bemerkenswertesten Vertretern einer mehr realistischen Richtung gehören noch Gottfried von Neifen, der Tannhäuser und Steinmar.
Den lehrhaften Sprüchen ritterlicher und bürgerlicher Lyriker, den Sentenzen und reflektierenden Ausführungen höfischer Epen traten im 13. Jahrh. auch umfänglichere Lehrgedichte zur Seite, die zunächst den sittlichen Idealen und den Lebensanschauungen der ritterlichen Kreise Ausdruck gaben. So verfaßte 1215–16 Thomasin von Zirclaere den »Welschen Gast«; etwa aus derselben Zeit stammt der »Winsbeke«; dem Ende der 20er Jahre gehört Freidanks »Bescheidenheit« an, die in der Form lose aneinander gereihter Sentenzen, unter reichlicher Benutzung alter Spruchweisheit, ihre praktische Lebensweisheit spendet. Den Jahren 1283–99 entstammt der österreichische »Kleine Lucidarius«. Der im I. 1300 geschriebene umfangreiche »Renner« des Magisters Hugo von Trimberg ist bereits den höfischen Lebensidealen völlig abgekehrt.
III. Zeitraum.
Das 14. und 15. Jahrhundert. Die deutsche Literatur unter Führung des Bürgerstandes
Dem literarischen Charakter dieses Zeitraums ist der des 16. Jahrh. eng verwandt, so daß dieses in die Behandlung des 14. und 15. Jahrh. vielfach mit einbezogen werden muß, während es anderseits wegen der Beherrschung seiner Literatur durch die reformatorische Bewegung eine besondere Stellung einnimmt. Mit dem Rückgang des Ritterstandes im kriegerischen und wirtschaftlichen Leben ging auch die ritterliche Dichtung einem schnellen Verfall entgegen. Das Aufblühen des Bürgertums, die Ausbildung eines gelehrten Laienstandes, der Aufschwung der Wissenschaften und die große religiöse Bewegung geben der deutschen Literatur des 14. bis 16. Jahrh. einen von der ritterlichen Romantik der mittelhochdeutschen Blütezeit grundverschiedenen Charakter. Die seine ästhetische Kultur, der Sinn für die reinen und gefälligen Formen geht diesem derb realistischen Zeitalter verloren. In der Zeit von 1310–15 treten uns die letzten höfischen Epen entgegen, die noch mit einigem Geschick die alten formalen Kunsttraditionen festhalten: in Österreich der »Apollonius« des Heinrich von Neustadt, in Mitteldeutschland die Fortsetzung des Gottfriedschen »Tristan« durch Heinrich von Freiberg, desgleichen in Schwaben der »Wilhelm von Österreich« des Johann von Würzburg. Was nach dieser Zeit noch an Ritter- und Abenteuerromanen in Reimversen erscheint, zeigt den völligen Niedergang der höfischen Erzählungskunst, zugleich auch die Verwahrlosung der metrischen Form, oder, wie der letzte Versuch auf dem Gebiete der Artur- und Graldichtung, das großenteils aus ältern Gedichten kompilierte »Buch der Abenteuer« des Ulrich Fueterer (um 1490), die alles Gefühls für Stil und Rhythmus bare Anwendung eines überlieferten metrischen Schemas. Neue Motive werden der poetischen Erzählung ritterlichen Stils im 14. und 15. Jahrh. durch die Allegorie zugeführt, die noch gegen 1340 von Hadamar von Laber in seiner »Jagd« nicht ohne Geschick verwendet wird. Andre Dichter, wie Hermann von Sachsenheim (1453), bringen eine wunderliche Mischung von angelerntem Schwulst mit natürlicher Nüchternheit, und der hölzerne »Teuerdank« (1517) ist der letzte Versuch in der Gattung der ritterlichen Epik. Auch in der geistlichen und lehrhaften Dichtung ist der Hang zur Allegorie im 14. und 15. Jahrh. charakteristisch; mit Vorliebe wird sie in gereimten Erörterungen von der Minne in typischen Formen angewendet.
Wie hier, so wird auch in der Lyrik noch bis ins 15. Jahrh. hinein von ritterlicher Minne gedichtet. Die Letzten, die uns umfängliche Liedersammlungen dieser Gattung hinterlassen haben, sind Graf Hugo von Montfort (gest. 1423) und Oswald von Wolkenstein (gest. 1445). Weit länger haben sich die Formen der mittelalterlichen Kunstlyrik in ihrer schulmäßigen Ausbildung durch bürgerliche Sänger erhalten, die schon seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrh. den Namen Meistersinger für sich in Anspruch nahmen und eine lehrhafte und gelehrte Richtung verfolgten. Bis in die Mitte des 15. Jahrh. waren es berufsmäßige Sänger, wie Marner, Frauenlob, Heinrich von Mügeln, Muskatblut, Michael Beheim, die an den Höfen und in den Städten ihre Kunst übten und andre in ihr unterrichteten. Seit der Mitte des 15. Jahrh. sind die Singschulen nachzuweisen, die nun zunftmäßig organisiert wurden und sich aus seßhaften Bürgern zusammensetzten, die den kunstmäßigen Gesang neben ihrem Gewerbe betrieben. Im 16. Jahrh. nahm die Nürnberger Meistersingschule unter Hans Sachs ihren größten Aufschwung. Doch ist der Meistergesang in den zu äußerlichstem Formalismus verknöcherten Kunsttraditionen der mittelhochdeutschen Lyrik stecken geblieben. Ihre künstlichen Vers- und Skrophenschemen auch rhythmisch und stilistisch zu bewältigen, war er außer stande.
Dem Geiste des Zeitalters waren nur die einfachsten metrischen Formen gemäß. Und nur in ihnen hat er dauernde poetische Werte geschaffen. Vor allem erreicht das Volkslied in seiner schlichten Natürlichkeit die größte poetische Wirkung. In den mannigfachsten Gattungen spiegelt es das Leben und Empfinden der verschiedenen Stände treulich wider, und es entwickelt im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. seinen klassischen poetischen und musikalischen Stil. Während die großen Volksepen des 13. Jahrh. in den »Heldenbüchern« auf triviale Formen heruntergedrückt werden, ohne daß neue Dichtungen dieser Gattung entstanden, blüht die Volksballade kräftig auf, und neben sagenhaften, novellistischen und schwankhaften Stoffen werden auch zahllose kriegerische und politische Zeitereignisse in episch-lyrischer Form behandelt. Das bequemste poetische Gewand aber für kleinere Erzählungen verschiedensten Inhalts, für komische, satirische, politische und lehrhafte Erörterungen mit oder ohne erzählende Beigabe bilden die unstrophischen Reimpaare. In dieser auch von gewerbsmäßigen Reimsprechern gepflegten Gattung kleinerer Gedichte fehlt es nicht an vortrefflichen Leistungen, in denen der kräftige Humor, die gesunde Moral, die satirische Schärfe des Zeitalters den angemessensten Ausdruck gewinnt. Auch das berühmte und weit über Deutschland hinaus verbreitete »Narrenschiff« des Sebastian Brant (1494) ist im Grunde nur ein Zyklus von illustrierten satirischen Reimreden, die der Verfasser gegen die einzelnen Stände und die einzelnen Gebrechen seines Zeitalters richtete. Das große satirische Epos aber, in dem die Tiersage für Deutschland ihre maßgebende Form gewann, der »Reynke de Vos« (1498), kann nicht als selbständige Leistung, sondern nur als Übersetzung aus dem Niederländischen gelten.
Wesentlich eine Schöpfung des 14. und 15. Jahrh. ist das deutsche Volksschauspiel, das, abgesehen von Gesangseinlagen, gleichfalls durchweg die Form der Reimpaare anwendet. Das aus den kirchlichen Festresponsorien entwickelte geistliche Drama hatte, von vereinzelten Erscheinungen abgesehen, bis weit ins 13. Jahrh. hinein die lateinische Sprache festgehalten. Seit dem 14. Jahrh. wird sie zu gunsten der deutschen aufgegeben. Die Dichter und Bearbeiter der Weihnachts-, Passions- und Oster-, der Himmelfahrts- und Fronleichnamsspiele (denen sich verhältnismäßig wenige Legendenspiele hinzugesellten) folgen der geistlichen Tradition. Aber vielfach macht sich auch der Einfluß spielmännischer Technik geltend. Die poetische Individualität hatte hier wenig Raum; ein Spiel, entlehnt aus dem andern, geht in das andre über; gleichwohl trat eine wachsende Mannigfaltigkeit der freier erfundenen und detaillierten Szenen, besonders auch ein Zuwachs an komischen Motiven ein, die den Spielen einen stets volkstümlichern Charakter gab. Unter den Weihnachtsspielen tritt diese Richtung besonders charakteristisch in einem hessischen Stück, unter den Osterspielen in einem niederdeutschen Stück aus Redentin und in einer mitteldeutschen Gruppe hervor, deren ältester und wichtigster Vertreter in einer Innsbrucker Handschrift erhalten ist. Viel umfassender sind die Passionsspiele, deren Ausführung sich oft auf mehrere Tage erstreckte. Hierher gehören z. B. die Frankfurter, das Alsfelder, Heidelberger, Donaueschinger und mehrere Tiroler Spiele. Unter den Himmelfahrtsspielen bietet das Tiroler besonderes Interesse. Andern Stoffkreisen der Bibel und den Apokryphen gehören an die Spiele von »Mariä Himmelfahrt« und das höchst eigentümliche, 1322 zu Eisenach ausgeführte »Spiel von den klugen und törichten Jungfrauen«, dessen Dichter man auch das Erfurter Spiel »Von der heil. Katharina« zuschreibt. Unter den Legendenspielen, die das Leben der Heiligen dramatisieren, finden wir das »Spiel vom heil. Georg«, das Kremsmünsterer »Spiel von der heil. Dorothea«, Spiele von »Susanna«, »Vom heil. Meinhard«, »Vom heiligen Kreuz« (die Legende der Helena, der Mutter Konstantins, behandelnd), fast alle dem 15. Jahrh. angehörig. Den bedeutendsten dramatischen Anlauf nahm im »Spiel von Frau Jutten« der Mühlhäuser »Meßpfaffe« Dietrich Schernberg (1480).
Seit dem 14. Jahrh. treten selbständig neben den geistlichen Spielen, in denen es an derben und possenhaften Szenen nicht mangelt, dramatische Schwänke, vor allem die aus den alten Fastnachtsumzügen entstandenen Fastnachtsspiele hervor, die in den Städten von Gesellschaften junger Leute in Herbergen und Privathäusern gespielt wurden und besondere Bedeutung in Nürnberg gewannen, hier aber auch der rohesten Komik und dem ärgsten Schmutz verfielen. Zwei Nürnberger Dichter, die alle Gattungen der kleinern Reimpaardichtung pflegten, Hans Rosenplüt und der zugleich als Meistersinger tätige Hans Folz, treten zugleich als Verfasser von Fastnachtsspielen hervor.
Bei dem Absterben der im 13. Jahrh. so hoch entwickelten Empfänglichkeit für die Reize der poetischen Form war es natürlich, daß die Prosa in der Literatur dieser Periode erheblich an Ausdehnung gewann. Die Reimchronik tritt mehr und mehr hinter der Prosachronik zurück, und der Prosaroman verdrängt das ritterliche Epos. Besonders sind es fürstliche Frauen, die sich seit dem Anfang des 15. Jahrh. an dieser neuen Gattung der Romanliteratur beteiligten. Zunächst wurden französische Vorlagen übersetzt, dann auch deutsche Dichtungen in Prosa aufgelöst, und so entstand bis weit ins 16. Jahrh. hinein eine lange Reihe ritterlicher Liebes- und Abenteuergeschichten, die, der höfischen Kunstform entkleidet, auch dem Geschmack der bürgerlichen Kreise zusagten und teilweise bis auf die Gegenwart als Volksbücher (s.d.) wieder und wieder gedruckt worden sind. Die bis in die Mitte des 14. Jahrh. an den Prager Hof Kaiser Karls IV. zurückreichenden humanistischen Bestrebungen in Deutschland führten dazu, daß seit der Mitte des 15. Jahrh. auch Übersetzungen italienischer Renaissanceliteratur und einiger klassischer Schriftstellerin den Kreis der populären und Unterhaltungsprosa hineingezogen werden. Heinrich Steinhöwel, Niklas von Wyle, Albrecht von Eyb haben sich auf diesem Gebiete vor allem verdient gemacht. Die geistliche Prosa, im 13. Jahrh. am bedeutendsten durch die feurigen Predigten des Franziskaners Bertold von Regensburg vertreten, gewinnt im 14. Jahrh. an Tiefe und Reichtum des Inhalts wie an Mannigfaltigkeit, Schmiegsamkeit und Fülle des Ausdrucks in den Predigten, Traktaten, Briefen und geistlichen Memoiren der Mystiker, unter denen Meister Eckhart vor allem als Theosoph, Heinrich Seuse als poesievollster Darsteller religiösen Empfindungslebens, Johannes Tauler als Ethiker hervorragen. Die zarte, tiefgründige Innigkeit dieser mystischen Prosa weicht im 15. Jahrh. einer derber zugreifenden und volkstümlichern Art, wie wir sie vor allem in den an Beziehungen auf das tägliche Leben reichen Predigten Geilers von Kaisersberg, des Freundes und Zeitgenossen von Sebastian Brant, sehen. Mit den Mystikern dringt er auf eine Verinnerlichung des religiösen Lebens, mit den Besten seiner Zeit eifert er energisch gegen die Mißbräuche der Kirche.
IV. Zeitraum.
Das Reformationszeitalter
Um die Mitte des 15. Jahrh., während der langen, ruhmlosen Regierung Kaiser Friedrichs III., waren die Zustände des Deutschen Reiches immer unerfreulicher geworden; auch die kirchlichen Streitfragen wurden durch die Reformkonzile von Konstanz und Basel nicht gelöst. Dabei trat eine weitreichende Veränderung aller frühern realen Lebensverhältnisse ein, deren Druck ganze Volksklassen und Stände traf, so daß schon durch diese Vorbedingungen eine Epoche der Gärung und des Kampfes gegeben gewesen wäre. Zugleich aber regten sich Tausende von gesunden Kräften und Bestrebungen, die dazu beitrugen, einen Zustand chaotischer, aber frischer und im ganzen hoffnungsfreudiger Bewegung hervorzurufen. So trafen die großen Bewegungen des Humanismus und der Reformation auf eine außerordentliche Empfänglichkeit der Einzelnen wie der Massen. Eine kaum abzuschätzende Verbreitung des Studiums der Sprachen und Schriftwerke des klassischen Altertums gewann vom Ende des 15. Jahrh. an Bedeutung und Einwirkung auch auf das deutsche Leben, vor allem durch die Reform des Schul- und Universitätsunterrichts und die Schaffung einer von der Kirche emanzipierten Wissenschaft sowie durch den Bruch mit der scholastischen Bildung, die in den »Epistolae obscurorum virorum« (1515–17) mit schneidiger Satire dem Gespötte preisgegeben wurde. Das wichtigste Ideal der Zeit blieb jedoch die kirchliche Reform, und die mächtige Bewegung, die mit dem Auftreten Luthers 1517 ihren Anfang nahm, überwältigte in Deutschland bald alle andern Bestrebungen. Durch sie wurde der Volksgeist bis in seine letzten Tiefen erregt. Diese Zeit gewaltiger Erschütterungen und Kämpfe zeitigte natürlich auch starke und eigenartige Charaktere. Eine Fülle von Kraft und Leben, von geistiger Gewalt und fortreißender Überzeugung rang in der Literatur nach Ausdruck, während die künstlerische Durchbildung und Formgebung in keiner Weise über die Zustände des 15. Jahrh. hinaus gelangte. Eine Renaissance der deutschen Dichtung erfolgt erst im 17. Jahrh.; die künstlerischen Bestrebungen der Humanisten des 16. Jahrh. erschöpfen sich in ihrer lateinischen Literatur. Die deutsche bewegt sich in den Kunstgattungen und in dem Stil des 15. Jahrh. fort. Aber in alle ihre Zweige steigt der Saft der reformatorischen Bewegung. Im Mittelpunkte der deutschen Literatur wie des deutschen Lebens des 16. Jahrh. stand die alles überragende Gestalt Martin Luthers (1483–1546). Der große Kirchenreformator ward auch der größte deutsche Schriftsteller der Zeit; mit seiner deutschen Übertragung der Bibel förderte er wie keiner vor ihm und nach ihm die Bildung der neuhochdeutschen Schriftsprache. Die große Zahl der übrigen Schriften Luthers ward für die gesamte Kampfliteratur des 16. Jahrh. geistiger Quell und zugleich ein Wortschatz, dessen Reichtum Tausende nutzten. Als Dichter brach Luther dem evangelischen Kirchengesang mit seinen Liedern die Bahn, in denen die Kraft, die Glut, selbst der Trotz seines Wesens vom freudigsten Glaubensgefühl und herzinniger Liebe durchdrungen erscheinen. Eine ganze Reihe evangelischer Liederdichter schloß sich an Luther an, unter ihnen Justus Jonas, Paul Eber, Johannes Matthesius, der Nürnberger Lazarus Spengler, der Straßburger Wolfgang Dachstein, der Deutschböhme Nikolaus Hermann, der Niederdeutsche Nikolaus Decius, dann, in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, Nikolaus Selneker, Philipp Nicolai und unzählige andre. Unter den poetischen Polemikern der Reformation ragt Ulrich von Hutten (1488–1523) hervor, der zunächst mit der schneidigen Waffe seiner lateinischen Streitschriften die alte Kirche bekämpfte, dann aber, um auch die Massen zu erobern, in deutscher Poesie und Prosa einen kräftigen Volkston anschlug. Auf katholischer Seite ist vor allen Thomas Murner (1475–1537) zu nennen, der in seinem »Lutherischen Narren« (1522) die schwachen Seiten der Reformationsbewegung scharf und beredt hervorhob. Die überwiegende Mehrzahl der begabten Schriftsteller und Dichter stellte sich jedoch in den Dienst der neuen Bewegung und durchsetzte die herkömmlichen Gattungen der volkstümlichen Literatur mit tendenziös polemischem Inhalt, so vor allem der Schweizer Dichter, Maler und Staatsmann Nikolaus Manuel in seinen lebensprühenden Fastnachtsspielen (1522–29), Erasmus Alberus (1531) und Burkhard Waldis (1541) in ihren Fabeln. Auch der fruchtbarste und populärste weltliche deutsche Dichter des 16. Jahrh., der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494–1576), trat mit seinem Gedicht von der »Wittenbergischen Nachtigall« und seinen vortrefflichen Prosadialogen unter die Kämpfer für Luthers Sache; aber sein milder Charakter und seine poetische Natur zogen ihn doch von dem Gebiete der Tendenzdichtung zu rein poetischem Schaffen. Seine Dichtung bewegt sich in allen den Gattungen, die schon das 15. Jahrh. gepflegt hatte, aber sein reiner Sinn, seine helle, naive Beobachtung, seine anschauliche natürliche Darstellung und sein köstlicher Mutterwitz hebt sie alle, den Meistergesang, die Reimrede, den Schwank und das Fastnachtsspiel, weit über die Kunst der Rosenplüt und Folz, und den Stoff dieser Dichtungsgattungen bereichert er beträchtlich, vor allem auch durch fleißige Benutzung von Übersetzungen aus der antiken und Renaissanceliteratur. Auf dem Gebiete des ernsten Dramas setzt er neben die geistlichen Spiele auch weltliche Komödien und Tragödien, im Grunde freilich nur dialogisierte Erzählungen naivster Art. Einen weitgehenden Einfluß übt auf die deutsche dramatische Dichtung dieses Zeitraums das lateinische Drama, die Schulkomödie nach dem Muster des Terenz, die auf den humanistischen Anstalten gepflegt wird, und das humanistisch-reformatorische Drama, wie es mit bissigster und leidenschaftlichster Tendenz von Thomas Naogeorgus gegen die alte Kirche gerichtet wird. Nikodemus Frischlin ließ seinen lateinischen humanistischen und biblischen Dramen auch deutsche biblische und weltliche Stücke folgen, und unter den zahlreichen Protestanten, die Bibelstoffe für die evangelische Lehre dramatisch verwerteten, zeichnete sich Paul Rebhun (gest. 1546) durch ernsthafte und erfolgreiche Bemühung um reinere und mannigfaltigere Formen des deutschen Verses aus. Die prosaische Unterhaltungsliteratur wird beherrscht durch Schwanksammlungen und Romane, beide großenteils nach fremden Mustern. Doch erschien gegen Anfang dieses Zeitraums das einheimische Schwankbuch von Till Eulenspiegel (um 1500), späterhin entstanden auf deutschem Boden die Bücher vom Doktor Faust (1587) und von den Schildbürgern (1597). Bemerkenswert sind auch Georg Wickrams (gest. 1562) frei erfundene Erzählungen, die ersten Prosaromane in deutscher Sprache. Als Geschichtschreiber sind hervorzuheben der vielseitige Sebastian Frank (1499–1542) und der gründliche Forscher Aventinus (1477 bis 1534), Verfasser einer bayrischen Chronik, ferner der Schweizer Ägidius Tschudi (1505–72). Den Geschichtswerken schließen sich die charakteristischen Autobiographien des Götz von Berlichingen, Thomas Platter und des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen an.
Die deutsche Dichtung der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. steht zwar im allgemeinen noch unter der Herrschaft derselben Einwirkungen und Antriebe wie die der ersten Hälfte, zeigt aber zugleich bemerkenswerte Veränderungen. Die erste frische Begeisterung der großen Erhebung war verbraust, die Hoffnung auf eine einheitliche evangelische Nationalkirche und eine gleichzeitige Erneuerung der alten Herrlichkeit des Deutschen Reiches gescheitert; die reformatorische Stimmung war im Streite der alten und neuen Kirche, des Luthertums und des Calvinismus untergegangen, das Reich trotz Religionsfriedens innerlich zerrütteter als je zuvor. Der theologische Parteikampf und Wortstreit, in den ganz Deutschland wieder und wieder hineingezogen ward, erstickte und zertrümmerte alle nicht theologische Kultur, und mächtig bedrohte die Gegenreformation die neue Kirche.
Als scharfer und schlagfertiger Gegner ihrer Vorkämpfer, der Jesuiten, trat der hervorragendste deutsche Dichter und Schriftsteller der zweiten Hälfte des 16. Jahrh., Johann Fischart (ca. 1550–90), auf den Plan, eine federgewandte Journalistennatur, trotz umfassender Gelehrsamkeit auch mit dem Volksleben und der Volkssprache intim vertraut. Auch fremde Vorlagen durchdringt Fischart mit seinem bizarren Humor, der in der spielenden Behandlung der Sprache sich gar nicht genugtun kann. Neben ihm traten als poetische Erzähler Georg Rollenhagen (1542–1609) und Bartholomäus Ringwaldt (1530 bis ca. 1600) auf. Die dramatische Poesie ward am Ausgange des Jahrhunderts namentlich durch die äußerlich effektreichen Stücke der herumziehenden englischen Komödianten stark beeinflußt, die seit 1586 in Deutschland nachweisbar sind. Die Schauspiele des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig (1564–1613) sind ganz in ihrem Stile gedichtet, während der Nürnberger Jakob Ayrer (gest. 1605) die englische Manier mit den Traditionen der Hans Sachsischen Dramen in seinen Tragödien, Komödien und Fastnachtsspielen vereinigt und die Gattung des Singspiels für Deutschland begründet.
Gegenüber der ersichtlichen Verwilderung des poetischen Gefühls und der Trivialität der Massenproduktion war es eine unvermeidliche Wendung, daß eine kleine Gruppe von Dichtern sich von der volkstümlichen Literatur schied und, edlere Formen, größere Würde der Poesie erstrebend, eine akademische Richtung anbahnte. Während man bis dahin in Deutschland nur in der lateinischen, nicht aber in der einheimischen Poesie eine künstlerische Abrundung des sprachlichen Ausdrucks und des Versbaues angestrebt hatte, wollten diese Dichter, ähnlich wie dies früher schon in andern Ländern, namentlich in Frankreich, geschehen war, eine Kunstdichtung in der Volkssprache schaffen, ein Bestreben, das sich besonders in dem calvinistischen Deutschland zeigte, das mit Frankreich in lebhaftem geistigen Verkehr stand. Vertreter dieser Richtung sind Ambrosius Lobwasser, der Übersetzer der Psalmen Marots, Paulus Melissus Schede und Peter Denaisius, die in Heidelberg wirkten, sodann der Schwabe Georg Rudolf Weckherlin (1584–1653).
V. Zeitraum.
Der Dreißigjährige Krieg und die gelehrte Dichtung
Die eigentliche Begründung einer neuen Kunst- oder vielmehr einer spezifischen Gelehrtendichtung erfolgte unter dem Einfluß der ganz Westeuropa beherrschenden Renaissance-Bestrebungen und fiel zeitlich zusammen mit den fürchterlichen Ereignissen des Dreißigjährigen Krieges, ohne jedoch durch diese wesentlich beeinflußt zu werden. Allerdings drängte sich der Zeitgeist mit seiner blutigen Roheit in die Werke der gelehrten wie in die der ausklingenden volkstümlichen Dichtung hinein, aber der neue Stil der Dichtkunst war im Grund unabhängig von ihm. Durch diesen Stil kam allerdings viel Künstelei und Unnatur in die d. L., die volkstümliche Naivität des 16. Jahrh. lebte nur in einzelnen Dichtern, z. B. Johann Lauremberg, wieder auf. Aber mit dem neumodischen Schwulst verband sich ein Reichtum der Ausdrucksmittel, eine Vielseitigkeit der Instrumentation, von der die frühere Zeit keinen Begriff gehabt hatte, und mit dem Prunk des Sprachstils verband sich eine erstaunliche Erweiterung der metrischen Formen. Anderseits übten die Religionsspaltung, die rauhe Gewalt der Gegenreformation und das furchtbare Kriegselend wie in jeder andern Beziehung, so auch auf die literarische Entwickelung einen schwer schädigenden Einfluß aus. Die rohe Zuchtlosigkeit eines krieg- und blutgewöhnten Geschlechts, die schroffe Standessonderung, die Ausländerei der höhern Stände und namentlich ihre gegen den Ausgang des Jahrhunderts wachsende Abhängigkeit von Frankreich, der verhängnisvolle Einfluß des Hofes Ludwigs XIV., die Servilität des einst so kräftigen und mächtigen, jetzt verarmten und herabgekommenen Bürgertums drückten schwer auf das literarische Leben Deutschlands. Aber es ist doch nicht zu verkennen, daß diese rauhe Zeit ein Geschlecht von bewunderswerter männlicher Kraft großzog, das, schicksaltrotzend und zäh, zu der weichen Empfindsamkeit des ausgehenden 18. Jahrh. den größten Gegensatz bildet. Und noch gegen Ende des 17. Jahrh. treten im deutschen Geistesleben Erscheinungen hervor, die auf Generationen hinaus von entscheidender Bedeutung sein sollten. Auch durch die Reformation war die Vernunft ihrer theologischen Fesseln noch nicht entledigt worden, und die lutherische Orthodoxie der Wittenberger Schule stellte sich jetzt selbst der fortschrittlichen Bewegung, die das 16. Jahrh. so groß erscheinen ließ, hemmend entgegen. Nunmehr aber hebt die Philosophie den Menschengeist aus verjährter Sklaverei empor: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), obwohl mit der Kirche Frieden haltend und eine klug vermittelnde Natur, stellte in seiner bahnbrechenden philosophischen Lehre die Selbständigkeit der Vernunft wieder her, zerbrach das Joch der Theologie und wurde hierdurch der Begründer des Rationalismus, der dann im 18. Jahrh. durch den zwar gedankenarmen, aber äußerst betriebsamen Christian Wolf (1679–1754) wesentliche Förderung erfuhr. Noch zu Leibniz' Lebzeiten wirkte Chr. Thomasius (1655–1728), eine durchdringende Willensnatur, aber ohne bemerkenswerte Originalität der Ideen, in ähnlicher Richtung, mittelalterliche Geistesfron, Hexenwahn und verzopfte Gelehrsamkeit mit Gewandtheit bekämpfend und der Muttersprache auch im akademischen Betrieb Anerkennung erringend. In entgegengesetzter Richtung, aber mit gleicher Wirkung gegen die Herrschaft einer kirchlichen Orthodoxie, die in starrsinniger Beschränkung und trostloser Äußerlichkeit das ganze lebenspendende Erbe der Kirchenreformation verloren hatte, half die pietistische Bewegung mit ihrer Verinnerlichung und ihrem wahrhaft religiösen Leben die Gemüter befreien und der Literatur einen neuen Boden bereiten. In kleinen Kreisen hatte bereits die mystische Theosophie des dunkeln Jakob Böhme, des Schuhmachers von Görlitz (1575–1624), vorgearbeitet. Von epochemachender Bedeutung wurden aber erst die Lehren und Schriften des eigentlichen Begründers des Pietismus, Philipp Jakob Spener (1635–1705), und daneben das segensreiche Wirken seines Schülers Aug. Herm. Francke (1663–1727). An den Pietismus schloß sich im 18. Jahrh. die Empfindsamkeit an, durch die nur die Gefühlsinnerlichkeit auf das weltlich bürgerliche Leben übertragen wurde. So sind die beiden Hauptbestrebungen der vorklassischen Zeit, Aufklärung und Empfindsamkeit, bereits durch die rationalistischen und pietistischen Ideen des aus gehenden 17. Jahrh. vorgebildet.
Der akademische Charakter der literarischen Weiterentwickelung Deutschlands sprach sich am Eingang des 17. Jahrh. in den gepriesenen Sprachgesellschaften (s.d.) aus, die mit der 1617 begründeten »Fruchtbringenden Gesellschaft« (Palmenorden) begannen. Der Palmenorden war bestrebt, durch Übersetzungsarbeiten aus den neuern Literaturen die Einführung einer eigentlichen Kunstpoesie in Deutschland zu befördern. Den größten Teil des Ruhmes dieser neuen Bewegung erntete jedoch Martin Opitz (1597 bis 1639), der unter Anlehnung an die verloren gegangene Schrift von Ernst Schwabe von der Heide die Renaissancepoetik eines Ronsard, Heinsius u. a. nach Deutschland übertrug und durch sein »Buch von der deutschen Poeterei« namentlich die Forderung einer metrischen Reform der deutschen Dichtung mit Erfolg geltend machte. Er wurde als Haupt der sogen. ersten Schlesischen Schule auch von solchen Dichtern anerkannt, die ihn an Bedeutung weit überragten, wie der kraftvolle Lyriker Paul Fleming (gest. 1640) und der sinnig ansprechende, aber gedrückte Simon Dach (gest. 1659). Schlesier waren, gleich Opitz, Fr. v. Logau (gest. 1655), der die Gattung des Epigramms mit einem neuen und tiefen Inhalt zu erfüllen wußte, und der ernste, gedankenvolle Andreas Gryphius (gest. 1664), der sich als tiefsinniger Lyriker, als Verfasser tragischer Dramen, heiterer Volkskomödien und satirischer Possen in gleichem Maß auszeichnete und in den krausen Formen des Zeitgeschmacks eigenartigen Inhalt verkörperte. Bald wurden Opitz' Anschauungen durch andre erweitert. Die Poeten der Nürnberger Dichterschule gefielen sich in dem spielenden Ton der Schäferpoesie und in überkünstlichen Formen, Harsdörfer (gest. 1658) versorgte die Lesewelt daneben auch mit Unterhaltungsliteratur, z. T. nach fremden Vorbildern. Die neuen Formen der Poesie fanden wie in der weltlichen, so in der geistlichen Dichtung Eingang. Die evangelische Liederdichtung dieser Zeit ermangelt zwar der todverachtenden Zuversicht, die den Sängern der Reformationszeit eigen war, aber Martin Rinckhart (gest. 1649; »Nun danket alle Gott«), der in Sündenangst zerknirschte I. Heermann (gest. 1647), Opitz, Dach, Fleming (»In allen meinen Taten«), Georg Neumark (gest. 1681; »Wer nur den lieben Gott läßt walten«), der Reformierte Joachim Neander (gest. 1680) und vor allem der ergreifendfromme, tiefsinnig-edle Paulus Gerhardt (gest. 1676; »Befiehl du deine Wege«, »O Haupt voll Blut und Wunden«) lassen einen neuen Blütenfrühling des geistlichen Liedes erkennen. Und daneben treten bedeutende katholische Dichter hervor: der charaktervolle Jesuit Friedrich v. Spee (gest. 1639), der in seiner mystischen »Trutz-Nachtigall« die geistliche Ekloge spielerisch anbaut, und der Konvertit Angelus Silesius (Scheffler, gest. 1677), der in seinem »Cherubinischen Wandersmann« noch dem mystischen Pantheismus, in der »Heiligen Seelenlust« der Sehnsucht nach dem Heiland tiefsinnigen Ausdruck gibt. – Neben der Lyrik findet die satirische Zustandsschilderung bedeutende Pflege. Daß es zumeist unerfreuliches und unschönes Leben war, was hier wiedergegeben wurde, lag in der Zeit. Zu dieser Gruppe gehören I. M. Moscherosch mit dem großartigen Kulturbild seiner »Wunderlichen und wahrhaftigen Gesichte Philanders von Sittewalt« (1642), Johann Balthasar Schupp (gest. 1661) mit zahlreichen satirischen Schriften halb erzählender, halb didaktischer Natur, im weitern Sinn der kerngesunde plattdeutsche Humorist Johann Lauremberg (gest. 1659) und am Ausgang des Zeitraums der burleske Kanzelredner und volkstümliche Moralist Abraham a Santa Clara (Ulrich Megerle, gest. 1709).
Einige Jahrzehnte nach dem Frieden drang in der sogen. zweiten Schlesischen Dichterschule eine höfisch und vornehm sein wollende Galanterie zugleich mit plumper Unsittlichkeit und wollüstiger Freude an Greueln und Grausamkeit in den Vordergrund der literarischen Darstellung. Dabei suchte sich ein unausrottbarer philiströser und nüchterner Sinn mit der Versicherung zu beruhigen, daß diese Dichtung weder äußeres noch inneres Leben spiegele, daß ein andres gemeint, ein andres gedichtet werde. Die gefeierten Talente dieser Zeit waren der lüsterne Lyriker Chr. Hofmann von Hofmannswaldau (gest. 1679), der anstatt Marinis weiche Sinnlichkeit und schmeichelnden Wohllaut der Sprache nach Deutschland zu verpflanzen, nur dessen Schwulst in Ansehen setzte, und Dan. Kaspar v. Lohenstein (gest. 1683) mit seinen von Schmutz und Schwulst starrenden rhetorischen Tragödien und seinem trotz aller Fehler beachtenswerten Roman »Großmütiger Feldherr Arminius«. Auf ähnlichen Bahnen bewegen sich die Romandichter Philipp v. Zesen (gest. 1689), Andreas Heinrich Buchholtz (gest. 1671), Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (gest. 1714) mit »Aramena« und »Octavia«, ebenso Haus Anselm v. Ziegler und Klipphausen (gest. 1697) mit dem gelesensten Buch der Zeit, der »Asiatischen Banise«. Daneben geht eine andre Richtung her. Spanische Schelmenromane, in denen die Abenteuerzüge eines Landstreichers dem Verfasser Anlaß zu satirischen Schilderungen aus den verschiedensten Gesellschaftsklassen geben, waren schon in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrh. in deutschen Bearbeitungen erschienen. 1669 erschien das Meisterwerk der Gattung, der »Simplicissimus« von Haus Jak. Christoffel v. Grimmelshausen (1625–76), dessen reich bewegte Handlung sich von dem packend geschilderten Hintergrunde des Dreißigjährigen Krieges abhebt. In der folgenden Zeit erschienen die satirischen Zeitromane von Chr. Weise (gest. 1708) und der übermütige »Schelmuffsky« des genialliederlichen Christian Reuter (1696). – Die dramatische Poesie verlor gegen Ende dieses Zeitraumes immer mehr die Fühlung mit der Bühne; die Schauspieler waren auf sich selbst angewiesen und stoppelten sich aus Romanen und aus ausländischen Dramen mit reichlicher Einmischung komischer Bestandteile ihre Repertoire stücke zusammen. Gegen Ende des Jahrhunderts blühte in mehreren Städten, vor allem in Hamburg die Oper, die, seit 1678 eröffnet, ein paar Jahrzehnte lang in Chr. Richter, Postel, Feind, Hunold u. a. fleißige Verfasser musikalischer Dramen besaß.
Als ein Fortschritt mußte es gelten, daß unter dem Einfluß der französischen Literatur, besonders Boileaus, eine gegen den Schwulst der Lohensteinianer gerichtete, korrekte und verstandesmäßige Dichtung aufkam, die rasch genug in überschwemmende, wässerige Versemacherei ausartete. Diese Richtung finden wir bei Canitz (gest. 1699) und Besser (gest. 1729) sowie bei dem schlagfertigen Epigrammatisten Chr. Wernigke (gest. 1725), der die Hamburger Opernpoeten verhöhnte; Hauptrepräsentant war der bereits genannte Zittauer Schulrektor Christian Weise, der in den »Überflüssigen Gedanken der grünenden Jugend« (1668) und in zahlreichen Schulkomödien seine trivial-gesunde Lebensanschauung an den Tag legte.
Eine wirkliche Besserung erfolgte zuerst zu Anfang des 18. Jahrh., als eine Reihe individueller Talente, begünstigt durch Naturell und Lebenseindrücke und feinfühliger als ihre Vorgänger in der Nachahmung ausländischer Muster, der deutschen Dichtung zuerst wieder einen Inhalt, eine gewisse Wahrheit der Schil derungen gaben. Hierher gehören der hochbegabte Christian Günther (1695–1723), der durch die Unmittelbarkeit und frische Sinnlichkeit seines Gefühls zur wirklichen Lyrik durchdrang und selbst das Gelegenheitsgedicht in lebendige Poesie umwandelte; ferner ein Antipode Günthers, der pedantisch-würdevolle Barthold Hinrich Brockes (1680–1747), der durch die breiten Schilderungen seines neunbändigen »Irdischen Vergnügens in Gott« dem religiösen Naturgefühl neue Impulse lieh; hierher Albrecht v. Haller aus Bern (1708–77), der in seinen Anfängen nach von den schlesischen Marinisten beeinflußt war, aber durch seine aus lebendiger Anschauung und Freude an der Wirklichkeit stammenden Schilderungen (namentlich in dem beschreibenden Gedichte »Die Alpen«) und durch ernste Gedankenschwere einen eignen Stil schuf; hierher der phantasievolle, wenn auch künstlerisch nicht durchgebildete Romandichter Joh. Gottfr. Schnabel, dessen weitverbreitete Robinsonade »Die Insel Felsenburg« (1731–43, 4 Bde.) ein eigenartiges Stück Leben und die tiefe Sehnsucht zahlreicher Gemüter nach einem weltfernen, stillumfriedeten Dasein verkörperte; hierher der Liederdichter und poetische Erzähler Friedrich v. Hagedorn (1708–54), der sich an die heitern Dichtungen der Franzosen und jüngern Engländer anlehnte und zugleich das eigne Lebensbehagen im leichten Flusse seiner kleinen Gedichte ausdrückte. Bemerkenswert ist auch, daß seit etwa 1720 in Deutschland Übersetzungen und Nachahmungen der englischen Moralischen Wochenschriften (s.d.) immer häufiger werden und den erstarkenden Einfluß der englischen Literatur vorbereiten. Doch auf vielen Gebieten überwog doch noch die äußerlichste Verehrung der klassischen Vorbilder Frankreichs. Das eigentliche Haupt dieser die Franzosen nachahmenden Schule ward Johann Christoph Gottsched (1700–1766), als Leipziger Professor der Poesie und Beredsamkeit in den 30er und 40er Jahren des 18. Jahrh. der deutsche Geschmacksdiktator, der mit seiner »Kritischen Dichtkunst«, seinen verschiedenen Zeitschriften und z. T. sehr verdienstlichen Sammlungen, mit seinen Briefen, seiner Deutschen Gesellschaft, mit zahlreichen Übersetzungen, eignen rhetorischen Gedichten und seiner unbedeutenden, nach fremden Vorbildern zurechtgeschnittenen Tragödie »Der sterbende Cato« der deutschen Literatur den Weg zur echten Klassizität zu bahnen vermeinte. Ehrlich für den Gedanken einer glänzenden und würdevollen Stellung der Literatur begeistert, nicht ohne Verdienste um manche literarische Einsichten, um die Wiederanknüpfung einer Verbindung zwischen dem Theater und der Literatur, war er doch zu trocken und dürr, um auch nur den Pope, geschweige den Boileau und Racine Deutschlands vorstellen zu können, und erweckte sich überdies durch seinen Hochmut und seine beschränkte Rechthaberei zahlreiche Gegner. Eine treue Mitarbeiterin fand er an seiner Gattin Luise Adelgunde Viktorie, gebornen Culmus (gest. 1762), eifrige Schüler an I. Joachim Schwabe und einer ganzen Reihe von dichtenden Magistern, sowie an Otto Freiherrn v. Schönaich, dessen steifes und wertloses Heldengedicht »Hermann« (1751) Gottsched zum deutschen Nationalepos emporzuloben hoffte. Gottsched lebt fort als der letzte Hauptvertreter der unlebendigen Gelehrtenpoesie.
VI. Zeitraum.
Zeit der Übergänge und des beginnenden Aufschwungs im 18. Jahrhundert.
Ein Gegengewicht gegen Gottsched bildeten die Züricher Gelehrten Joh. Jakob Bodmer (1698–1783) und I. I. Breitinger (1701–76), die gegenüber dem poetischen Rationalismus des Leipziger Literators den schöpferischen Wert der Phantasie erkannten, dem malerischen und anschaulichen Elemente der Dichtung das Wort redeten und namentlich die Bedeutung des Wunderbaren in das rechte Licht stellten. Durch Breitingers »Kritische Dichtkunst« (1740) und einige andre ästhetische Schriften gerieten sie in eine wüste Fehde mit Gottsched. Von dessen ursprünglichen Schülern sonderte sich bald eine Gruppe junger Schriftsteller, meist Sachsen, ab, die, beeinflußt von dem neuen Geiste der Empfindsamkeit, von den moralischen Wochenschriften und der zumeist in England gepflegten »bürgerlichen« Dichtung, gefühlvollen Inhalt des Zeitlebens in gemeinverständlichen Formen zu verkörpern bestrebt waren. Mehrere unter ihnen begannen ihre literarische Wirksamkeit in den »Belustigungen des Verstandes und Witzes«, die der Gottschedianer Schwabe seit 1741 herausgab; dort erschienen unter andern die Erstlingswerke Gellerts, die ersten Satiren Rabeners, das komische Heldengedicht »Der Renommist« von F. W. Zachariä, ferner Briefe und Dichtungen I. Elias Schlegels, der schon frühzeitig in seinen Abhandlungen zur Ästhetik und Theorie des Dramas einen selbständigen Geist betätigte, während er in den meisten seiner Dramen an dem hergebrachten Stil des französischen Klassizismus festhielt. Da die Mitglieder dieses Kreises den Wunsch hegten, ein eignes Organ zu ihrer Verfügung zu haben, gründeten sie die »Neuen Beiträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« (nach dem Verlagsort gewöhnlich »Bremer Beiträge« genannt), die seit 1741 unter K. Chr. Gärtners Redaktion erschienen. Zu dieser Gruppe gehörten außer den genannten I. Arnold Ebert, N. D. Giseke, I. A. Cramer, Adolf Schlegel u. a. Bleibende Bedeutung erlangte in diesem Kreise Chr. Fürchtegott Gellert (1715–69), der bei weitem einflußreichste Schriftsteller des zweiten Drittels des 18. Jahrh. Seine außerordentliche Popularität beruht hauptsächlich auf seinen »Fabeln und Erzählungen«, in denen er im Anschluß an Lafontaines Stil mit bisher nicht erreichter Leichtigkeit und Lebendigkeit des Vortrags sittliche und soziale Zustände der eignen Zeit wie allgemeine menschliche Torheiten spiegelte. In seinen »Geistlichen Liedern« schlug er ergreifende Töne an; auch seine prosaischen Schriften, wie die »Briefe« nebst der »Abhandlung von dem Geschmack in Briefen« und seine »Moralischen Vorlesungen«, übten damals eine bemerkenswerte Wirkung aus. Gleichzeitig mit den Männern der »Bremer Beiträge« löste sich eine Gruppe jüngerer Poeten, die persönliche Freundschaft während ihrer Studienzeit an der Universität Halle verbunden hatte, von der Gottschedschen Schule los. Zu dieser Hallischen Poetengruppe zählten Sam. Gotthold Lange, Immanuel Pyra, der Verfasser der Schrift »Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe« (1743), Nikolaus Götz, der mit Uz die Oden Anakreons übertrug (1716) und in eignen Gedichten die griechischen Lyriker nachzubilden suchte. Joh. Peter Uz ging von leichten, tändelnden Gedichten im (vermeinten) Stil Anakreons späterhin zur ernsten, wohlklingenden Ode und zum Lehrgedicht über; endlich Joh. Wilh. Ludwig Gleim (1719–1803), der, auf vielen Gebieten (z. B. als Anakreontiker und Romanzendichter) anregend und äußerst produktiv, sich doch nur in den vom Siebenjährigen Krieg hervorgerufenen »Liedern eines preußischen Grenadiers« zur Selbständigkeit erhob. Die Richtung auf das Idyll und das beschreibende Gedicht zeigte sich außer bei den Hallensern auch bei dem wackern Chr. Ewald v. Kleist, dessen durch Lieblichkeit und Anschaulichkeit ausgezeichneter »Frühling« (1749) als ein Lenz auch für die Dichtung gepriesen wurde. Mit geringerer Lebensfülle, aber in vollendeter Zierlichkeit waren die Prosa-Idylle Salomon Geßners (1730–88) ausgeführt, die der Verfasser durch seine eignen entzückenden Radierungen schmückte.
In der dramatischen Dichtung hielt sich die Herrschaft der Gottschedschen Ansichten am längsten. doch wurde der Kreis der Kunst erweitert, indem man die französische Gattung des rührenden Lustspiels nachbildete (z. B. Gellert in seinem »Los in der Lotterie«). Sodann begründete Lessing durch sein Jugendwerk »Miß Sara Sampson« (1755) unter Anlehnung an englische Muster das bürgerliche Trauerspiel, das in der deutschen Literatur kräftig fortlebt bis auf unsre Tage. Brawes (gest. 1758) »Brutus« war bemerkenswert durch den von Lessing (»Kleonnis«) angeregten Versuch, die Sprache der Tragödie von der Herrschaft des Alexandriners zu befreien und den fünffüßigen Jambus einzuführen. Im allgemeinen kam jedoch die dramatische Dichtung dieser Zeit über unsicheres Tasten und Suchen nicht hinaus. Ein echter Repräsentant des Eklektizismus, der von der Nachahmung der Franzosen ausging, dann Lessings Neuerungen äußerlich und halb befolgte und schließlich in dem Prosadrama »Romeo und Julie« auf die Tendenzen des Sturmes und Dranges mit vorbereitete, war Chr. Felix Weiße (1726–1804), der als fruchtbarer Poet auf allen Gebieten, als Übersetzer, Jugendschriftsteller und Dramatiker Beifall erntete und die Bescheidenheit und Genügsamkeit der Ansprüche des damaligen Publikums erwies.
In demselben Jahrzehnt, in dem die frühesten Regungen eines neuen Geistes sich in den Arbeiten der »Bremer Beiträger« kundgaben, erfolgte das Auftreten eines wahrhaft genialen Dichters. Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) ward schon epochemachend durch die Anfänge seines bereits in der Studentenzeit begonnenen, erst nach Jahrzehnten (1773) vollendeten Gedichts »Der Messias«, dessen erste Gesänge die »Bremer Beiträge« nicht ohne manche Bedenken ihrer Herausgeber 1748 veröffentlichten. Mit dem sichern Instinkte des Genies hatte Klopstock gefühlt, daß der religiöse Stoff zurzeit der einzige sei, der auf große Kreise, namentlich des deutschen Bürgertums, zu wirken vermochte. Ihn selbst erfüllten die erhabensten Vorstellungen von jener »heiligen Dichtkunst«, für die er nur ein erhabenes Vorbild, Milton, kannte. So tief aber der Dichter den religiösen Stoff erfaßt hat, so überwiegt doch in seinem Werke das lyrische Element allzusehr gegenüber dem erzählenden, er schwelgt ohn' Unterlaß in rührseligen Stimmungen und läßt es an anschaulicher Darstellung und greifbarer Charakteristik allzusehr fehlen. Neben dem großen epischen Gedicht verdankte Klopstock seinen Hauptruhm seinen »Oden«, deren ernster, feierlicher Ton, deren edle Rhythmik und sprachliche Schönheit die Generation, der alles dies neu war, geradezu berauschten. In Klopstocks spätern Dichtungen tritt das patriotische Element immer mehr hervor, er versucht es, um Einmengung altskandinavischer und altkeltischer Überlieferungen die deutsche Urzeit zu schildern und die Poesie der (übrigens gar nicht germanischen, sondern keltischen) Barden wieder aufleben zu lassen. Bei der Autorität, die Klopstock rasch erworben hatte, folgten jedem von ihm eingeschlagenen Pfad zahlreiche ältere und jüngere Talente. Das biblische Epos fand Nachahmer; selbst der alternde Bodmer, der zu Klopstocks frühesten und glühendsten Bewunderern gehört hatte, dichtete ein Epos: »Noah« (»Die Noachide«). Auch Klopstocks bardische Poesie fand Nachahmer, unter andern den Jesuiten Denis (»Lieder Sineds des Barden«, 1773), der sich das Verdienst erwarb, im katholischen Österreich das Interesse für die literarische Bewegung des protestantischen Norddeutschland zu erwecken. Von der Odendichtung Klopstocks wurde die gesamte deutsche Poesie berührt. Mit bewußter Nachahmung der Antike und einseitiger Pflege der Form dichtete Karl Wilhelm Ramler (1725–96), dessen Oden und lyrische Gedichte samt seiner Horaz-Übersetzung durch ihre formelle Glätte und pomphafte Äußerlichkeit Eindruck machten.
Den schärfsten Gegensatz zu Klopstocks Richtung bildete Chr. Martin Wieland (1733–1813), der sich anfangs auch im seraphischen Augenaufschlag gefiel, bald aber unter dem Einfluß der französischen Aufklärungsliteratur, Lucians u. a. zu einer gewissen doktrinären Lüsternheit und hierauf zu einem weltmännisch-graziösen Epikureismus bekehrte. Von seinen frühesten erzählenden Gedichten: »Musarion«, »Idris und Zenide« und »Der neue Amadis«, und den Romanen: »Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva«, »Agathon«, »Der goldene Spiegel« bis zu den Meisterwerken der 1770 er und 1780 er Jahre: der »Geschichte der Abderiten« und dem »Oberon«, entfaltete Wieland eine beständig wachsende Sicherheit und lebensfrohe Behaglichkeit des Erzählens und Darstellens, die sich, obschon er französischen Mustern viel verdankte, sehr wesentlich von der frühern unselbständigen Nachahmung unsrer westlichen Nachbarn unterschieden. Daneben erwarb er als Herausgeber des »Deutschen Merkur«, der ersten bedeutsamen literarisch-belletristischen Zeitschrift in Deutschland, durch seine wichtige Übersetzertätigkeit (erste deutsche Übertragung der Werke Shakespeares 1762–66) einen außerordentlichen Einfluß. Er zog sich freilich auch den ganzen Haß der strengern Naturen zu, die nur Klopstocks Art und Weise gelten lassen wollten. Die mittelbare und unmittelbare Nachwirkung Wielands brachte der deutschen Dichtung eine Fülle von heiterer Anmut, guter Lebensbeobachtung, seither nicht gekannter Beweglichkeit und literarischer Vielseitigkeit. Sie rief aber zugleich bedenkliche Frivolität und Flachheit, geschmacklose und hohle Vielschreiberei hervor. Unter den bessern von Wieland angeregten Schriftstellern gediehen der frivol-graziöse M. A. v. Thümmel (1738–1817), der Verfasser des prosaischen Gedichts »Wilhelmine« und der »Reise in die mittägigen Provinzen von Frankreich«, und Karl August Musäus (1735–87) mit dem »Deutschen Grandison« und den unterhaltend erzählten »Volksmärchen der Deutschen« zu achtbaren Leistungen.
Gewaltiger, tiefer und vielseitiger in die ganze geistige Bewegung der Zeit eingreifend, in eigenartiger Durchdringung von schaffender und kritischer Tätigkeit selbstgesteckte Ziel kühn verfolgend, trat gleichzeitig mit Klopstock und Wieland Gotthold Ephraim Lessing (1729–81) hervor, der mit Recht ein Erwecker und Befreier der Literatur genannt werden durfte, insofern er auf den verschiedensten Gebieten das erlösende Wort sprach und mustergültige Originalwerke schuf. In seinen Jugenddramen und in seiner frühesten kritischen Tätigkeit von dem herrschenden Geschmack noch mannigfach abhängig, durchbrach er durch seine kühne und hochstrebende, nach klaren Anschauungen wie ganzen Leistungen ringende Natur rasch die Schranken. Durch eindringendes Studium des klassischen Altertums gelangte er zu der Erkenntnis, wie wenig die Auffassung der Franzosen und Gottscheds dem wahren Geiste der Antike gerecht werde; durch das Studium der englischen Literatur wurde er auf das bürgerliche Trauerspiel und vor allem auf Shakespeare hingewiesen. Seine großen kritischen Werke: die von ihm herrührenden Teile der »Literaturbriefe«, »Laokoon, oder über die Grenzen der Poesie und Malerei« und die »Hamburgische Dramaturgie«, brachten die unerläßlichen Voraussetzungen und Grundbedingungen einer mehr auf eignen Füßen stehenden, Großes erstrebenden Dichtung endlich zum Bewußtsein, und er schöpfte in seinen dramatischen Meisterwerken: dem Soldatenlustspiel »Minna von Barnhelm«, der bürgerlichen Tragödie »Emilia Galotti« und dem Drama »Nathan der Weise«, mit fester Sicherheit aus der Fülle des umgebenden Lebens und aus der Tiefe der die Zeit erfüllenden großen Kämpfe, an denen er so unerschrocken wie würdevoll Anteil nahm. Wo die Erkenntnis durchdrang, daß die Dichtung in erster Linie Menschendarstellung sei, empfand man auch die Macht von Lessings poetischem Talent trotz des Mangels an lyrischem Stimmungshauch und Farbenfülle. Gesellten sich hierzu die beinahe unberechenbare Wirkung seiner mannhaften, edlen und ernsten, gegen alles Scheinwesen, alle Halbheit und anmaßende Mittelmäßigkeit gerichteten Polemik, seines furchtlosen Wahrheitsdranges, der eigenartige Reiz seines klar durchgebildeten Stils, den selbst die kleinsten Arbeiten aufwiesen: so ergibt sich, wie allseitig und tiefgehend die Wirkung von Lessings Leben und Tun für die Literatur werden mußte. Seine Stellung ist bei alledem immer eine isolierte gewesen; eigentliche Schüler und Nachfolger konnte er um so weniger haben, je seltener sich die kritisch-dialektische Schärfe und der produktive poetische Trieb vereinigt finden. In den Kreisen der Berliner Aufklärer, in denen Lessing viel gelebt hatte, erhob man den unberechtigten Anspruch, seine Richtung allein zu vertreten und weiterzubilden, und setzte sich so unter irrtümlicher Berufung auf Lessing gegen den Ausgang des 18. Jahrhunderts jeder bedeutsamen Weiterentwickelung der Literatur entgegen. Der Mitherausgeber der »Literaturbriefe«, der Buchhändler Friedr. Nicolai (1733–1811), vertrat in zahlreichen Schriften den Standpunkt der »Aufklärung des Verstandes«, die ihm meist mit der plattesten Nüchternheit und Utilitätsrichtung zusammenfiel. Doch in seinem antiorthodoxen Roman »Sebaldus Nothanker« (1773–76) gab er ein interessantes Bild von den kirchlichen Mißständen der Zeit. Der Einfluß Lessings auf das Drama gab sich hauptsächlich durch die eifrige Pflege der bürgerlichen Tragödie und des bürgerlichen Schauspiels nach englischem Muster kund; die Schau- und Lustspiele von Fr. Ludw. Schröder (»Das Porträt der Mutter«), Otto Heinr. v. Gemmingen (»Der deutsche Hausvater«), G. W. Großmann (»Nicht mehr als sechs Schüsseln«, »Henriette«) ragten freilich schon z. T. in die Sturm- und Drangperiode hinüber. – Ward Lessing selbst der Hauptbegründer einer klassischen deutschen Prosa, so daß ein großer Teil der besten Prosaisten des nächsten Zeitraums sich wesentlich nach ihm bildete, so waren doch neben ihm eine Reihe andrer Schriftsteller auf verschiedenen Gebieten aufgetreten, die durch die Form ihrer Werke die Entwickelung der Nationalliteratur fördern halfen. Der größte Zeitgenosse Lessings, Johann Joachim Winckelmann (1717–68), übte durch seine epochemachende »Geschichte der Kunst des Altertums« (1764) eine tiefgehende, befreiende Wirkung auf die gesamte deutsche Literatur und das Erwachen einer lebendigen, sichern, aus Anschauung und Genuß erwachsenden Empfindung für das Schöne. Er lehrte das Griechentum als den höchsten Ausdruck der antiken Kultur würdigen, während seit der Renaissance die meisten Kritiker die Erzeugnisse des griechischen und des römischen Geistes als gleichwertig betrachtet hatten, wenn sie nicht gar die Römer über die Griechen erhoben. Und durch diese Anschauungsweise bereitete Winckelmann auch in der Poesie eine neue, von der französisch-gottschedischen grundverschiedene klassische Richtung vor. Als Popularphilosophen, die einzelne Untersuchungen und Betrachtungen in gefälliger Form weitern Kreisen der Bildung vermittelten und sich mit Lessings Bestrebungen vielfach berührten, ohne ihm irgend gleichzukommen, traten hervor Moses Mendelssohn (1729–86), der erste Israelit, der eine einflußreiche Stellung in der deutschen Literatur gewann; ebenso der Schweizer Isaak Iselin mit der Abhandlung »Über die Geschichte der Menschheit« (1764) und der Österreicher Joseph v. Sonnenfels (1733–1817), der direkt Lessing nachahmte, aber mit seiner mannigfach aufklärenden Vielgeschäftigkeit sich nicht zu dauernd wertvollen Leistungen erhob, obschon seine »Briefe über die wienerische Schaubühne« und die Abhandlung »Über die Abschaffung der Tortur« zu ihrer Zeit hoch gepriesen wurden; Thomas Abbt (1738–65) mit den Abhandlungen: »Vom Verdienst« und »Vom Tod für das Vaterland«; Joh. Georg Zimmermann (1728–95) mit dem vielgelesenen Werke »Über die Einsamkeit«; Christ. Garve (1742–98), der in seinen »Versuchen« und »Vermischten Aufsätzen« mannigfache Themata des Lebens, der Moral und Literatur mit bemerkenswerter Klarheit und Schönheit der Darstellung vom Standpunkte der Aufklärung aus besprach, und endlich der in den gleichen Anschauungen wurzelnde seine Satiriker Lichtenberg (1742–99), der den neuen Geist des Sturmes und Dranges mit scharfem Spott verfolgte.
VII. Zeitraum.
Die Sturm- und Drangperiode und die Periode der klassischen Dichtung.
Die beiden Hauptströmungen der vorigen Periode, die Empfindsamkeit einerseits und die Aufklärung anderseits, waren, so weit sie auch auseinander lagen, insofern doch vergleichbar, als sich in beiden als treibende Kraft das Streben nach freierm Menschentum geltend machte. Klopstock, der große Interpret der Empfindsamkeit, befreite das Gefühl, namentlich das religiöse, das Nationalgefühl und die verschiedenen Formen der Sympathiegefühle (Freundschaft, Liebe) aus ihrer konventionellen Verbildung, während Lessing, der größte Heros der Aufklärungstendenzen, den hemmenden Wust einer vernunftwidrigen Überlieferung auf vielen Gebieten des geistigen Lebens beseitigte. Bewußter und allseitiger, aber nicht ohne Übertreibung verfocht die Geniezeit oder, wie wir sie jetzt meist (nach Klingers Drama) zu benennen pflegen, die Sturm- und Drangperiode dieses Streben nach innerer Befreiung der durch Konvention und Knechtschaft entarteten Menschennatur. Unter dem bestimmenden Einfluß von Rousseau, ohne den die Sturm- und Drangperiode kaum denkbar wäre, bemühte man sich, alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche die Entwickelung der in den Menschen gelegten Kräfte und Triebe hätte aufhalten können. Die »Natur« sollte unverfälscht in die Erscheinung treten; »Natur« war das Schlagwort der Zeit. Da nun zuvor durch die hemmende Kultur vor allem die sogen. niedern Seelenkräfte (Phantasie, Gefühl, Leidenschaft) unterdrückt worden waren, so galt es, diese zu entfesseln. Hierdurch entstand eine geistige Bewegung und Umwälzung von unermeßbarer Bedeutung, und wenn sie auch zu einigen Entartungen führte (ähnlich denjenigen der unter den gleichen Bedingungen entstandenen französischen Revolution), so wußte sich doch das gesunde deutsche Dichtergeschlecht bald zu maßvollerer Haltung zurückzufinden und den Gewinn des neuen Lebens in die nächste Periode, das klassische oder das Humanitätszeitalter, hinüber zu retten. Die Führer der Sturm- und Drangperiode, Goethe und Schiller, werden bald darauf die Erneuerer des klassischen Ideals. – Waren in der vorausgegangenen Periode der Empfindsamkeit vor allem die Sympathiegefühle, Freundschaft und Liebe, zu weichster Innigkeit gediehen, so gesellte sich jetzt zu ihnen ein oft tumultuarisch kräftiges Selbstgefühl, inniges Naturgefühl, pathetisches Nationalgefühl und bei manchen mystische Religiosität, denen andre heidnischen Trotz entgegenstellten; kurz, die vielseitigste Gefühlsentfesselung bildet das Kennzeichen der Zeit.
In den Anfängen der Sturm- und Drangliteratur tritt auch der englische Einfluß deutlich zutage. Youngs »Gedanken über Originalwerke« (1759), in denen der Unterschied zwischen gelehrter und genialer Dichtung dargelegt war, Percys Sammlung altenglischer Volkslieder (1765), die zur Verbreitung der Überzeugung beitrugen, daß die Poesie nicht das Besitztum einer privilegierten Kaste, sondern eine »Welt und Völkergabe« sei, die Veröffentlichung der Dichtungen Ossians (1760–63), die als Muster volkstümlicher Darstellung bewundert wurden, wirkten bald nach Deutschland hinüber. Der eigentliche Eröffner der Bewegung in Deutschland ist I. G. Hamann aus Königsberg, der »Magus des Nordens«, der seit 1759 in einer Reihe von kleinen Schriften die Aufklärungsbildung bekämpfte und den Gedanken verfocht, daß die Vernunft nicht das höchste Prinzip sei, und neben ihr auch Phantasie und Gemüt zu ihrem Recht kommen müßten. Hamanns Landsmann und Schüler war Johann Gottfried Herd er (1744–1803), in dessen zahlreichen und vielseitigen Schriften sich alle geistigen Elemente der Bewegung begegneten. Die Genialität, der Gedankenreichtum und die ethische Hoheit Herders wirkten mächtig auf die ganze Literatur der Zeit ein; speziell für die Dichtung wurde seine Anschauung über das Wesen der Ur- und Volkspoesie entscheidend. Was Herder in den Hauptwerken seiner zweiten klassischen Peri ode, dem Buch »Vom Geiste der ebräischen Poesie«, den »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1785–94), den Dichtungen und Abhandlungen der »Zerstreuten Blätter« gab, war nur Läuterung und weitere Ausführung der in seinen Jugendarbeiten gegebenen Anregungen. Als selbständiger Dichter blieb Herder vorwiegend didaktisch und reflektierend; seinen eignen Forderungen an die Poesie kam er am nächsten in den von ihm übertragenen und gesammelten »Volksliedern« und dem Romanzenkranz »Der Cid«. Die Richtung auf positive Gläubigkeit zeigt sich mit dem Kraftgenialen gemischt bei Lavater, dem Begründer der Physiognomik (1775–78), ferner in den Dichtungen und Volksschriften des »Wandsbecker Boten« Matthias Claudius (1740–1815), der zu den ersten gehörte, die den Ton des echten, herzgebornen Volksliedes wiederum trafen, und in den Schriften von Heinrich Jung, genannt Stilling (1740–1817), dessen Selbstbiographie: »Heinrich Stillings Leben«, die eigentümlichen Lebensanschauungen der »Stillen im Lande« spiegelten. Zu den Schwärmern und Mystikern hinüber neigte auch Fr. Heinrich Jacobi (1743–1819) mit seinen religionsphilosophischen Schriften und Romanen (»Eduard Allwills Papiere« und »Woldemar«).
Von besonders günstiger Wirkung war der Geist der Geniezeit für das Gedeihen der Lyrik, die fortan jahrzehntelang einen Flor entwickelte, der zu keiner Zeit und in keinem Lande seinesgleichen fand. Schon die Klopstockianer des Göttinger Hains stimmten hier und da einschmeichelnde Töne an, ebenso außer dem Herausgeber ihres Organs, des »Musenalmanachs«, H. Chr. Boie (1744–1806), die beiden Brüder Christian (1748–1821) und Friedrich Leopold (1750–1819), Grafen zu Stolberg, Johann Martin Miller aus Ulm (1750–1814), der Verfasser des »Siegwart«, ferner der liebenswürdige und naiv-fröhliche Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748–76) und Jahann Heinrich Voß (1751–1826), der sich aber bald den klassischen Tendenzen zuwandte. Seine Natur drängte ihn in der Lyrik zur Reflexion und zum breiten Moralisieren; zur Vollendung gelangte er als Idyllendichter in einer Reihe kleiner Meisterstücke und in einigen Teilen seines Gedichts »Luise«. Die größte Wirkung und Nachwirkung aber gewann er durch seine meisterhafte Übertragung der Homerischen »Odyssee« (1781). Der einzige Dramatiker dieses Kreises war Anton Leisewitz, dessen Tragödie »Julius von Tarent« (1776) große, doch leider unerfüllt bleibende Hoffnungen erregte. Den Göttingern nahe stand, obschon er dem studentischen Dichterbund nicht angehörte, der hochbegabte Gottfried August Bürger (1748–94), der die neuen Forderungen an den Dichter mit seinen besten Liedern und kraftvollen Balladen zuerst ganz erfüllte, zuerst echt volkstümliche, herzergreifende Töne, die unmittelbarste Lebendigkeit der Erzählung und Schilderung, sinnliche Frische und hinreißende Macht des Ausdrucks besaß. – Während die Lyriker solchergestalt zur vollen Selbständigkeit erwuchsen, vertauschten die dramatischen Talente der Sturm- und Drangperiode die seither geltenden Muster mit dem Anschluß an Shakespeare. Die meisten glaubten durch Nachahmung der vermeinten Formlosigkeit Shakespeares seine gewaltige Wirkung zu erreichen. Spuren dieser Auffassung Shakespeares zeigen sich bereits bei Gerstenberg, sowohl in seinem Aufsatz »Etwas über Shakespeare« (1766) als auch in seinem Drama »Ugolino« (1768). Außer Goethe und Schiller, den Führern der Bewegung, gehörten zu den Geniedramatikern F. M. Klinger (1752 bis 1831), dessen wildleidenschaftliche Dramen und spätere Romane uns Geist und innere Widersprüche der Zeit ebenso vergegenwärtigen, wie dies das Leben des Dichters selbst tut; M. Reinhold Lenz (1750 bis 1792), der in den Dramen: »Der Hofmeister«, »Die Soldaten« und »Der neue Menoza« Fratze und lebensvolle Genialität verband; Friedrich Müller (»Maler Müller«, 1750–1825), dessen »Faust« Ansätze zu echter Charakteristik und Lebensdarstellung enthielt, während die vortreffliche »Genoveva« erst Jahrzehnte nach ihrer Abfassung erschien, als sich der Geschmack des Publikums bereits verändert hatte; ferner Fr. v. Goué (gest. 1789), Heinrich Leopold Wagner (1747–83) u. a. An Goethes »Götz von Berlichingen« schlossen sich die Verfasser von Ritterdramen an, Jakob Maier (»Fust von Stromberg«, 1782), I. A. v. Törring (»Agnes Bernauerin«, 1780), Joseph Marius v. Babo (»Otto von Wittelsbach«, 1781).
Im Rom an zeigt sich vielfach der Einfluß der großen englischen Humoristen jener Zeit: Smollet, Fielding. Sterne, Goldsmith. Der bedeutendste unter diesen humoristischen Romanschriftstellern ist Th. v. Hippel (»Lebensläufe nach aufsteigender Linie«, 1778–81); Joh. Gottwerth Müller schuf mit seinem »Siegfried von Lindenberg« (1779) ein Werk, das sich lange Zeit großer Beliebtheit erfreute. Unter den Romanen, in denen sich der deutsche Sturm u. Drang widerspiegelt, steht Goethes »Werther« obenan; nach ihm sind zu nennen: Wielands Schüler Wilhelm Heinse (1749 bis 1803), der in seinen Romanen: »Ardinghello oder die glückseligen Inseln« u. »Hildegard von Hohenthal« feurige Kunstbegeisterung und schwelgerisch-üppige Sinnlichkeit verband; I. K. Wezel (1747–1819), Karl Ph. Moritz (1757–93), dessen »Anton Reiser«, ein autobiographischer Roman von eigentümlichster Bedeutung, einen vollen Einblick in die Gegensätze und die Gärung der Zeit verstattet. – An die Romandichter reihen sich jene Prosaiker der Periode an, die in schildernden und historisch darstellenden Schriften die ganze bunte Mannigfaltigkeit, das Durcheinanderwogen der Bestrebungen und Meinungen repräsentieren, und unter denen es an einer Reihe von Originalgestalten, die Träger der entschiedensten geistigen Gegensätze waren, gleichfalls nicht fehlte. Hier sei erinnert an Justus Möser (1720–94), in seinen »Osnabrückischen Geschichten« ein geistvoller Historiker, in seinen »Patriotischen Phantasien« der beredte Lobredner des deutschen Individualismus und einer natürlich-gesunden Grundlage aller gesellschaftlichen Zustände; an den geistvollen und vielseitigen Helfrich Peter Sturz (1737–79); an den Weltumsegler Georg Forster (1754–94), dessen »Schilderungen aus der Südsee« und »Ansichten vom Niederrhein« von Rousseauschem Geist erfüllt waren; an den volkstümlichen Journalisten und Poeten Chr. Daniel Schubart (1743–91), den Herausgeber der »Deutschen Chronik«.
In und aus der wilden Gärung der Sturm- und Drangperiode rangen sich die größten Naturen und vorzüglichsten Geister der deutschen Literatur zu reiner und bleibender Wirkung empor. Galt dies schon von Herder, Voß u. a., so kam es in erhöhtem Maß zur Erscheinung bei den beiden größten Dichtern der Nation, die mit ihren Anfängen und einem guten Teil ihrer Entwickelung in der Genieperiode wurzelten und die bleibenden Lebenselemente und Forderungen, die dieser entstammten, in ihren Dichtungen zum unverlierbaren Besitz der Nation, zur Voraussetzung der gesamten deutschen Bildung wandelten. Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), der mit seinen Erstlingswerken, dem Drama »Götz von Berlichingen« (1773) und dem Roman »Die Leiden des jungen Werthers« (1774), welche die Forderung warmnatürlicher unmittelbarer Lebensdarstellung über die hochfliegendsten Hoffnungen hinaus erfüllten, sofort der gefeiertste Dichter der Sturm- und Drangzeit war, erhob sich im Verlauf seiner mächtigen und einzigen Entwickelung zum größten Dichter der Nation und der letzten Jahrhunderte überhaupt. Lyriker von unvergleichlicher Tiefe und höchstem Empfindungsreichtum, als Epiker und Dramatiker Schöpfer einer ganzen Reihe von Werken des tiefsten Gehalts und der edelsten Form, die sämtlich die Macht seiner Phantasie, den Adel seiner Natur, die größte Weltkenntnis und Weltbeherrschung neben der unbeirrbaren Simplizität und beinahe unversieglichen Frische einer großen Künstlernatur erwiesen, wirkte Goethe tief auf die deutsche Entwickelung und weit über die Nation hinaus auf andre Literaturen. Die eigentümlichste Durchdringung von objektiv angeschautem und dargestelltem Leben mit der Leidenschaft und dem subjektiven Gehalt seines Busens wurde ebenso wie die Versöhung der ausgebreitetsten und vielseitigsten Bildung mit der ursprünglichsten Leidenschaft und Stärke, und die ethische wie die künstlerische Läuterung seines Genius, für die seine Werke Zeugnisse sind, erst ganz begriffen, als die Reihe seiner größern und kleinern Werke sich überblicken ließ. »Iphigenie« (1787), »Egmont« (1788), »Torquato Tasso« (1790), die epische Dichtung »Hermann und Dorothea« (1797), die Romane: »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795–96) und »Die Wahlverwandtschaften« (1809), die klassischen Spätlingswerke: »Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit« (1811–32) und »Westöstlicher Diwan« (1819), endlich die über Goethes ganzes Leben sich erstreckende Dichtung »Faust« (das weltumfassendste und tiefste poetische Werk der deutschen Literatur überhaupt), die Fülle seiner Lieder und übrigen lyrischen Gedichte zeigten die ganze Summe seiner schaffenden, forschenden und bildenden Tätigkeit, mit der er gestrebt hatte, sich ein Ganzes zu erbauen.
Einer raschern Wirkung erfreute sich Friedrich Schiller (1759–1805), der dem Freiheits- und Humanitätsdrang des 18. Jahrh. den mächtigsten und poetisch schwungvollsten Ausdruck in seinen Dichtungen gab. Mit den Dramen: »Die Räuber«, »Fiesco«, »Kabale und Liebe« und »Don Carlos« (1781–87) beginnend, deren jedes eine Sehnsucht und Forderung der Zeit gewaltig fortreißend aussprach und lebendig verkörperte, durch seine historischen Schriften (»Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande«, »Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs«) bahnbrechend für eine gedankenreiche, farbenvolle und fesselnde Prosadarstellung, leitete Schiller mit seinen philosophischkritischen Abhandlungen die Versöhnung zwischen den Anschauungen der Gärungsepoche und der strengen Ethik der Kantschen Philosophie ein und dokumentierte jenen einzigen subjektiven Idealismus, jene wunderbare Selbstläuterung, jene Durchbildung zur künstlerischen Vollendung in seinem Sinne, die ihn mit Goethe in geistigen Einklang setzte und alle Gedichte seiner letzten Periode sowie eine Reihe seiner Meisterdramen (»Wallenstein«, »Maria Stuart«, »Die Jungfrau von Orleans«, »Die Braut von Messina«, »Wilhelm Tell«, den Torso des »Demetrius«, 1799–1805) durchdringt und verklärt.
Neben den großen Gestalten Goethes und Schillers erscheinen die Zeitgenossen leicht kleiner, als sie waren. Das Publikum freilich ließ sich das Recht nicht nehmen, auf seine eigne Weise neben den Heroen Größen zu schaffen und anzuerkennen. Bald bewunderte es die geistvolle und phantasiereiche, aber fragmentarische und schon frühzeitig manieristische Weise von Jean Paul Friedrich Richter (Jean Paul, 1763–1825), dessen beste Romane, wie »Hesperus«, »Titan«, »Siebenkäs«, »Die Flegeljahre«, es einigermaßen rechtfertigten, wenn man ihn als den klassischen Humoristen bezeichnete; bald hielt es sich an Poeten, die auf einem kleinen, beschränkten Gebiet Vorzügliches leisteten. Hierher gehören Lyriker wie der weiche und elegante Fr. v. Matthisson (gest. 1831), sein kräftigerer Freund I. G. v. Salis (gest. 1834), A. Mahlmann (gest. 1826), Chr. Aug. Tiedge (gest. 1840, »Urania«), Schmidt von Lübeck (gest. 1841), Ludw. Theobul Kosegarten (gest. 1818) u. a.; hierher Dramatiker einer dürren Regelmäßigkeit, die sich neben der eigentlich klassischen lebensvollen Kunst geltend zu machen suchten, sowie Heinrich Jos. v. Collin (»Regulus«, 1802), oder Persönlichkeiten vom Schlage des derben, knorrigen I. G. Seume (1763–1810), dessen autobiographische Schriften (»Spaziergang nach Syrakus«, »Mein Sommer«, u. a.) größeres Verdienst hatten als seine Dichtungen. Daneben standen jene Autoren in hohem Ansehen, welche die Gefühls- und Gedankenelemente der letzten Jahrzehnte mit den Überlieferungen der Aufklärungsperiode äußerlich und zum Zweck der Unterhaltung verbanden, so A. v. Kotzebue (1761–1819), der fruchtbare und erfindungsreiche, aber charakterlose Theaterschriftsteller, dessen Lustspiele und Dramen die Bühnen förmlich überschwemmten und fast in Alleinbesitz nahmen; so Iffland, der neben Kotzebue, wenn auch nicht mit so frivolen Mitteln, den Bedarf des Repertoires an Familien- und Rührstücken deckte; so August Lafontaine (1758 bis 1831), dessen rührselige Romane und »Gemälde des menschlichen Herzens« Tausende von weichlichen Naturen entzückten; so Heinrich Zschokke (1771–1818), der, mit Schauerdramen und sentimentalen Romanen beginnend, sich zu einem gewandten Erzähler leichter Art wandelte. – Unter dem unmittelbaren Einfluß der weimarischen Freunde standen nur einige Talente zweiten Ranges, z. B. die Dichterinnen Sophie Mereau (gest. 1806) und Amalie v. Helvig, geborne v. Imhoff (»Die Schwestern von Lesbos«,1799), und Schillers Schwägerin, Karoline v. Wolzogen (»Agnes von Lilien«, 1796). Höheres erstrebte Schillers begabtester Schüler, Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843), dessen schwungvolle lyrische Dichtungen, der Roman »Hyperion« und das Fragment »Empedokles«, einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach einer höchsten, unerreichbaren Freiheit und Schönheit des Lebens Ausdruck geben. Zu klassischer Vollendung bildete I. P. Hebel (1768–1826) in den »Erzählungen des rheinländischen Hausfreundes« die volkstümliche Erzählung aus und bewährte in seinen »Gedichten in alemannischer Mundart« eine tief gemütvolle, schalkhaft-liebenswürdige Natur. Selbst Jean Paul fand Nachfolger und Nachahmer, z. B. im Grafen Bentzel-Sternau (1767–184)), dessen Romane (»Das goldene Kalb« und »Pygmäenbriefe«) die Mängel des Vorbildes lebhafter empfinden lassen als dessen Vorzüge. Auch die wissenschaftliche Prosaliteratur dieses Zeitraums nahm in fortwährender Wechselwirkung mit der Dichtung einen glänzenden Aufschwung. Der stärkste und segensreichste geistige Einfluß, der außer dem Goethe-Schillerschen auf die damalige und manche folgende Generation stattfand, ging von dem größten deutschen Philosophen, Immanuel Kant (1724–1804), aus. Neben seinem Hauptwerke: »Kritik der reinen Vernunft« (1781), wirkte er vor allem auf das sittliche und geistige Leben der Nation durch die strengen und ernsten ethischen Grundsätze seiner »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) und durch die ästhetischen Theorien seiner »Kritik der Urteilskraft« (1790). Während er selber darauf verzichtete, die Resultate seines Denkens in ansprechender und allgemein verständlicher Form darzulegen, halfen andre Schriftsteller, vor allen K. L. Reinhold (»Briefe über die Kantische Philosophie«, 1786–87), die Kantschen Ideen in weite Kreise verbreiten. Unter den selbständigen und eigentümlichen Denkern, die zur kritischen Philosophie und zur klassischen Dichtung in Beziehung traten, ist vor allen Wilhelm v. Humboldt (1767–1835) hervorzuheben.
VIII. Zeitraum.
Die Romantik und die Übergänge zur Literatur des 19. Jahrhunderts.
Noch während der letzten Periode der schöpferischen Tätigkeit Goethes und Schillers, ehe die Ideale der klassischen Literatur auch nur entfernt die Massen ergriffen und durchdrungen hatten, schien sich eine neue Entwickelung des deutschen Geisteslebens, besonders der Dichtung, vorzubereiten. Anknüpfend an die besten Bestrebungen des »Sturmes und Dranges« bekämpfte die neu auftretende Romantik vor allem die Plattheit und Nüchternheit der in Norddeutschland noch immer herrschenden Aufklärung, und strebte, erfüllt von der Sehnsucht nach lebendiger Poesie und poetischem Leben, durch Aneignung der großen Dichter des Auslandes (Shakespeare, Dante, Cervantes, Calderon etc.) den eignen poetischen Horizont zu erweitern. Bald freilich gesellten sich neue Momente der Entwickelung hinzu. Die philosophischen Anschauungen I. G. Fichtes (1762–1814) und Friedrich Wilhelm Joseph v. Schellings (1775–1855) wurden von entscheidender Bedeutung und trieben den schon in der Geniezeit und im klassischen Zeitalter eifrig gepflegten Subjektivismus auf den Gipfel. Ersterer betrachtete in seiner »Wissenschaftslehre« alles, was außerhalb des geistigen Ichs liegt, als Produkt des Ichs; letzterer sah in der Kunst eine Offenbarung des Göttlichen im menschlichen Geist, sein »System der Naturphilosophie«, sein »System des transzendentalen Idealismus« gab die philosophische Begründung der romantischen Doktrinen ab, während sein Buch über »Philosophie und Religion« die Verbindung der romantischen Literatur mit der alten Kirche gewissermaßen anbahnte. Durften verwandte Bestrebungen, wie die ästhetischen Solgers, die »Symbolik« Creuzers, die Naturphilosophie Steffens', G. H. v. Schuberts u. a., vielleicht erst als Folgen der romantischen Poesie angesehen werden, so fanden zwischen den bezeichneten Philosophen und den spezifisch literarischen Begründern der Schule, denen im Beginn auch eine so eigentümlich geniale und universell gebildete Kraft wie der Theolog Fr. E. D. Schleiermacher (1768–1834) zur Seite trat, eine in der Kürze schwer definierbare tausendfältige Wechselwirkung statt. Die doktrinären Häupter der Schule und insbes. der sogen. ältern Romantik wurden durch ihre kritischen Erstlingsschriften die Brüder Friedrich v. Schlegel (1772–1829) und August Wilhelm v. Schlegel (1767–1845), deren »Athenäum« um die Wende des Jahrhunderts das erste spezifisch romantische Organ war. Sie verkündeten, daß es »der Anfang aller Poesie sei, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft wieder aufzuheben und uns wieder in die schöne Verirrung der Phantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen«, und stellten es als obersten Grundsatz der neuen romantischen, durch keine Theorie zu erschöpfenden, allein unendlichen wie allein freien Dichtart auf, »daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide«. Welche Willkür, welche leidige Vermischung von Poesie, Religion und mystischer Philosophie, welche phantastisch schönfärbende Begünstigung entlegener Lebenserscheinungen (Ritter-, Heiligen- und Legendenpoesie), welche Exzentrizitäten und Monstrositäten durch diese Anschauungen veranlaßt wurden, wird oft mehr hervorgehoben als das wirklich bedeutsame Verdienst der Romantik um die Erkenntnis und Geschichte der eignen Vergangenheit, des deutschen Volkslebens wie um Erschließung großer geistiger Gebiete. Die Brüder Schlegel waren mehr kritische als produktive Naturen; ihre dichterischen Versuche, Fr. Schlegels lüstern-prätentiöser Roman »Lucinde« und sein Drama »Alarkos«, A. W. Schlegels Drama »Ion«, hatten wesentlich nur formelle Verdienste; eine wahrhafte Bereicherung und Befruchtung der deutschen Literatur gab A. W. Schlegel jedoch mit seiner vorzüglichen Übertragung der Shakespeareschen Dramen. Tieferes poetisches Talent zeigten einige andre Genossen der romantischen Schule, so vor allen der früh verstorbene Friedrich v. Har- denberg (Novalis genannt, 1772–1801), der in seinen gemütstiefen Liedern und in dem bedeutenden Romanfragment »Heinrich von Ofterdingen« gleichsam die Inkarnation der romantischen Sehnsucht nach poetischer Verklärung des gesamten Lebens darstellte. Zu längster Wirksamkeit gelangte Ludwig Tieck (1773 bis 1853), der mit überlebendiger Phantasie und einem kühn improvisatorischen Talent mannigfache Eigentümlichkeiten einer nüchtern-verständigen, ja zersetzenden Verstandesanlage zeigte. Seine romantische Dramen, Märchen, Erzählungen wie seine spätern künstlerisch reinen und abgewogenen Novellen weisen daher nicht nur die denkbarste Mannigfaltigkeit poetischer Gestalten und Situationen, sondern auch die größten Ungleichheiten, ja Zwiespältigkeiten des Wertes und Eindrucks auf. Einheitlicher und mächtiger stellte sich das große Talent des Dramatikers und Erzählers Heinrich v. Kleist (1777–1811) dar, der freilich nur äußerlich zur romantischen Schule gerechnet werden kann, wesentlich andern Kunstprinzipien huldigt und durch seine überragende Gestaltungskraft alle Zeitgenossen außer Goethe in den Schatten stellt. Seine besten Erzählungen (»Michael Kohlhaas«, »Die Marquise von O.«, »Die Verlobung in St. Domingo« etc.) und seine besten Dramen (»Der zerbrochene Krug«, »Penthesilea«, »Käthchen von Heilbronn«, »Die Hermannsschlacht«, »Der Prinz von Homburg«) gehören zu den Musterwerken ihrer Gattung. Launenhafter und willkürlicher war Achim v. Arnim (1781–1831), dessen beste Novellen und der historische Roman »Die Kronenwächter« die Wirrnis und Unerquicklichkeit andrer seiner Produkte wett machen. Arnim ist zugleich mit seinem Schwager K. Brentano das Haupt der sogen. jüngern Romantik, die, von Heidelberg ausgehend, die Pflege der volkstümlichen und altdeutschen Studien besonders nachdrücklich betrieb und auch für die Entstehung der germanistischen Wissenschaft von Bedeutung war. Mit diesen Verhältnissen hängt es zusammen, daß seit dem Beginn des 19. Jahrh. bei vielen Romantikern die Neigung zu der mittelalterlichen Kultur auch auf ihre Stellung zu den religiösen und politischen Fragen der Gegenwart von Einfluß ward. Friedrich Schlegel trat zur katholischen Kirche über. Auch der Dramatiker Zacharias Werner (1768 bis 1823), der zwischen Schiller und der neuen Schule stehen wollte, seine dramatische Kraft in halben Zerrbildern ausgab (»Kreuz an der Ostsee«, »Die Weihe der Kraft«, »Attila«, »Wanda«, »Der 24. Februar«) und der Begründer der sogen. Schicksalstragik ward, suchte im Schoß der alten Kirche Frieden und Zuflucht vor der eignen Phantastik. Der genialste Vertreter dieser Richtung ist jedoch Arnims Schwager, Klemens Brentano (1778–1842), der in seinen lyrischen und epischen Gedichten, in seinen phantastisch-humoristischen Erzählungen und formlosen Dramen die äußersten Konsequenzen des romantischen Dichtens und Denkens repräsentiert. Daneben hat jedoch die romantische Bewegung im Laufe der Zeit immer mehr dazu beigetragen, den Sinn für Deutschlands Vergangenheit und damit auch die Vaterlandsliebe zu kräftigen. Unter den Dichtern der Befreiungskriege (1813–15) gehört Max v. Schenkendorf der Romantik an, während E. M. Arndt noch aus einer ältern Generation stammt und Theodor Körner, dessen »Leier und Schwert« der poetische Ausdruck des Idealismus der Erhebung wurde, als ein Schüler Schillers zu betrachten ist. Am schönsten aber ist in den Werken Ludwig Uhlands (1787–1862) die Romantik mit dem Patriotismus und mit dem liebevollen Eindringen in die Vorzeit verbunden. Seine lyrischen Dichtungen und Balladen drangen tief in alle Schichten des Volkes. Durch persönliche Freundschaft und gemeinsames Streben verbunden waren die Romantiker Friedr. dela Motte-Fouqué (1777–1843), der in Epen, Romanen und Novellen die mittelalterliche Ritterwelt zu einem Scheinleben erweckte (»Der Zauberring«, »Undine« etc.), E. T. A. Hoffmann (1776 bis 1822) und Adalbert v. Chamisso (1781–1838). Hoffmann befriedigte die romantische Neigung für die unheimlichsten Regionen der Phantasie und für Gespensterspuk in einer Reihe zum Teil vorzüglich erzählter Novellen, während Chamissos Märchen »Peter Schlemihl« zu den besten kleinen Schöpfungen der romantischen Periode zählt. Seine ausgezeichneten lyrischen Gedichte und poetischen Erzählungen ragen schon z. T. über die Besonderheiten der romantischen Schule hinaus. Die »Nachromantiker«, Dichter, die zumeist erst nach den Befreiungskriegen vor die Nation traten, zeichneten sich im allgemeinen dadurch aus, daß sie sich von den Extremen und Einseitigkeiten der ersten Romantikergeneration frei hielten. Die kirchlich-katholische Tendenz vertrat unter ihnen nur Joseph v. Eichendorff (1788–1857), dessen lyrisches und novellistisches Talent daneben die erfreulichsten Blütentrieb (»Gedichte«, das prächtige Phantasiestück »Aus dem Leben eines Taugenichts«). Schwächlicher war der Epiker Ernst Schulze (1789–1817), dessen romantische Dichtungen (»Cäcilie« und »Die bezauberte Rose«) eine wahre Flut von Gedichten in Oktaven im Gefolge hatten. Eine Gruppe von dramatischen Dichtern folgte in ihren auf krassen Effekt berechneten »Schicksalstragödien« den Spuren Zacharias Werners, so A. Müllner (»Die Schuld«, 1816) und Ernst v. Houwald (»Das Bild«, 1821). Uhlands Dichtungen wurden die Muster für die lyrische und lyrisch-epische Poesie der Schwäbischen Dichterschule. Zu der Gruppe mehr oder minder verdienstlicher württembergischer Poeten gehörten der mystisch-originelle Justinus Kerner (gest. 1862), ferner Gustav Schwab (gest. 1850), Karl Mayer (gest. 1870), der hochbegabte Eduard Mörike (gest. 1875, »Gedichte«, der Roman »Maler Nolten«) sowie der frische und liebenswürdige Erzähler Wilhelm Hauff (gest. 1827, »Lichtenstein«, »Märchen«, »Phantasien im Bremer Ratskeller«). Im Zusammenhang mit den Romantikern sind noch zwei Schriftsteller zu erwähnen, die in erster Linie als Publizisten tätig waren: Joseph Görres (1776–1348), zur Zeit der Befreiungskriege feuriger Patriot, dann eifriger Vorkämpfer des Ultramontanismus, und Friedrich Gentz (1764–1832), der klassische Stilist der Reaktion.
Übrigens gelang es den Romantikern nicht, die d. L. dauernd oder ausschließlich zu beherrschen. In der Dichtung der Restaurationsepoche, so sehr dieselbe gewisse Richtungen und Tendenzen der Romantik begünstigte, machten sich die Nachwirkungen der klassischen Epoche und ihrer Humanitätsideale wieder entschiedener und stärker geltend. Zahlreiche Talente nahmen zwar die lebensvollen und vollberechtigten Elemente, welche die Romantik der deutschen Literatur gebracht, mit in sich auf; aber ihr eigentlicher Lebensgehalt und ihre Kunstrichtung wurden nicht von der romantischen Doktrin bestimmt. Franz Grillparzer (1791–1872), der mit dem Trauerspiel »Die Ahnfrau« (1817) als Schicksalstragöde begann, erhob sich in seinen spätern dramatischen Dichtungen (»Sappho«, »Das goldene Vlies«, »König Ottokar«, »Des Meeres und der Liebe Wellen«, »Der Traum ein Leben« u. a.) in reinere und freiere Regionen. Friedrich Rückert (1789–1866) bewährte sich in über zahlreichen lyrischen (»Geharnischte Sonette«, »Liebesfrühling«, »Ghaselen« etc.) und didaktischen Dichtungen (»Weisheit des Brahmanen«) und Nachdichtungen orientalischer Muster als ein Sprachvirtuos ersten Ranges. Als Lyriker und Balladendichter zeichneten sich Wilhelm Müller (1794–1827, »Griechenlieder«), I. Chr. v. Zedlitz (1790–1862, »Totenkränze«, »Waldfräulein«, auch Dramen), Egon Ebert (1801–83), als didaktischer Poet und Novellist Leopold Schefer (1784–1862, »Laienbrevier«) aus. Den Bedürfnissen des großen Publikums näher standen die Dramatiker einer gewissen eklektisch-rhetorischen Richtung, der überfruchtbare Ernst Raupach (gest. 1852, Hohenstaufendramen), E. v. Schenk (gest. 1841) mit den deklamatorischen Tragödien »Belisar«, »Albrecht Dürer«, Michael Beer (gest. 1833, »Paria«, »Struensee«) und Ludwig Deinhardstein (gest. 1859, Künstlerdramen). Novellistik und Romanliteratur begannen in der leseseligen, stillen Friedenszeit zwischen 1815 und 1830 schon gewaltig ins Kraut zu schießen. Die federfertige Belletristik trug bereits so viele Siege über die anspruchsvollere und innerlich gehaltvollere Dichtung davon, daß ein achtbares Dichtertalent, wie August Graf von Platen (1796–1835), am Ausgang dieser Zeit in der strengen Betonung einer gewissen Kunstwürde und in der Forderung formeller, sprachlicher Vollendung berechtigtes Pathos entwickeln konnte. Neben seinen formvollendeten Gedichten sind hier die dramatischen Satiren »Die verhängnisvolle Gabel« (1826) und »Der romantische Ödipus« (1829) zu nennen. Von der Romantik zur modernen Poesie rang sich das kraftvolle, aber spröde und schwerflüssige Talent Karl Immermanns (1796–1840) hindurch, dessen beste Dichtungen (»Tulifäntchen«, »Alexis«, »Merlin«, die Romane: »Die Epigonen« und »Münchhausen«) für die positive Entwickelung der deutschen Poesie wichtig wurden. Als der begabteste Dichter der spätromantischen Zeit und als derjenige, der auf die weitere Entwickelung der deutschen Literatur den größten Einfluß übte, ist Heinrich Heine (1797–1856) zu nennen, dessen träumerische, weich-lyrische Anlage seltsam mit einem ätzend satirischen und spöttisch-frivolen Grundzug kontrastierte. Er vereinigte den Geist der Romantik mit einer durchaus modernen Gesinnung, welcher Zwiespalt und Widerspruch die meisten seiner z. T. hervorragenden Dichtungen (»Buch der Lieder«, 1827; »Atta Troll«, 1847; »Romanzero«, 1851) durchzieht.
IX. Zeitraum.
Von der Julirevolution 1830–1848
Die Zersetzung der Romantik, die Umbildung der Lebensverhältnisse, die Unzufriedenheit mit dem herrschenden absolutistischen System in Preußen und Österreich, das mit Zensur- und Polizeigewalt jede freie Äußerung niederhielt, die Enttäuschung aller Hoffnungen, die sich die deutschen Patrioten nach den Befreiungskriegen auf eine liberale Regierungsart gemacht hatten, riefen nach dem Ausbruch der Julirevolution von 1830 eine neue Gärungsperiode in der deutschen Literatur hervor, die man gewöhnlich mit dem Namen das Junge Deutschland bezeichnet. Das Bestreben der Jungdeutschen ging darauf hinaus, die Literatur in den Dienst der realen Lebensinteressen, insbes. der liberalen Politik, zu stellen. So entwickelte sich in den 1830er Jahren eine weitverbreitete polemische Schilderungs- und Erzählungsliteratur, in den 40er Jahren die politische Lyrik, die beide von der Bewegung des Tages abhängig waren und erst nach den Revolutionsstürmen einer selbständigen, nur ästhetisch beeinflußten Dichtung wichen. Die Philosophie übte auch in diesem Zeitraum einen weitgehenden Einfluß auf die poetische Literatur aus. G. F. W. Hegel (1770–1831) erlangte mit seinem absoluten Idealismus und seiner konstruierenden Geschichtsbetrachtung die mächtigste Herrschaft über die Geister, wogegen die etwas mehr realistischen Philosophen Herbart und Schopenhauer zuerst nicht aufkommen konnten und erst nach 1850 zur Geltung gelangten. Hegels Nachfolger in der Herrschaft war Ludwig Feuerbach, der, anfänglich von ihm ausgehend, mit dem Materialismus endete. Sein »Wesen des Christentums«, das alle Religion als Anthropomorphismus erklärte, gewann großen Einfluß. Ferner wirkten die theologisch-kritischen Schriften des Verfassers des »Lebens Jesu«, D. F. Strauß (gest. 1874), entscheidend auf die Literatur ein, indes die Arbeit der Germanisten, der Brüder Grimm u. a., nur eine stille Wirkung üben konnte. Zu den Hauptvertretern des Jungen Deutschland (der Name stammt von Gutzkow und wurde durch Wienbargs »Ästhetische Feldzüge« verbreitet) gehörten der von der Romantik ausgegangene Heinrich Heine, der in Vers und Prosa gegen die Metternichsche Herrschaft, noch mehr aber gegen Preußen eiferte; der scharf zersetzende Autor der »Briefe aus Paris«, Ludwig Börne (1786–1837), der alles geistige Leben, auch die Kritik von Theater und Literatur und die ethische Schätzung menschlicher Dinge in den Dienst der demokratischen Tendenzen stellte; die Belletristen Ludolf Wienbarg (1802–72) und Gustav Kühne (1806 bis 1888); der damals frisch burschikose Erzähler Heinrich Laube (1806–84), der später als Dramaturg sich große Verdienste erwarb; Theodor Mundt (1807–61), der Literarhistoriker, und Karl Gutzkow (1811–78), der jüngste Schriftsteller von ihnen, ein Mann freilich ohne geniale poetische Begabung, aber der eigentliche Repräsentant des Jungen Deutschland. Wesentlich ein publizistisches Talent, war er mit großer Produktivität in allen Sätteln gewandt und schrieb Kritiken, Erzählungen, Dramen. Überall um aktuellen Gehalt bestrebt, eroberte er der Zeittendenz das Theater mit seinen bürgerlichen Dramen und historischen Lustspielen. Nach 1848 pflegte er vorzugsweise den Zeitroman in umfangreichen Werken. – In innerer Verbindung mit dieser Prosaliteratur der Schule stand die politische Lyrik, die bis 1848 sehr viele und schöne Blüten trieb. Politische Lyriker waren schon Platen in seinen »Polenliedern« und der nichts weniger als »jungdeutsche« Ludwig Uhland, dem seine schwäbischen Stammes- und Sangesgenossen G. Schwab, G. Pfizer u. a. Folge leisteten. Aus Österreich kamen die politischen Gedichte des freisinnigen Grafen Anton Auersperg (Anastasius Grün), der mit seinen »Wiener Spaziergängen«, »Schutt« u. a. in blumenreicher Rhetorik Schule machte. Um das Jahr 1840 herum traten dann die tönenden politischen Lyriker auf: Georg Herwegh (1817–75), einer der schwungreichsten dichterischen Rhetoriker; H. Hoffmann v. Fallersleben (1798–1874), der seine Muse am Volksliede nährte und bildete; Karl Beck (1817–79), der zuerst sozialistische Töne in die Lyrik brachte; Franz Dingelstedt (1814–81), der als kecker »kosmopolitischer Nachtwächter« und geistsprühender Erzähler begann und als höfischer Theaterdirektor aufhörte; Ferdinand Freiligrath (1810–76), der neue Stoffe aus entlegenen Regionen mit Farbenglut darstellte, dann zum revolutionären Lyriker sich entwickelte, 1870 aber doch das beste Kriegslied auf die Schlacht von Gravelotte schrieb und sich mit den großen Tatsachen der Einigung des Reiches versöhnte; Moritz Hartmann (1821–72), der mit seinem »Kelch und Schwert« die Romantik der böhmischen Vergangenheit in die Literatur brachte; Alfred Meißner (1822–1885), sein Landsmann und Studienfreund, der in gleicher Richtung dichtete, mit mehr eigentlich poetischer Begabung; Friedrich v. Sallet (1812–43, »Laienevangelium«), M. Graf Strachwitz (1822–1847) u. a. Außer diesen vornehmlich politischen Sängern, zu denen noch der hochbegabte Tiroler Hermann v. Gilm (1812–64), dessen Gedichte im Vormärz sich nur handschriftlich verbreiten konnten und erst nach seinem Tode (1864) erschienen, und der tragisch-herbe Johannes Senn, der Dichter des »Tiroler Adlers«, zu rechnen wären, traten in diesem Zeitraum aber auch noch andre Poeten von Bedeutung auf, die nicht bloß ein politisch Lied fangen. So zunächst Nikolaus Lenau (1802–50), ausgezeichnet durch die innige Tiefe eines weichen, aber zu düsterer Schwermut neigenden Gefühlslebens; sodann Julius Mosen (1803–67), ein volkstümlicher Lyriker, in »Ritter Wahn«, »Ahasver« auf dem Boden der philosophischen Poesie stehend; Emanuel Geibel (1815 bis 1884), dessen formschöne und von edler Gesinnung erfüllte Lyrik in weiten Kreisen Beifall fand; Karl Simrock (1802–76), der fleißige Übersetzer mittelalterlicher deutscher Dichtung; ferner A. Kopisch, Franz v. Gaudy, W. Smets, I. N. Vogl, I. G. Seidl, L. A. Frankl, K. Dräxler-Manfred, L. Bechstein u. a. Friedrich Rückert fand in Julius Hammer, Friedrich Daumer, Bodenstedt u. a. Nachfolger. Außer diesen seien genannt W. Wackernagel, F. v. Kobell, Ernst v. Feuchtersleben, Ludwig Pfau, die Elsässer Adolf und August Stöber, Alex. Kaufmann, Feodor Löwe, Gottfr. Kinkel, der auch die lyrisch-epische Gattung pflegte, Titus Ullrich u. a. Unter den Dichterinnen ragte durch männliche Kraft Annette v. Droste-Hülshoff (1798–1848) weit über alle hervor und schuf Dichtungen von bleibender Bedeutung; doch errangen auch Betty Paoli (geb. 1814) und Luise v. Ploennies vorübergehend Erfolge. – Eine Blüte des Dramas gab es in dieser Zeit nur in Wien, wo das Burgtheater von Schreyvogel fest begründet war und im produktiven Lustspieldichter Eduard Bauernfeld (1802–90) sich seinen Hausdichter erzog. Gleichzeitig blühte die Wiener Volksbühne, zuerst unter Ferdinand Raimund (1789–1836), dem Dichter humor- und poesievoller Zauberspiele (»Der Verschwender«, 1834), dann unter Johann Nestroy (1801–62), dem sich viele kleinere Talente mit behender Feder hilfreich anschlossen. Achtung gebietend trat in dieser Zeit die tüchtige Kraft Friedrich Halms (1806–71) hervor, der mit seiner »Griseldis«, »Sohn der Wildnis« u. a. Ernst Raupachs historische Jambentragödien glücklich aus dem Felde schlug. Es bestand damals noch ein Gegensatz zwischen den Dichtern und dem Theater; große Talente, wie der genial barocke Chr. D. Grabbe (1801–36, »Die Hundert Tage«, »Don Juan und Faust« etc.), lernten nie, sich den Forderungen der Bühnen unterzuordnen. So entwickelte sich die Gattung der unausführbaren, nur zu lesenden Buchdramen, während die Bühnen von Routiniers, von dichtenden Schauspielern beherrscht wurden. Solche Buchdramatiker waren R. Griepenkerl (gest. 1868, »Robespierre«), F. v. Üchtritz (1800–1875), I. L. Klein (gest. 1877), A. Dulk (gest. 1884) und der vielversprechende kraftgenialische Georg Büchner (1813–37, »Dantons Tod«), der zu früh starb. Als dichtender Schauspieler verstand sich K. v. Holtei (1797–1880, »Lorbeerbaum und Bettelstab«) vortrefflich auf das sentimentale Effektdrama, ebenso Charlotte Birch-Pfeiffer (gest. 1868), die gleichfalls lange Zeit der Bühne angehörte. – Der Roman und die Novelle zeigten einzelne große Begabungen ausschließlich in ihrem Dienst, so Wilibald Alexis (Wilh. Häring, 1797–1871), dessen preußischmärkische Romane sich teilweise, namentlich in »Cabanis«, »Der falsche Waldemar«, »Die Hosen des Herrn von Bredow«, »Isegrimm«, zur vollen poetischen Höhe erhoben; so Charles Sealsfield (Postl, 1793–1864), der in den Romanen: »Der Virey« und »Der Legitime und der Republikaner« Kraft der Gestaltung und glänzende Schilderungsgabe entfaltete; Heinrich König (1790–1869) im modernen und historischen Roman, Ida Gräfin Hahn-Hahn (gest. 1880), A. v. Sternberg (gest. 1868), L. Starklof, Henriette Paalzow, Karl Spindler (gest. 1855, flüchtig, aber fruchtbar) u. a. Daneben aber wuchs die Dorfgeschichte nach Immermanns »Oberhof« und Ulrich Hegners Erzählungen zu bedeutender Höhe empor. Jerem. Gotthelf (Bitzius, 1797–1854) schrieb seine derben und ungeschminkten, aber an urwüchsiger Poesie und tiefer Menschenkenntnis reichen Schweizer Dorfgeschichten; ihn übertraf im äußern Erfolg Bertold Auerbach (1812–82) mit seinen »Schwarzwälder Dorfgeschichten«, die dem Geschmack und Verständnis des gebildeten Leserkreises entgegenkamen und das Genre fest begründeten, das seitdem in allen deutschen Gauen gepflegt wird; Joseph Rank schrieb: »Aus dem Böhmerwald«, Melchior Meyr (gest. 1871) »Erzählungen aus dem Ries« etc. Eine ganz eigne Individualität trat in dem gemütvollen Adalbert Stifter (1800–1868) auf, der in seinen »Studien« und »Bunten Steinen« sich als Meister der Naturschilderung zeigte. – Auch das Feuilleton, von den Jungdeutschen geschaffen, fand vielfach glänzende Vertreter, von denen hier genannt werden dürfen: der vielgereiste Fürst Pückler-Muskau (1785–1871), der geistreiche Satiriker Adolf Glasbrenner (gest. 1876), der viel minderwertige M. G. Saphir (gest. 1858), I. H. Detmold (gest. 1856), Theodor v. Kobbe (gest. 1845).
X. Zeitraum.
Von 1848–1870
Das Revolutionsjahr 1848 endete mit vielen Enttäuschungen, aber sein Gewinn für das deutsche Geistesleben war gleichwohl sehr bedeutend. So dreist die Reaktion auch ihr Haupt wieder erhob, die Regierungen mußten mit der hohen Intelligenz des freisinnigen und nationalen Bürgertums als mit dem wichtigsten Kulturfaktor rechnen, mit dem eine schließliche Versöhnung unerläßlich war. Zunächst freilich folgte eine Zeit des abwartenden Mißtrauens beider Teile, in der die Politiker die großen Kämpfe um die Hegemonie in Deutschland vorbereiteten, während die Ritter des Geistes, des nutzlosen journalistischen Geplänkels müde, in Wissenschaft und Technik, Literatur und Kunst Werke von unvergänglicher Dauer schufen. Insbesondere war auch der Ausbau des europäischen Telegraphen- und Eisenbahnnetzes für den ganzen Weltteil epochemachend; die Naturwissenschaften gewannen durch neue Erfindungen und technische Verwertung der neuen Einsichten in Chemie und Physik einen maßgebenden, alles beherrschenden Einfluß auf die Zeit, und demgemäß entwickelten sich die Literatur und Kunst im Geiste des Realismus. Niemals war die Philosophie mehr in Verruf als in diesen Jahren unmittelbar nach Hegels Alleinherrschaft. Keine Zeit war religiös gleichgültiger als diese, welche die Verkündigung des neuen Dogmas der päpstlichen Unfehlbarkeit erlebte, und der Empirismus wurde in allen Wissenschaften herrschend. Die außerordentliche Erweiterung aller Industrien vermehrte den Nationalreichtum.
Zunächst wirkten in den 1850er und 1860er Jahren die schon vorher anerkannten Dichter weiter: Gutzkow schrieb seine großen Zeitromane, Bertold Auerbach versuchte mit Erfolg den Übergang von der Dorfgeschichte zum sozialen Roman, Alfred Meißner schrieb seine politisch gefärbten Romane, Emanuel Geibel sang seine immer gehaltreichern Lieder. Aber es machten sich auch sehr nachdrücklich neue Richtungen und bedeutende Talente Platz. Zunächst hatte in der reaktionären Luft eine kleine Nachblüte der Romantik: die »Amaranth«, ein episches Gedicht von Oskar v. Redwitz (1823–91), Glück; dieser machte später eine völlige Wandlung durch, Redwitz begann als Klerikaler und hörte als liberaler, national gesinnter Dichter auf. Mit seinen spätern Romanen und Dramen (»Philippine Welser«) hatte er stets Erfolg. Viel bedeutender aber ward der Kampf, den Julian Schmidt als Kritiker und Gustav Freytag (1816–95) als schaffender Dichter um Durchsetzung der realistischen Kunstprinzipien gegen die jungdeutsche Ästhetik führten. In seinem ersten Lustspiel, »Die Brautfahrt«, dessen frischer Humor erfreut, technisch noch ungewandt, erstrebte und gewann Freytag in den noch jungdeutsch gestimmten vormärzlichen Dramen »Die Valentine« und »Graf Waldemar« eine scharf pointierende, bühnengerechte Form; aber erst in dem ausgezeichneten Lustspiel »Die Journalisten« (1852) fand er sich selbst und gestaltete bedeutsames Leben der Zeit mit ebenso eindringendem Humor wie kraftvoll nationaler Haltung. Mit sehr großem Erfolge schrieb er seine bürgerlichen Romane: »Soll und Haben« sowie »Die verlorne Handschrift« und erwarb sich mit seinen auf gründlichsten Studien beruhenden »Bildern aus der deutschen Vergangenheit« das Verdienst, die deutsche Kulturgeschichte weitesten Kreisen zugänglich zu machen. Zur selben Zeit schuf der mächtige Friedrich Hebbel (1813–63) seine Tragödien: »Judith«, »Maria Magdalena«, »Gyges und sein Ring«, »Die Nibelungen« u. a., ohne es bei all seinem Genie zu volkstümlicher Wirkung bringen zu können. Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod erschienen seine »Tagebücher« und wurden ein wertvolles Denkmal seiner kritisch-philosophischen Begabung. Ähnlich beanlagt, wenn auch weniger tief und gewaltig, war ein andrer Begründer der realistischen Ästhetik, zumal der Dramaturgie: Otto Ludwig (1813–65), der in seinen »Shakespeare-Studien« gegen die Schule Schillerscher Rhetorik mit Rücksichtslosigkeit vorging. Mit seinen Tragödien »Der Erbförster« und »Die Makkabäer« faßte dieser festen Fuß auf der Bühne, ebenso in der erzählenden Literatur mit den Novellen »Zwischen Himmel und Erde« und »Heiterethei«. Indes Jeremias Gotthelfs Dichterkraft im Alter abnahm, erstand aus der Schweiz ein andres großes Talent, Gottfried Keller (1819–89), der 1856 mit seinem ersten großen Werke, »Der grüne Heinrich«, hervortrat, worin der poetische Realismus seine feinste Blüte zeitigte, die jedoch erst spät, in den 1870er Jahren, zur vollen Anerkennung gelangte. Als Realist trat zu dieser Zeit Theodor Fontane (1819–98) mit dem Roman »Vor dem Sturm«, mit den markigen »Balladen« sowie den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« auf, doch auch er sollte erst im späten Lebensalter zur Anerkennung gelangen. Und ähnlich erging es dem Verfasser des besten historischen Romans der neuern Zeit, Joseph Viktor Scheffel (1826–86), dessen »Ekkehard« schon 1855 erschien, aber erst nach 1870, nach dem volkstümlichen Erfolge seines »Gaudeamus« und »Trompeter von Säckingen«, zur größten Verbreitung gelangte. Glücklicher waren die anspruchslosern Erzähler F. W. Hackländer (1816–77), der, ein deutscher Dumas, mit seinen »Bildern aus dem Soldatenleben«, »Eugen Stillfried«, »Europäisches Sklavenleben« u. a. heitere und stets willkommene Unterhaltungslektüre schuf; dann Edmund Höfer (1819–1882) mit den »Erzählungen aus dem Volk«, »Schwanwieck«, »Unter der Fremdherrschaft« u. a. Kaum hatte der Schweizer Volksdichter Gotthelf die Augen geschlossen, erstand im deutschen Norden ein plattdeutscher Volksdichter, der durch humorvolle Tiefe der Weltanschauung und packende Darstellung ergreifend wirkte: Fritz Reuter (1810–74), der mit seinen humoristischen Romanen und Gedichten: »Ut mine Stromtid«, »Ut de Franzosentid«, »Dörchläuchting«, »Olle Kamellen« etc. die ganze Nation fesselte und der Dialektpoesie neues Bürgerrecht in der Literatur erwarb. Sein Ruhm überstrahlte die Verdienste seines Stammesgenossen Klaus Groth (1819–99), der unabhängig von ihm mit Gedichten in plattdeutscher Mundart aufgetreten war. – Die Berufung einer größern Anzahl von poetischen und literarischen Talenten durch den kunstsinnigen König Maximilian II. von Bayern gab Anlaß, von einer »Münchener Dichterschule« zu sprechen, die jedoch nur die besondere Pflege der schönen Form als gemeinsames Merkmal erkennen ließ. Nächst Emanuel Geibel erwies sich Paul Heyse (geb. 1830) in lyrisch-epischen Dichtungen (»Novellen in Versen«, »Thekla«, »Skizzenbuch aus Italien« u. a.), in Dramen (»Elisabeth Charlotte«, »Ludwig der Bayer«, »Hans Lange«, »Kolberg«, »Der Bucklige von Schiras« etc.), im Roman (»Die Kinder der Welt«, »Im Paradiese«, »Merlin«), namentlich aber in zahlreichen Novellen von großer Anmut als das glücklichste und vielseitigste Talent dieses Kreises. Ihm gehörten ferner an: Fr. Bodenstedt (1819–91), ausgezeichnet als Übersetzer, in den »Liedern des Mirza-Schaffy« formgewandt und voll naivheiterer, an Hafis anklingender Lebensweisheit; der farbenreiche Hermann Lingg (geb. 1820, »Die Völkerwanderung«, »Gedichte«), der Kulturhistoriker W. H. Riehl (geb. 1824), der Dichter und Kulturhistoriker F. v. Löher, F. A. v. Schack (»Durch alle Wetter«, erzählende Dichtungen; Meisterübertragung des Firdusi); Wilh. Hertz (»Gedichte«, »Lancelot und Ginevra«, »Bruder Rausch«, »Spielmannsbuch«), Julius Grosse (»Das Mädchen von Capri«) u. a. Neben diesen Vertretern des Prinzips der schönen Form, zu denen noch der unglückliche Lyriker Heinrich Leuthold zu rechnen ist, traten andre Dichter mit besonderer Betonung der Naivität im Gegensatze zur Tendenzdichtung auf: Julius Rodenberg, der später sich als Meister des Wanderfeuilletons und als gemütvoller Erzähler bekundete, und Otto Roquette, der sich mit seinem kleinen Epos »Waldmeisters Brautfahrt« überall heimisch machte. Auf dramatischem Gebiete traten außer den oben genannten in den 1850er Jahren noch S. H. Mosenthal (1821–77, »Deborah«, »Sonnwendhof«), A. E. Brachvogel (1824 bis 1878, »Narziß« u. a.), Ed. Tempeltey (»Klytämnestra«), Rud. Gottschall (»Pitt und Fox«, »Mazeppa«, »Katharina Howard«), Alfred Meißner (»Das Weib des Urias«, »Reginald Armstrong«) mit mehr oder weniger glänzenden Bühnenerfolgen hervor. – Die Roman- und Novellenliteratur gewann eine immer sich erweiternde Ausdehnung in diesen Jahren; sie wurde die herrschende Form für alle Poesie, in der sich auch die oben genannten bedeutendsten Talente der Zeit aussprachen. Damals hatte man noch den Ehrgeiz, im Roman ein Spiegelbild des gesamten Lebens der Nation zu geben, und er sollte nicht bloß schildern, sondern auch urteilen. Nach Gutzkows Zeitromanen schrieb Friedrich Spielhagen (geb. 1829) mit großem Talent seine ersten, mit Beifall aufgenommenen Romane: »Problematische Naturen«, »Hammer und Amboß«, »Durch Nacht zum Licht«, in denen er sich in geistvoller Weise mit den Zeitfragen auseinandersetzte. Kurz vorher erregte Max Waldau (G. Spiller v. Hauerschild, gest. 1855) Aufsehen durch seine jeanpaulisierenden Erstlingswerke: »Nach der Natur«, »Aus der Junkerwelt«. Dann traten noch auf die mehr oder weniger fruchtbaren Erzähler: Levin Schücking, Otto Müller, Aug. Becker, Max Ring, Gustav vom See (v. Struensee), Georg Hesekiel, Robert Byr, Hans Hopfen (»Verdorben zu Paris«), Luise v. François (1817 bis 1893, »Die letzte Reckenburgerin«, »Der Katzenjunker«), der außerordentlich fruchtbare Wilh. Jensen, Karl Detlef (Klara Bauer), Ottilie Wildermuth, Fanny Lewald, E. Marlitt etc. Als Humoristen erschienen außer dem genialen Fritz Reuter noch in seinen spätern Jahren Karl v. Holtei mit den »Vagabunden«, »Christian Lammfell«, Bogumil Goltz (gest. 1870, »Buch der Kindheit«), Ludwig Steub, Hermann Presber und der poetisch hochbegabte Wilh. Raabe (Jak. Corvinus), ein Jean Paul und Sterne verwandtes Talent (»Horacker«, »Der Hungerpastor«). Trotz dieser allgemeinen Vorliebe für die Romanform und Erzählung in Prosa gelang es einzelnen Dichtern, mit gehaltreichen epischen Dichtungen zu großen Erfolgen zu kommen. Vor allen Rob. Hamerling (1836–87), dessen glühende und malerisch reiche Phantasie im »Ahasver in Rom« zündend wirkte; er blieb Epiker bis an sein Ende (»Der König von Sion«, »Homunculus«, »Amor und Psyche«). Wilh. Jordan trat mit seiner Theodicee: »Demiurgos«, seiner Neudichtung der »Nibelungen«, Aug. Becker mit seinem »Jungfriedel der Spielmann«, F. Gregorovius mit seinem »Euphorion«, Ed. Grisebach mit dem »Neuen Tannhäuser« hervor, denen sich in der folgenden Epoche Ad. Stern mit dem »Johannes Guttenberg«, H. Kruse mit den »Seegeschichten« u. a. anschlossen.
XI. Zeitraum.
Von 1810 bis zur Gegenwart
Die Einigung des deutschen Volkes und Aufrichtung des Deutschen Reiches, so lange herbeigesehnt, brachte doch zunächst keine eigentliche Blüte der schönen Literatur hervor; die Sehnsucht war poetisch produktiver als die Erfüllung. Durch die allzu stark vorwaltenden politischen und sozialen Interessen wurde bis gegen die Mitte der 1880er Jahre eine gedeihliche Förderung des literarischen Lebens gehemmt. Von epochemachender Bedeutung waren nur die neuen Bühnenwerke Richard Wagners (1813–83), die, Wesen und Begriff der bisherigen Oper überwindend, in der Vereinigung von Poesie, Masik, Plastik und Mimik ästhetische Gebilde von solcher Eigenart boten, daß sie zunächst nur auf einer besondern Festspielbühne, die in Bayreuth erstand, verkörpert werden konnten. Hier wurde 1876 »Der Ring des Nibelungen« und 1882 »Parsifal«unter der Teilnahme der ganzen gebildeten Welt ausgeführt. – Die neue Zeit war reich an solchen Erzeugnissen der Gelehrten und Staatsmänner, die zugleich literarische Bedeutung beanspruchen durften: die Reden und Briefe des Fürsten Bismarck und des Grafen Moltke, die Weltgeschichte Rankes, die deutsche Geschichte des 19. Jahrh. von Treitschke, die Revolutionsgeschichte von Heinrich v. Sybel u. a. müssen wegen ihrer formalen Bedeutung auch in der Literaturgeschichte als mustergültige Leistungen angeführt werden. Und in der Zeit, in der zunächst die dichterische Produktion von geringerer Bedeutung war, bereitete sich eine vielseitigere Pflege der Literaturgeschichte vor. Namentlich Wilhelm Scherer ist als Begründer der philologisch-wissenschaftlichen Literaturbetrachtung zu nennen, neben ihm Michael Bernays, der als Lehrer große Wirkung übte. Als Goetheforscher machten sich besonders verdient Düntzer, W. v. Biedermann, Loeper und der Kunsthistoriker Hermann Grimm. Unter den Schülern Scherers nehmen Erich Schmidt und Jakob Minor den ersten Platz ein; daneben sind zu nennen: Schönbach, Brahm, Schlenther, Sauer, R. M. Werner, R. M. Meyer, Seuffert; Schüler von Bernays sind: Muncker, Koch, Witkowski; daneben stehen selbständiger da: Stern, Gottschall, Suphan, Bellermann, Creizenach, W. Herz, O. Harnack, Köster, Elster, Walzel, Bartels, C. Busse u. a. Besonders seit der Eröffnung des Goethe- und Schillerarchivs und der Begründung der Goethe-Gesellschaft (1885) stand das Studium Goethes obenan. Der Schwäbische Schillerverein förderte die Begründung eines Schillermuseums in Marbach; in Berlin entstand eine Literaturarchiv-Gesellschaft; eine zusammenfassende Darstellung der weitverzweigten Forschung bieten die seit 1892 erscheinenden »Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte«; in dem »Literarischen Echo« I. Ettlingers spiegeln sich alle Erscheinungen des Tages wieder. Über ästhetische Probleme schrieben Lipp s, R. M. Werner, I. Volkelt, W. Bölsche, Ernst Grosse, Karl Groos u. a., »Prinzipien der Literaturwissenschaft« schrieb Elster, über Dramaturgie handelten Bulthaupt (»Dramaturgie des Schauspiels«, »Dramaturgie der Oper«), Alfred v. Berger, Avonianus, Hans Sittenberger, Karl Weitbrecht u. a.; über Lyrik handelte R. M. Werner; eine vortreffliche »Neuhochdeutsche Metrik« schrieb Minor; als Kritiker ragten hervor: Paul Lindau, Karl Frenz el, I. Rodenberg, E. Zabel, L. Speidel, D. Spitzer, Paul Schlenther, Maximilian Harden, Fritz Mauthner, Julius und Heinrich Hart, Joseph Viktor Widmann, M. Necker, Ferdinand Avenarius, A. Bartels, Hermann Bahr, Wolfgang Kirchbach u. a.
Einen starken Einfluß auf das literarische Leben übte auch jetzt die Philosophie aus. So erfreute sich in den 70er Jahren der Pessimismus von A. Schopenhauer und die »Philosophie des Unbewußten« von Ed. v. Hartmann besonderer Beliebtheit. Dem gegenüber erfolgte zu Anfang der 90er Jahre ein entschiedener Umschlag durch das eingreifende Wirken von Friedrich Nietzsche. Der geniale Denker und Dichter, einer der größten deutschen Stilisten, war von Schopenhauers Pessimismus ausgegangen. Er hatte lange Zeit zu Richard Wagner, dem er persönlich nahe stand, gehalten, um ihn schließlich auf das entschiedenste zu befehden. Seine Kritik der herrschenden Religions- und Moralbegriffe war von einschneidender Bedeutung, seine Scheidung einer Herrenmoral und Sklavenmoral geistreich, aber gefährlich, sein Einfluß, namentlich gegen Ende der 90er Jahre, kaum zu ermessen.
Die Hauptwandlung, die sich seit Mitte der 80er Jahre in unsrer Literatur vollzog, bestand in einer entschiedenen Loslösung von der konventionellen Hohlheit und Verbildung sowie dem mangelhaften Wirklichkeitssinn in der literarischen Produktion der letzten Jahrzehnte. Nur durch einen etwas ungestüm auftretenden Naturalismus konnte die herrschende Unwahrheit, an die man sich in weitesten Kreisen gewöhnt hatte, ausgerottet werden. An Übertreibungen fehlte es dabei ebensowenig wie bei jeder andern literarischen Revolution. Schließlich wurde auch der Naturalismus neuerdings überwunden und von einer symbolistisch-neuromantischen Richtung abgelöst, die freilich bis jetzt noch keine bahnbrechenden Vertreter gefunden hat. Das neue Leben kam auf allen Gebieten zur Geltung: Roman, Novelle, Lyrik und Drama lassen bemerkenswerte Fortschritte erkennen. Zunächst freilich kamen die führenden Alten wie Keller, Fontane, Heyse, Spielhagen, Scheffel erst jetzt zur vollen Blüte. Zu ihnen gesellten sich zwei zuvor nur wenig bekannte Talente, die sich als Erzähler zur höchsten Anerkennung durchrangen: Theodor Storm (1818 bis 1888) und Konrad Ferdinand Meyer (1825–1898). Storm, von der Lyrik ausgehend, brachte die stimmungsvolle Novelle zur feinsten Ausbildung (»Aquis submersus«, »Immensee«, »Psyche«, »Der Schimmelreiter« u. a.); Meyer knüpfte gern an die Geschichte an und zeigt sich als Meister in der historischen Novelle und in der Ballade (»Georg Jenatsch«, »Die Versuchung des Pescara«, »Ulrich Hutten«, »Angela Borgia«). Das Vorbild dieser großen Novellendichter reizte bald zur Nachahmung an. Dabei wurden alle Zeiten und Stände, auch zuvor noch nie geschilderte Volksstämme in den poetischen Gesichtskreis gezogen. Nach dem Vorgang von Leopold Kompert (»Geschichten einer Gasse«) schrieb K. E. Franzos (geb. 1847) seine novellistischen Kulturbilder: »Aus Halbasien« (»Die Juden von Barnow«, »Der Präsident«, »Der Kampf ums Recht«); Robert Waldmüller-Duboc (geb. 1822) schrieb ethnographische Novellen aus allen Teilen Mitteleuropas. In Steiermark entstand ein hervorragendes Talent in Peter Rosegger (geb. 1843), der nach allen Richtungen hin Volk und Land beschrieb und durch seine edle und kraftvolle Persönlichkeit anregend wirkte. Mächtiger als er war Ludwig Anzengruber (1839–89), der vor allem als Dramatiker bahnbrechend war, doch auch in Novelle und Roman (»Der Sternsteinhof«) Hervorragendes leistete. Aus Bayern kamen die trefflichen Hochlandsgeschichten von Maximilian Schmidt; etwas später die bayrischen Gebirgsnovellen von Ludwig Ganghofer. Adolf Pichler (1819–1900) schrieb Tiroler Geschichten neben seinen kraftvollen kleinen epischen Gedichten (»Marksteine«) und Hymnen. Land und Leute des alemannischen Schwarzwaldes spiegelt der kernige katholische Geistliche Heinrich Hansjacob (»Abendläuten«, »In der Kartause«). Als Sittenmalerin der österreichischen Aristokratie führte sich die größte dichtende Frau dieses Zeitraums, Marie v. Ebner-Eschenbach (geb. 1830), ein; doch wuchs sie bald mit ihren gemüt- und humorreichen Novellen und Romanen (»Die Freiherren von Gemperlein«, »Das Gemeindekind«), mit den »Parabeln und Märchen«, den »Aphorismen« und insbes. mit der Erzählung »Glaubenslos?« über die bloße Sittenmalerei weit hinaus. Ihren Spuren folgten andre Dichterinnen: Ossip Schubin (»Boris Lenski«), Berta v. Suttner (»Die Waffen nieder«). Realistische Wahrheit liebend und eindringend erscheint die herbe Wiener Sittenmalerin Emil Marriot (»Die Unzufriedenen«, »Seine Gottheit«). Ilse Frapan schrieb »Hamburger Novellen«, Hermine Villinger »Schwäbische Geschichten«, Emmy v. Dincklage »Westfälische Erzählungen«, die durch realistische Frische ausgezeichnete Klara Viebig »Kinder der Eifel«. Ihr zur Seite stehen die eindrucksvoll schildernden Schriftstellerinnen Helene Böhlau mit ihren »Ratsmädelgeschichten«, Margarete v. Bülow, Marie Janitschek und Anselm (Selma) Heine mit Novellen, die hochbegabte Ricarda Huch (»Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem jüngern«), Gabriele Reuter (»Aus guter Familie«), Bernhardine Schulze-Smidt u. a. Unter den Schriftstellern ragen zunächst eine Reihe von Vertretern des historischen Romans hervor. Gustav Freytag hatte mit seinem Zyklus »Die Ahnen« das Fach wieder zu Ehren gebracht und ihm folgten andre Gelehrte: Georg Ebers (1837–98) mit ägyptischen, Felix Dahn (geb. 1834) mit einer langen Reihe altgermanischer Erzählungen, George Taylor und Ernst Eckstein mit altrömischen Romanen etc. Das Leben der Gegenwart suchten Adolf Stern, Rudolf Lindau (»Reisegefährten«, »Der lange Hochländer«) und G. v. Ompteda in Novellen und Romanen in eigenartiger Beleuchtung vorzuführen. Insbesondere aber waren es unter den ältern Romandichtern eine Reihe von Humoristen, die anregend wirkten, wenn auch keiner von ihnen an Fritz Reuters Bedeutung heranreicht. Der große Ästhetiker Friedrich Vischer (1806 bis 1886) trat in seinen alten Tagen mit der Erzählung »Auch einer« hervor, in der er ein fesselndes Problem entwickelte. Humoristische Novellen schrieb der pommersche Schriftsteller Hans Hoffmann (geb. 1848) mit seinen »Geschichten aus Hinterpommern«, »Der eiserne Rittmeister« u. a. Julius Stinde (geb. 1848) erwarb sich Beifall mit seinen launigen Schilderungen des Berlinertums (»Familie Buchholz«, »Wilhelmine Buchholz' Memoiren«, »Hotel Buchholz« u. a.), obwohl sie nur leichtem Unterhaltungsbedürfnis dienen; weit tiefer drang Heinrich Seidel (geb. 1842), der in der humoristischen Figur des Leberecht Hühnchen einen lebensvollen poetischen Typus schuf. Auch Ernst v. Wolzogen (geb. 1855) entwickelte in seinem »Kraft-Mayr« und namentlich in dem »Dritten Geschlecht« ansprechenden Humor, während Fritz Mauthner (geb. 1849) in seinen glücklichen Parodien »Nach berühmten Mustern« mehr Witz als Humor an den Tag legte. Bescheidenere Verdienste erwarb sich in Wien der gemütreiche Vinzenz Chiavacci (geb. 1847). Dazu kamen die sächsischen Humoristen Gustav Schumann, der die Figur des Partikularisten Bliemchen schuf, und Edwin Bormann.
Unter den Romanschriftstellern, die insbes. dem naturalistischen Stil zum Durchbruch verhalfen, ragt Max Kretzer (geb. 1854) hervor, der sich selbst aus der Tiefe emporarbeitete und in seinen »Betrogenen«, »Verkommenen«, »Meister Timpe«, vor allem aber in seinem »Millionenbauer« viel Kraft und aufsteigende Entwickelung zeigte. Sehr groste Erfolge hatte Hermann Sudermann (geb. 1857) mit den dramatisch packenden Romanen »Der Katzensteg« und »Frau Sorge«. Hermann Heiberg (geb. 1840) bewährte sich in »Apotheker Heinrich« u. a. als Kleinmaler. M. G. Conrad (geb. 1846), ein eifriger Apostel der Freiheit, wurde der Sittenmaler von München (»Majestät«). Karl Bleibtreu (geb. 1859), der sich in allzu reicher Produktion überstürzte und in allen Formen versuchte, entwickelte eine Spezialität als poetischer Schlachtenmaler. Konrad Alberti (geb. 1862), der besonders leidenschaftlich auftrat, ferner der sensitive Heinz Tovote (geb. 1864), der immer nur die erotische Erzählung pflegte, Hermann Bahr (geb. 1863), der viele Wandlungen durchmachte, und Wolfgang Kirchbach, der sich als glücklicher Kritiker bewährte, Wilhelm Bölsche (»Die Mittagsgöttin«), Felix Holländer (»Jesus und Judas«) u. a. förderten diese Bestrebungen der neuen Zeit. Der früh verstorbene Ludwig Jacobowski (»Werther, der Jude«, »Loki«), der namentlich als Lyriker bedeutend ist, erhob sich zur Gestaltung ernster Probleme. Und in neuester Zeit trat eine Reihe von Talenten hervor, die Aufsehen erregten. Hierher gehört Walter Siegfried mit seinem Künstlerroman »Tino Moralt«, Jakob Wassermann mit seiner »Geschichte der jungen Renate Fuchs«, I. C. Heer mit den Romanen »An heiligen Wassern«, »Der König der Bernina« u. a., Wilhelm v. Polenz mit dem »Büttnerbauer«, dem »Grabenhäger«, »Thekla Lüdekind« u. a., vor allem aber Gustav Frenssen, dessen »Sandgräfin« und »Die drei Getreuen« noch wenig Beachtung fanden, während der durch packende Charakter- und Milieuschilderung und tiefsinnige Lebensauffassung hervorragende Roman »Jörn Uhl« eine Verbreitung fand, wie seit Jahren kein andres Werk.
Auch die Erzählung in Versen und das Epos fanden in neuerer Zeit glückliche Pfleger. So erwarb sich Julius Wolff (geb. 1834) durch seinen »Wilden Jäger«, »Rattenfänger von Hameln«, »Tannhäuser« u. a., Rudolf Baumbach (geb. 1841), der talentvolle Erneuerer der mittelalterlichen Vagantenlyrik, durch »Zlatorog«, »Frau Holde«, »Kaiser Max und seine Jäger« lebhaften Beifall. Zu ihnen gesellten sich Hans Herrig (»Die Schweine«), Ernst Eckstein u. a. Vor allem aber erneuerte Friedrich Wilhelm Weber (1813 bis 1894) durch »Dreizehnlinden« die epische Dichtung, wenn auch der beispiellose Erfolg des ansprechenden Werkes z. T. auf die Bemühungen der ultramontanen Propaganda zurückgeführt werden muß.
Die dramatische Dichtung stand in den 70er Jahren recht tief; wenigstens wurden die Bühnen zumeist von Schriftstellern beherrscht, die weder eindrucksvolle, noch der Wirklichkeit abgelauschte Leistungen boten. Die hausbackenen Lustspiele von Benedix wurden durch solche von Julius Mosen, Gustav v. Moser, Adolf L'Arronge, Oskar Blumenthal, Hugo Lubliner, Paul Lindau (»Ein Erfolg«, »Maria und Magdalena«, »Gräfin Lea«) u. a. verdrängt. Das höhere Drama wurde von einzelnen achtbaren Talenten gepflegt, die jedoch größtenteils ihr Epigonentum nicht verleugnen konnten: Albert Lindner (»Brutus und Collatinus«, »Die Bluthochzeit«), Heinrich Kruse (»Wullenweber«), Franz Nissel (»Die Zauberin am Stein«, »Heinrich der Löwe«, »Agnes von Meran«), Artur Fitger (»Die Hexe«), Ferdinand v. Saar (»Kaiser Heinrich IV.«, »Die beiden de Witt«), Ludwig Schneegans (»Maria von Schottland«), Martin Greif (»Heinrich der Löwe«, »Marino Falieri«, »Nero«), Hans Hopfen (»In der Mark«, »Helga«) u. a. Obwohl in alten Bahnen fortschreitend, erwarb sich großen Einfluß auf den Bühnen Adolf Wilbrandt (geb. 1837), der mit seinen Lustspielen »Die Maler«, »Die Vermählten«, den Tragödien »Grachus, der Volkstribun«, »Kriemhild«, namentlich aber mit dem »Meister von Palmyra«, auch mit dem effektvollen Schauspiel »Die Tochter des Herrn Fabricius« Beifall fand und auch als Erzähler (»Hermann Iffinger«) erfolgreich tätig war. Auch das starke Talent von Ernst v. Wildenbruch (geb. 1847) war von modernen Bestrebungen nur oberflächlich berührt; mit seinem »Harold«, den »Karolingern«, den »Quitzows«, dem »Generalfeldoberst«, »Heinrich und Heinrichs Geschlecht«, der »Tochter des Erasmus«, »König Laurin« u. a. erwarb er bei seinem echten und innerlichen Pathos berechtigten Beifall. Eine tiefere Wandlung trat aber erst durch eine Reihe eigenartiger Talente ein, die seit Mitte der 80er Jahre der realistisch-naturalistischen Reaktion siegreich zum Durchbruch verhalfen. Die theoretischen Führer waren hier zwei Literarhistoriker, Paul Schlenther und Otto Brahm, von denen der erste, nachdem er lange Zeit Redakteur der »Vossischen Zeitung« gewesen war, Direktor des Burgtheaters in Wien wurde, während der letztere als zielbewußter Leiter des Deutschen Theaters in Berlin große Erfolge errang. Die Bestrebungen der »Freien Bühne«, denen beide in den 80er Jahren nachdrücklich dienten, erwiesen sich als heilsam, wenn sie auch nur vorübergehende Bedeutung beanspruchen durften. Brahms Verdienst war, daß er das Talent Gerhart Hauptmanns (geb. 1862) sogleich erkannte. Dieser erzielte unter den Jüngern durch seine zwar nicht vielseitigen, aber durch unübertreffliche Lebenswahrheit ausgezeichneten Bühnenwerke die größten Wirkungen. Wir nennen: »Vor Sonnenaufgang«, »Einsame Menschen«, »Die Weber«, »Kollege Crampton«, »Das Hannele«, »Die versunkene Glocke«, »Der Biberpelz« und »Der arme Heinrich«. Arno Holz und Johannes Schlaf, die gleichzeitig auftraten (»Familie Selicke« und »Papa Hamlet«), wurden durch ihn bald verdunkelt, während sich dagegen das schwächere Talent von Ludwig Fulda (geb. 1862) bei reicher Produktion in Anerkennung zu erhalten wußte (»Der Talisman«, »Unter vier Augen«, »Herostrat«, »Die Zwillingsschwester«); Fulda erwarb sich ein hervorragendes Verdienst als Übersetzer (Molière, Rostand, Cavallotti). Anfangs wurde Hermann Sudermann (geb. 1857) oft mit Hauptmann in eine Linie gerückt: er wußte durch Ausstellung interessanter Probleme (»Die Ehre«), vorzügliche Milieuschilderung und durch die Vorliebe für erotische Probleme das Publikum um so mehr zu fesseln, als er über eine höchst geschickte Technik verfügt: sein Einakter »Fritzchen« in den »Morituri« ist ein Meisterstück. Aber ihm fehlt die überraschende psychologische Wahrheit, durch die Hauptmann sich auszeichnet. Ein bedeutendes Talent ist Artur Schnitzler, der durch »Freiwild«, den »Schleier der Beatrice« und geistvolle Einakter Aufsehen erregte. Weit größer waren jedoch die Wirkungen, die Max Halbe mit seiner dreist-erotischen »Jugend« erzielte, während Frank Wedekind mit seinem allzu kühnen »Erdgeist« nur engern Kreisen genügte. Georg Hirschfeld (»Die Mütter«, »Pauline«), Rudolf Lothar (»König Harlekin«), Philipp Langmann (»Bartel Turaser«), Kurt Geucke (»Sebastian«) sind weniger bekannt geworden. Durch Aufgreifung eines die Zeit interessierenden Stoffes erregte Max Dreyer in seinem »Probekandidaten« die Aufmerksamkeit weiterer Kreise; den Stand der Volksschullehrer geißelte auch Otto Ernst in »Flachsmann als Erzieher«, während er in »Jugend von heute« die Nietzscheaner, in »Gerechtigkeit« Auswüchse der Presse durchzuhecheln suchte. Durch hohe lyrische Schönheiten und kunstvollen Stil ausgezeichnet, aber des dramatischen Nervs entbehrend sind die Stücke von Hugo v. Hofmannsthal (»Der Tor und der Tod«, »Die Frau am Fenster«, »Die Hochzeit der Sobeide«). Im Kampf gegen die moderne Richtung zeigten sich Fritz Lienhard (»König Artur«), Adolf Bartels (»Der junge Luther«), Karl Weitbrecht u. a.
Wie auf den andern Gebieten der poetischen Kunst, so auch auf dem der Lyrik drang neues Leben überall siegreich vor, wenn es auch nicht an lächerlichen Entartungen fehlte. Die modernen Lyriker gaben sich ein Stelldichein in der Kunstzeitschrift »Pan«, in der »Jugend« und im »Simplizissimus«. Die teils mit dem Gesang verknüpfte, teils selbständig auftretende Liederdichtung eroberte sich durch das Überbrettl sogar die Bühne; das Streben nach Sangbarkeit kam dabei der Dichtung sehr zu statten. Den Gewohnheiten der alten Kunstübung folgten mehrere starke Talente: Martin Greif (einer der ersten Lyriker der neuen Zeit), Eduard Paulus, Joh. Georg Fischer u. a. Auch unter den Neuern hielten sich der auch als Romanschriftsteller, Kritiker und Literarhistoriker hervorgetretene Karl Busse, Ferdinand Avenarius und der am Volkslied herangereifte, zu früh verstorbene Ludwig Jacobowski (»Aus Tag und Traum«, »Leuchtende Tage«) von einseitig-modernen Bestrebungen frei. Treffliches leisteten Gustav Falke, Friedrich Adler und insbes. Detlev v. Liliencron, der durch ungewöhnliche Frische und Originalität (»Adjutantenritte«, »Neue Gedichte«) hervorragt. Ein starkes lyrisches Gefühl kommt auch bei Max Dauthendey und Alfred Mombert zum Ausdruck, aber es fehlt bei ihnen nicht an krankhafter Überspannung und Verwirrung; an Heine anschließend verschmäht Richard Schaukal jede Art von Reflexion in seinen Gedichten. Symbolistische Feinheiten erstreben Richard Dehmel, der talentvolle, aber dunkle Stephan George und der feinsinnige Hugo v. Hofmannsthal; nach neuen Formen ringt Arno Holz; sozialistischen Ideen gibt John H. Mackay Ausdruck. Wir nennen weiter Karl Henckell, Maurice v. Stern, ferner die Hauptförderer des Brettls Otto Julius Bierbaum, Ernst v. Wolzogen u. a. Unter den dichtenden Frauen erregte Johanna Ambrosius als sogen. Naturdichterin vorübergehend starkes Aufsehen; eigne Erlebnisse erschloß in ergreifenden Versen Anna Ritter; durch kühne Originalität suchte die Malerin Hermione v. Preuschen in ihren Gedichten Eindruck zu machen, während Marie Madeleine (»Auf Kypros«) heißblütige Erotik verkörperte.
B. Wissenschaftliche Literatur.
Von den verschiedenen Zweigen der wissenschaftlichen oder gelehrten Literatur können im engern Anschluß an die Nationalliteratur und vermöge ihrer bestimmenden Einwirkung auf dieselbe nur die Philosophie und Theologie nebst der Geschichte nach ihrer geschichtlichen Entwickelung hier in Betracht kommen. Rücksichtlich der andern Gebiete muß auf die den einzelnen Disziplinen gewidmeten Artikel verwiesen werden.
Philosophie
Wie unter den Völkern des Altertums den Griechen, so gebührt unter den neuern den Deutschen der Ehrenname eines »Volkes von Denkern«. Nachdem sie schon im Mittelalter durch Albert von Vollstädt (Albertus Magnus, gest. 1280), in der Übergangszeit durch Paracelsus (gest. 1541), Nikolaus Taurellus (gest. 1606) und Jakob Böhme (gest. 1624) an der Entwickelung der Philosophie rüstigen Anteil genommen, beginnt die ihnen eigentümliche Methode zuerst mit Leibniz (1646–1716), dessen Universalismus bemüht war, die Selbständigkeit der Individuen mit der Harmonie des einheitlichen Ganzen und dem Mechanismus der wirkenden mit der Freiheit der Zweckursachen zu vereinigen. Während manche nach Leibniz auf einzelnen philosophischen Gebieten wirkten, unternahm es Christian Wolff (gest. 1754) als der erste Deutsche, ein vollständiges, in sich mit wissenschaftlicher Strenge zusammenhängendes System der Philosophie, durch das alles klar und verständlich werden sollte, in rein rationalistischer Weise so darzustellen, daß er der Gründer der ersten deutschen Philosophenschule, der nach ihm und seinem Meister sogen. Leibniz-Wolffschen Schule, ward. Ihr Einfluß, der sich auf alle Wissenschaften über die Grenzen Deutschlands hinaus erstreckte. nahm allmählich ab, als nach der Mitte des 18. Jahrh. die seit Locke bei den Engländern und Franzosen übliche empiristische Weise zu philosophieren in Deutschland mehr Eingang fand. Während die eigentlichen Schüler Wolffs, namentlich Baumgarten (gest. 1762), der Begründer der Ästhetik, an dessen mathematischer Methode und einseitig rationalistischer Erkenntnisquelle festhielten, suchten andre, wie der. Mathematiker Lambert (gest. 1777), der schon viel Ähnliches mit Kant hatte, und die Philosophen der Berliner Akademie Friedrichs d. Gr., Locke mit Leibniz, Empirismus mit Rationalismus zu verbinden. Parallel mit dieser wissenschaftlichen ging eine populäre, der Aufklärung und dem Gemeinwohl dienende Richtung der Philosophie, die sich z. T., wie Reimarus (gest. 1765), Eberhard (gest. 1809), Platner (gest. 1818), an Wolff, z. T., wie Tetens (gest. 1805), mehr an Locke hielt, z. T., wie die sogen. »Philosophie des gesunden Menschenverstandes« und die moralisierende Schriftstellerei der Abbt (gest. 1766), Sulzer (gest. 1779), Basedow (gest. 1790), Mendelssohn (gest. 1786), Gellert (gest. 1769), Garve (gest. 1798) und Feder (gest. 1821), eklektisch verfuhr. Die Summe aller dieser Bestrebungen zog Immanuel Kant (1724–1804). Er war ursprünglich rationalistischer, dann infolge seiner eifrigen Beschäftigung mit Newton empirischer Dogmatiker, wurde durch den Skeptizismus Humes aus dem dogmatischen Schlummer aber geweckt und sprach nun als Kritiker der »reinen Vernunft« (des Denkens ohne Erdichtung) dieser die Fähigkeit ab, übersinnliche Gegenstände zu erkennen. Zugleich aber wies er auch als Kritiker der »Sinnlichkeit« nach, daß diese, um zur »Erfahrung« zu werden, der Ergänzung durch apriorische, d. h. durch reine Vernunft- oder genauer Verstandesbegriffe bedürfe. Rationalismus und Empirismus sollten auf diesem Weg ausgesöhnt, von der Vernunft die Form, von der Sinnlichkeit der Stoff aller auf die Welt der Objekte bezüglichen Erkenntnis geliefert werden, diese selbst aber auf die Objekte der sinnlichen oder Erfahrungswelt eingeschränkt bleiben, jenseit der als »dunkler Rest« der übersinnlichen Welt das sogen. Ding an sich als metaphysisches Substrat allem übrigbleibe. Die so verursachte Einbuße von Erkenntnissen sollte durch das Bewußtsein einer dem Menschen innewohnenden praktischen Vernunft oder eines freien moralischen Pflichtgefühls (kategorischer Imperativ) aufgewogen werden. Der Inhalt der natürlichen Religion (Gott, Unsterblichkeit, Willensfreiheit), dessen Erkenntnis auf theoretischem Wege durch die »Kritik« aufgehoben war, sollte auf moralischem Wege wiederhergestellt werden. Kants Philosophie übte einen durchgreifenden Einfluß nicht nur auf seine Zeitgenossen, sondern bis auf die Gegenwart aus, indem er als »Alleszermalmer« auf die intellektuelle, wie durch Hervorhebung des reinen Pflichtgefühls auf die moralische Kultur der Besten seiner Nation umgestaltend wie kein andrer vor und nach ihm gewirkt hat. Während der Skeptizismus und der ältere Dogmatismus, auch Kants ehemaliger Zuhörer Herder (gest. 1803) den Kritizismus angriffen, suchten K. L. Reinhold (gest. 1823), Schiller, Fries (gest. 1843) u. a. ihn weiterzubilden. Kants bedeutendster Nachfolger, I. G. Fichte (1762–1814), verwandelte den halben Idealismus Kants in einen ganzen, indem er das Ich nicht nur für den Träger und die Quelle der Erkenntnis, sondern auch für das einzige Reale erklärte, dessen Vorstellung und Tat die Welt, der einzige Grund der Erschaffung dieser letztern aber das Sittengesetz, die »sittliche Freiheit«, sei, weil diese, um sich als solche zu bewähren, einer »sinnlichen Welt« als »Material der Pflichterfüllung« bedürfe. Durch diesen Idealismus hat Fichte auf die deutsche Philosophie, durch seine patriotische Gesinnung und seine feurigen politischen Reden auf die »deutsche Nation« vor den Befreiungskriegen eingewirkt. Schelling (1775–1854) wendete die innere Entwickelungsgeschichte des Ichs, dessen Tat die Welt ist, auf die Natur als das unbewußte Ich an und brachte durch diese sogen. Naturphilosophie einen anregenden, aber auf die Dauer nicht gedeihlichen Umschwung in der Behandlung der Naturwissenschaften hervor. Während er selbst in raschem Wechsel sein System mehrfach änderte, namentlich erst zu einer Identitätsphilosophie, dann zu einer »Offenbarungsphilosophie« umgestaltete, steigerte Georg Wilh. Friedrich Hegel (1770–1831) Fichtes ursprünglich subjektiven zum »absoluten« Idealismus, indem er an die Stelle des allein realen und tätigen Ichs die unpersönliche Vernunft (»die logische Idee«) und an die Stelle der schöpferischen Tat den dialektischen Prozeß (»Selbstbewegung des Denkens«) setzte. Die Vernunft, erhoben zum allein wahren Wesen alles Wirklichen (Panlogismus), aber damit auch das Wirkliche zum Vernünftigen (Optimismus), dem Rationalismus auf diese Weise Vorschub leistend. Wie Kants unerbittliche Schärfe in die Tiefe, so hat Hegels Methode in die Breite der Forschung gewirkt und ist in fast allen Wissenschaften angewendet worden.
Den Gegensatz zu dieser von Fichte bis Hegel in gerader Richtung fortschreitenden idealistischen Richtung bildet die gleichfalls an Kant anknüpfende realistische Richtung Herbarts (1776 bis 1841). Die Empirie bildet nach diesem die Grundlage, durch deren Bearbeitung, Berichtigung und Ergänzung eine in sich zusammenhängende, auch logisch befriedigende Wissenschaft entstehen soll. Durch ihren Ausgangspunkt und durch ihre exakte, auch auf die Psychologie angewandte Methode hat Herbarts Philosophie allgemeiner gewirkt, auch mehrfach Naturforscher angezogen. Außer den Vorgenannten haben unter den Nachfolgern Kants nur der sogen. Glaubensphilosoph Fr. H. Jacobi (1743–1819) und namentlich A. Schopenhauer (1788–1860) Einfluß in weiten Kreisen der Leserwelt gehabt. Letzterer erklärte den Willen für das »Ding an sich« und hat durch seinen offen bekannten Unglauben sowie namentlich durch seinen ausgeführten Pessimismus und durch seine leichtverständliche, z. T. glänzende Darstellung zahlreiche Anhänger und Verehrer gefunden. Von den Schülern der Genannten haben einige z. T. mehr oder weniger abweichende Richtungen eingeschlagen und selbst einen Kreis von Jüngern um sich versammelt. Strenge Kantianer waren Schultz (gest. 1805), Jakob (gest. 1827), Erh. Schmid (gest. 1812) u. a., während W. T. Krug (1770–1842) als äußerst fruchtbarer Schriftsteller sich um die Popularisierung der Kantschen Philosophie Verdienste erwarb und I. Fr. Fries (1773–1843) durch Verschmelzung der Jacobischen Glaubensphilosophie eine eigne Schule stiftete. U. a. verfolgten Fichtes Richtung: Forberg, Niethammer, Schad, Mehmel; auch Fr. Schlegel (gest. 1829) und der Theolog Schleiermacher (gest. 1834), der später eine eigne Schule gründete, wurden durch ihn angeregt. Schellings Natur- und Identitätsphilosophie fand in H. Steffens, L. Oken, I. Görres, Fr. v. Baader, I. P. Troxler, G. H. Schubert, K. W. F. Solger u. a. eifrige Bekenner, die dieselbe namentlich auf die Naturwissenschaften mit mehr oder weniger Glück anwandten. Schellings später mystischer oder sogen. positiver und Offenbarungsphilosophie neigten sich zu: Beckers, Schaden u. a. Sein anfänglicher Schüler Krause (gest. 1832) setzte dem Pantheismus der Naturphilosophie einen von ihm so genannten Panentheismus entgegen, der in Ahrens, Lindemann, Leonhardi u. a. begeisterte Anhänger fand. Als Verbreiter Herbartschen Lehre sind besonders aufgetreten: Hartenstein, Drobisch, Exner, Strümpell, Th. Waitz, Lott, Allihn, Thilo, Cornelius, Nahlowsky, Volkmann, R. Zimmermann, auch Lazarus und der Sprachphilosoph Steinthal. Die umfangreichste Literatur hat die Hegelsche Schule aufzuweisen, wobei die Gegensätze der rechten (theistischen) und linken (pantheistischen), ja äußersten linken (atheistischen) Seite derselben scharf auseinander traten. Erstere führte bald zur Gründung einer besondern Theistenschule, der I. H. Fichte, Weiße, Ulrici, Wirth, Carriere u. a. angehörten; die letztgenannte, der sogen. Junghegelianismus, schlug zuletzt in völligen Materialismus um. Innerhalb des durch Hegel mehr oder weniger beherrschten Gedankenbereichs wurde die Logik durch Gabler, Hinrichs, Schaller, Werder, Erdmann, Biedermann, die Naturphilosophie durch Schaller, Bayrhoffer, Ernst Kapp, die Psychologie durch Rosenkranz, Michelet, Daub, Erdmann, die Rechtsphilosophie durch Gans, Göschel, Hinrichs, Köstlin, die Philosophie der Gesch ich te durch Chr. Kapp, Rosenkranz, Wuttke, die Ast hetik durch Hotho, Rötscher, Carriere, Weiße, Vischer, Köstlin, Zeising, die Theologie durch Daub, Marheineke, Vatke, Rosenkranz, D. Strauß, Br. Bauer, F. Chr. Baur, E. Zeller, die Moral und Ethik durch Daub, Henning, Michelet, Wirth, Vatke u. a. bearbeitet. Das besondere Verdienst, die Prinzipien der Hegelschen Schule kritisch auf die evangelische Geschichte und die christliche Dogmatik angewendet zu haben, erwarb sich David Strauß (1808 bis 1874), dessen philosophische Grundideen bis zur äußersten Konsequenz Ludwig Feuerbach (1804–1872) verfolgte. An die Stelle der Hegelschen, lange Zeit dominierenden Lehren traten seit 1843 teils ältere, bisher durch die Hegelsche Schule zurückgedrängte Philosophien, wie die Herbarts, Schopenhauers in weiterm Umkreis, Krauses, des Theosophen Baader (gest. 1841), des von der römischen Kirche als Häretiker erklärten katholischen Denkers Bolzano (gest. 1843), sowie die des Hermes (gest. 1837) und Günther (gest. 1862) in engerm Umkreis. Dazu kamen teils die positiven Wissenschaften, von denen namentlich die Naturwissenschaften, anfangs aller Philosophie feindlich, allmählich Ausgangspunkt neuer, teils materialistischer, teils idealistischer Philosopheme geworden sind. Schopenhauers System vertrat Frauenstädt, während Ed. v. Hartmann (geb. 1842, »Philosophie des Unbewußten«) eine Verbindung desselben mit Hegelschen Prinzipien durch Anlehnung an Schellings positive Philosophie versuchte. Baaders Philosophie fand in Hoffmann, die Günthers in Knoodt, Loewe, Frohschammer u. a. Verteidiger, während Ritter, Rothe u. a. Schleiermachers theologische Philosophie umbildeten.
Den Naturwissenschaften gaben I. Moleschott, K. Vogt und der populär schreibende L. Büchner durch die Reduktion aller Lebenserscheinungen auf Kraft und Stoff eine materialistische, dagegen Lotze (gest. 1881) und Fechner (gest. 1887), dessen Weltanschauung an Leibniz und Spinoza erinnern, eine idealistische Grundlage. Durch die Ergebnisse der Physiologie der Sinnesorgane sind auch Naturforscher, wie Helmholtz, Rokitansky, Czermak, Zöllner u. a., zu einer derjenigen Kants und Schopenhauers verwandten idealistischen Erkenntnistheorie, andre, namentlich Haeckel, durch den Darwinismus zu einer materialistisch-evolutionistischen Naturphilosophie weitergeführt worden. Zur alten Philosophie, namentlich zu Aristoteles, hielt sich Trendelenburg (gest. 1872). Während der Einfluß der deutschen Philosophie im Ausland (Kants in England, Hegels in Frankreich, England, Amerika und Italien, Herbarts in Italien und Holland, Krauses in Belgien, Spanien und Südamerika) fühlbarer wurde, machte sich die Wirkung englischer Denker (Mill, Spencer u. a.) und der positiven Philosophie Comtes neuerdings in Deutschland geltend, nachdem schon zur Zeit der Herrschaft Hegels ohne Erfolg durch Beneke (gest. 1854) auf englische Philosophen hingewiesen worden war. In der Gegenwart steht die deutsche Philosophie wieder unter dem Einfluß Kants, wie sie vor hundert Jahren darunter gestanden hat, nachdem zuerst Zeller (1862) und Liebmann die Rückkehr zu Kant verlangt hatten. Dieser Einfluß zeigt sich einerseits in der sogen. Kant-Philologie, d. h. in der philologisch geschulten Behandlung und Kommentierung des Kantschen Textes (Cohen, Vaihinger, Laas u. v. a.), teils in der Schule des sogen. Neokantianismus, dessen Begründer Albert Lange (gest. 1875) und dessen charakteristisches Merkmal die gänzliche Verwerfung der Metaphysik als Wissenschaft und deren Verwandlung in »spekulative Dichtung« ist. Eine gewisse Verwandtschaft damit zeigt auch die positivistische Richtung, wie sie durch Laas (gest. 1885), Riehl, Dilthey u. a. in verschiedenen Färbungen vertreten ist. Überall macht sich die Notwendigkeit, sich wenigstens mit Kant auseinanderzusetzen, bemerkbar. Zeigte sich auch eine Zeitlang Abneigung gegen Herrschaft von Systemen und Metaphysik, so treten diese in neuerer Zeit doch wieder in den Vordergrund, meist, so bei Wundt, auf der breiten Grundlage der Erfahrungswissenschaften, z. T. mit Hinneigung zu dem nachkantschen Idealisums, so bei Bergmann, Eucken u. a., z. T. unter Benutzung spinozischer Gedanken (nach Fechner bei Paulsen), weshalb man auch von einem Neospinozismus redet. Friedr. Nietzsche, der mit seinem starken Individualismus den Willen zur Macht hervorhebt, fühlt sich von keinem der Früheren wesentlich abhängig. Auf den Gebieten der einzelnen philosophischen Wissenschaften, der Logik und Erkenntnislehre, Psychologie, Ethik, Ästhetik, vor allen aber der Geschichte der Philosophie, waltet rege Tätigkeit, in welch letzterer insbes. von Ältern Brucker, Tennemann, von Neuern Ritter, Zeller, Erdmann, Kuno Fischer, Schwegler, Haym, Überweg, Lange, Windelband, Heinze, Willmann u. a. und als Geschichtschreiber einzelner philosophischer Disziplinen Carus, Stäudlin, Prantl, R. Zimmermann, Lotze, Schasler u. a. gearbeitet haben.
Theologie
Die Theologie war im Mittelalter die »Königin der Wissenschaften« gewesen, zu der die übrigen in dienendem Verhältnis standen. Der Zweifel, ob eine vom Aberglauben der Menge und päpstlicher Autorität beschränkte Kenntnis und scholastische Begründung der Dogmen Wissenschaft genannt werden könne, tauchte erst gegen Ende des Mittelalters in einzelnen philosophisch und humanistisch gebildeten Köpfen auf. Aber nochmals sammelte die Reformation das Interesse aller bei dem großen Kampf der Geister beteiligten Gelehrten und Schriftsteller Deutschlands um theologische Probleme. Fast sämtliche Vorkämpfer der Reformation, Luther voran, nahmen auch auf dem literarischen Gebiet ihrer Zeit den ersten Platz ein. Leidenschaftliche und verfolgungssüchtige Polemik, dialektischer Unfug und grober Dogmatismus führten zwar wieder zu erheblichen Rückschritten und machten, daß die Literatur dieser Zeit wenig Erfreuliches darbot; doch sind wenigstens die rein gelehrten Bestrebungen seither nie wieder zu völligem Stillstand gebracht worden. Bekannt sind die Verdienste, die sich die Benediktiner und andre Orden um geschichtliche und patristische Theologie erwarben, während die Protestanten sich besonders um biblische Philologie und Exegese verdient machten. Mit dem Wiederaufblühen deutscher Kunst und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. trat eine Krisis auch in dem theologischen Studium ein; die gleichzeitige Entwickelung der Philosophie übte einen entscheidenden Einfluß aus und regte zur gründlichen Prüfung des bisher nur auf Treu und Glauben Angenommenen an. So bildete sich neben der alten Schule der Rechtgläubigen zunächst unter dem Einfluß der Aufklärung eine freiere Auffassung des Christentums heran. Aber erst Schleiermacher (1768–1834) hat auf Grund eines eigentümlichen Religionsbegriffs der ganzen Theologie einen neuen Inhalt und eine neue Form gegeben. Neben ihm haben nicht bloß De Wette (gest. 1849) die Friessche, Daub (gest. 1836) die Schelling-Hegelsche, Marheineke (gest. 1846) die Hegelsche Philosophie auf die Glaubenslehre angewandt, sondern es war auch der auf das Kantsche System gegründete Rationalismus hauptsächlich durch Röhr (gest. 1848), Paulus (gest. 1851) und Wegscheider (gest. 1849), minder scharf durch Bretschneider (gest. 1848) und Ammon (gest. 1850) vertreten. Die breite Mitte im theologischen Fahrwasser der 30er und 40er Jahre bildete die von Schleiermacher nach rechts sich abzweigende, eine Zeitlang fast alle Fakultäten beherrschende »gläubige Theologie«, auch »Vermittelungs-« oder »Schwebetheologie« genannt, als deren hervorragende Vertreter von mehr reformierter Färbung Hundeshagen, Hagenbach, Heppe, auf lutherischer Seite Nitzsch, Twesten, Ullmann, Umbreit, Dorner, Jul. Müller gelten können. Dagegen vertraten das spezifische Luthertum Klaus Harms, Scheibel, Sartorius, Rudelbach, Guerike, Harleß, Höfling, Philippi, Hofmann, Martensen, Luthardt, Kahnis, Kliefoth, Delitzsch, Vilmar, Zöckler. Ihnen schloß sich mit der Zeit auch Hengstenberg (gest. 1869) an, dessen streng rückläufige Richtung besonders in den 50er und 60er Jahren obenauf kam und alles zur Unterdrückung der sogen. Schleiermacherschen Linken tat, die von Krause, Pischon, Jonas, Sydow, Eltester vertreten war. Auf dem Gebiete der einzelnen theologischen Disziplinen herrschte fortwährend große Betriebsamkeit. In der biblischen Exegese zeichneten sich aus: De Wette, Winer, Fritzsche, Credner, Hitzig, Ewald, Tholuck, Bleek, Lücke, Olshausen, Bunsen, Meyer, Lange, Stier etc. Aber eigentliches Leben brachte erst die neutestamentliche Kritik in die moderne Theologie, und zwar David Friedr. Strauß (gest. 1874), dann durch die »Tübinger Schule« unter F. Chr. Baur (gest. 1860), als dessen namhafteste Schüler Zeller, Schwegler, Hilgenfeld zu nennen sind. Späterhin arbeiteten mehr oder weniger in derselben Richtung auch Holsten und Volkmar, Lipsius und Pfleiderer, Holtzmann und Hausrath, Schmiedel und vor allen Baurs Nachfolger, K. Weizsäcker. 1863 gab Renans »Vie de Jésus« einen Anstoß zu neuer Untersuchung und Darstellung der geschichtlichen Grundlagen des Christentums. So erschienen 1864 die neue Bearbeitung des »Lebens Jesu« von D. F. Strauß, die »Untersuchungen über evangelische Geschichte« von Weizsäcker, das »Charakterbild Jesu« von Schenkel, bald darauf die »Geschichte Jesu« von Keim, späterhin die Versuche von Weiß und Beyschlag. Den großartigsten Gedankenbau hat nach Schleiermacher Richard Rothe (gest. 1867) in seiner »Ethik« ausgeführt, und den dogmatischen Interessen einer ganzen Generation gab Albrecht Ritschl (gest. 1889) eine neue Richtung. Für kirchengeschichtliche Arbeiten erwiesen sich besonders anregend Neander (gest. 1850) und Hase (gest. 1890), während die Dogmengeschichte von F. Chr. Baur, Dorner, Ritschl, Loofs und namentlich A. Harnack gepflegt wurde. Seit einigen Jahren macht sich auf diesen Gebieten der Einfluß der Fortschritte der Altertumswissenschaft, insbes. der allgemeinen Religionsgeschichte, in verstärktem Maße geltend, ohne daß von abschließenden Ergebnissen bereits zu berichten wäre. Sonst bietet die neuere theologische Literatur meist kleinere, dem Angriff, der Verteidigung und der Vermittelung gewidmete Schriften, wie sie das Bedürfnis des Augenblicks, der Kampf auf dem kirchlichen Gebiet hervorriefen. Daneben äußerte sich aber auch, besonders seit 1848, das Bestreben, das Volk wieder lebhafter für religiöse Erbauung zu erwärmen, den kirchlichen Sinn zu heben und die christliche Liebe wachzurufen. Neuerdings hat man sich mit verstärktem Eifer der lohnenden Aufgabe zugewendet, die Gebildeten für ein gereinigtes Verständnis des Christentums zu gewinnen. Harnacks »Wesen des Christentums« (Leipz. 1900) hat nicht nur in zahlreichen Auflagen eine bei theologischen Schriftwerken bisher unerhörte Verbreitung gefunden, sondern auch eine fruchtbare, von allen Parteien aufgegriffene Kontroverse hervorgerufen. Von den durch den Druck veröffentlichten gesammelten Kanzelreden haben die von Schleiermacher, Dräseke, Hofacker, Nitzsch, Theremin, Krummacher, Harleß, Ahlfeld, Gerok, Kapff, Beyschlag, Schenkel, Palmer, Beck, Kögel, Müllensieffen, Steinmeyer, Karl Schwarz und Heinrich Lang eine weite Verbreitung erlangt. Auf dem Gebiete der katholischen Kirchengeschichtschreibung und Dogmatik sind den bewährten Namen eines Hermes, Möhler, Döllinger, Hergemöther, Janssen, Kraus und Denifle in neuester Zeit Männer wie Ehrhard, Paulus, Schell an die Seite getreten. Vgl. den Artikel »Theologie« nebst den dort genannten Sonderartikeln.
Geschichtschreibung.
Geschichtliche Vorgänge sind schon früh in Deutschland zusammenhängend ausgezeichnet worden, aber bis ins 14. Jahrh. vorzugsweise von Geistlichen und in lateinischer Sprache. Als Erzeugnisse der deutschen Literatur müssen auch diese Werke in Anspruch genommen werden, denn nur die äußere Form ist lateinisch, Inhalt und Denken der Verfasser deutsch. Trotzdem ist für die Volkstümlichkeit die deutsche Sprache eine so wichtige Vorbedingung, daß recht oft bis zur Gegenwart tatsächlich nur deutsch abgefaßte Geschichtsdarstellungen zur deutschen Literatur gezählt worden sind. Keinen Anspruch, als Literaturerzeugnisse zu gelten, haben annalistische Quellenkompilationen. deren Nachrichten namentlich für das frühere Mittelalter wertvoll sind. Ebensowenig können von den neuern, d. h. von den seit Ausbildung einer kritischen Geschichtswissenschaft entstandenen, Geschichtswerken die quellenkritischen, das Urmaterial bearbeitende Einzeluntersuchungen und große Kompilationen (wie Webers Weltgeschichte) zur Literatur zählen, denn beide Gattungen sind Erzeugnisse rein wissenschaftlich-gelehrten Betriebes. Als literarische Werke kommen vielmehr nur diejenigen Geschichtsdarstellungen in Betracht, die Anspruch auf künstlerische Würdigung erheben können und selbst da, wo sie aus den ersten Quellen gearbeitet sind, dies nicht äußerlich erkennen lassen. Umfang eines Werkes, zeitliche Ausdehnung des behandelten Stoffes und selbst der wissenschaftliche Wert einer Darstellung können hingegen nicht als Kriterien dafür gelten, ob ein bestimmtes Buch als literarische Leistung in Anspruch zu nehmen ist.
Unter den auf uns gekommenen lateinisch abgefaßten frühmittelalterlichen Geschichtswerken verdienen Biographien Karls d. Gr. von Einhard (s.d.), Konrads II. von Wipo (s.d.) und Friedrichs I. von Otto von Freising (s.d.) Erwähnung, nicht minder die Geschichte der Ottonen von Widukind (s.d.) und die der Sachsenkriege des 11. Jahrh. von Lambert von Hersfeld (s.d.). – Die lateinische Geschichtserzählung ist namentlich in den Klöstern und am Königshofe gepflegt worden. Mit dem Aufblühen der Städte und dem Erstarken des niedern Adels ist die deutsche Sprache in die Rechtsaufzeichnungen seit etwa 1230 eingedrungen (bahnbrechend war auch sprachlich der »Sachsenspiegel«), es sind dann die Rechtsinstrumente, die Urkunden, gefolgt, und Deutsch behauptet in diesen in Süddeutschland um 1300, in Mitteldeutschland um 1330 und in Norddeutschland um 1350 das Feld. Die deutsche Geschichts erzählung ist älter und beginnt mit der gereimten Chronik, die in kurzen Reimpaaren von drei oder vier Hebungen schlicht erzählt. Das älteste Werk dieser Art ist die von einem Regensburger Geistlichen im 12. Jahrh. verfaßte Kaiserchronik; Eberhards Reimchronik von Gandersheim entstand 1216, die Braunschweiger zwischen 1279 und 1292, gleichzeitig die bekannteste von allen die österreichische des Ottokar von Steier (s.d.). Die Entstehung der Holsteinischen Reimchronik wird um 1400 anzusetzen sein, und nur als verspätete Nachahmungen alter Muster darf man wohl die Breisacher Chronik, die, um 1480 verfaßt, die Burgunderkriege seit 1432 beschreibt, und die nach 1500 entstandene gereimte Geschichte des Schwabenkrieges von Johann Lenz namhaft machen. – Die früheste größere geschichtliche Prosadarstellung in deutscher Sprache ist die Sächsische Weltchronik, verfaßt von einem geistlichen Gliede der Familie von Repgow in den 30er Jahren des 13. Jahrh., die später in Sachsen, Thüringen und Bayern Fortsetzer gefunden hat. Doch dies ist eine auf besondere Umstände zurückzuführende Ausnahme: die literarisch bedeutendsten Erzeugnisse der geschichtlichen Prosa sind in den aufblühenden Städten entstanden, ihre Verfasser sind zu einem guten Teile Laien, die in treuherzig-naiver Erzählung neben anekdotenhaften, das Leben der Zeit veranschaulichenden Zügen die wichtigsten Ereignisse der Stadtgeschichte berichten. Denn wie die deutsche Entwickelung seit dem Interregnum der Einheit entbehrt und Städte und Territorien ihre Sondergeschicke haben (schon die landschaftlich getrennten Fortsetzungen der Sächsischen Weltchronik sind bezeichnend), so konnte auch der Chronist nur in der Geschichte seiner Stadt oder seines Fürsten einen der Darstellung würdigen Gegenstand sehen: auch Eberhard Windeckes (s.d.) Geschichte des Kaisers Siegmund ist keine Reichsgeschichte. Die wichtigsten Stadtchroniken des spätern Mittelalters sind in den von Hegel im Auftrage der Münchener Historischen Kommission seit 1862 in 27 Bänden herausgegebenen »Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert« (Leipz.) veröffentlicht, und zwar sind bis jetzt folgende Städte vertreten: Augsburg, Braunschweig, Dortmund, Köln, Landshut, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mühldorf, München, Neuß, Nürnberg, Regensburg, Soest und Straßburg. Auch viele andre Städte besitzen ihre Chroniken, die zum größten Teil und an verschiedenen Stellen veröffentlicht sind: bedeutend als Quelle und Literaturwerk ist die Geschichte Breslaus 1410–79 des aus Nürnberg stammenden Breslauer Stadtschreibers Peter Eschenloer, die zuerst lateinisch (hrsg. von Markgraf im 7. Bde. der »Scriptores rerum Silesiacarum«, Bresl. 1872) und dann deutsch (hrsg. von Kunisch, das. 1827–28, 2 Bde.) erschien. Würdig zur Seite steht ihr die Chronik des Erfurter Bürgermeisters Hartung Cammermeister, die Zeit 1375 bis 1486 umfassend (hrsg. von R. Reiche als 35. Bd. der »Geschichtsquellen der Provinz Sachsen«, Halle 1896), und die bis 1502 reichende Thüringisch-Erfurtische Chronik des Konrad Stolle (hrsg. als 39. Bd. der genannten Reihe von Thiele, das. 1900). Nicht Stadtchronik im gewöhnlichen Sinn, aber ein Meisterwerk der Erzählung ist die gleichzeitige Schilderung des Konstanzer Konzils 1414–18 durch den Konstanzer Bürgersohn Ulrich von Richental (s.d.), die im 158. Bande der »Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart« (Tübing. 1882) veröffentlicht wurde. – Eine besondere Art bürgerlicher Chronistik ist diejenige, welche, die moderne Memoirenliteratur vorbereitend, die persönlichen Verhältnisse des Verfassers in den Mittelpunkt stellt und das wichtig Erscheinende subjektiv erzählt. Schon des Nürnbergers Ulman Stromer (s.d.) »Püchel von meim geflechet und von abentewr« (1349–1407) gehört hierher. Noch im 15. Jahrh. entstanden als solches Werk in Halle die »Denkwürdigkeiten« des dortigen Ratsmeisters Markus Spittendorf (hrsg. als 11. Bd. der »Geschichtsquellen der Provinz Sachsen« von I. Opel, Halle 1880), welche, die Zeit 1474–78 umfassend, ausführlich einen Parteimann über eine bedeutende städtische Revolution berichten lassen. Im 16. Jahrh. schrieb in Ulm ein viel belesener Schuster, Sebastian Fischer, eine durch naiven Humor erquickende Chronik (hrsg. von Veesenmeyer in den »Mitteilungen des Ulmer Altertumsvereins«, Heft 5 bis 8,1896). Des Kölner Bürgers Hermann von Weinsberg »Gedenkbuch«, meist kurz »Das Buch Weinsberg« genannt, die Zeit 1518–97 umfassend, übertrifft wohl alle verwandten Werke an Reichhaltigkeit und Treuherzigkeit der Erzählung (hrsg. in den »Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde«, Bd. 1 u. 2 von Höhlbaum, Leipz. 1886–87, Bd. 3 u. 4 von Lau, Bonn 1897–98). Seinem Geiste nach gehört auch das französisch geschriebene Gedenkbuch des auch sonst schriftstellerisch tätigen Philipp von Vigneulles, Bürgers der Reichsstadt Metz (hrsg. von Michelant im 24. Bd. der Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Stuttg. 1852), hierher: es setzt 1471, wo Philipps Vater geboren wurde, ein und führt bis 1522. – Alle diese Erzeugnisse der Chronistik tragen das Gepräge einer Stadtgeschichte, aber in einigen Fällen ist es den Verfassern gelungen, die Zustände einer ganzen Landschaft in der gleichen Weise zu erschließen, und ihre Werke überragen damit die andern an Bedeutung: es ist dies die bis 1398 reichende Limburger Chronik (s.d.) und die für das 16. Jahrh. reichhaltige, von K. A. Barack herausgegebene Zimmerische Chronik (s.d.).
Ein Teil der genannten Geschichtswerke ist bereits im Zeitalter der Renaissance entstanden; aber wenn sich auch im einzelnen Einflüsse der neuen humanistischen Bildung erkennen lassen, so tragen sie doch noch im ganzen den Charakter nichtgelehrter Bücher. Den Geist der Renaissance spüren wir bereits in dem von Kaiser Max I. entworfenen, aber von seinem Geheimschreiber Marx Treitzsauerwein verfaßten »Weiß-Kunig« (s.d.), der allerdings nur bedingt als Geschichtswerk gelten kann. Der Einzug der klassischen Bildung in Deutschland lenkte auch die Geschichtschreibung in neue Bahnen: nicht mehr die Ereignisse der örtlichen und zeitlichen Nähe stehen im Vordergrund wie bei den mittelalterlichen Chroniken, sondern die Erweiterung des Blickes, die Bekanntschaft mit dem Altertum verlangt eine summarische Übersicht über die ganze Geschichte der Vergangenheit, die Darstellung der Weltgeschichte wird in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, und innerhalb dieser kann natürlich die engere Umgebung und die jüngste Vergangenheit nicht mehr die Stellung einnehmen, die sie vorher behauptet hatte. Anderseits war die Fülle des ungeordneten Stoffes zu groß und die Arbeitsmethode, um sie zu bewältigen, noch zu wenig ausgebildet, als daß harmonische Werke, wie es in ihrer Beschränkung die mittelalterlichen Stadtchroniken zum großen Teil sind, hätten entstehen können. Die Darstellungen der Weltgeschichte im Zeitalter der Renaissance sind, verglichen mit dem zusammenhängenden Wissen der Gegenwart, stümperhafte Versuche, aber eben darin liegt ihre literargeschichtliche Bedeutung, denn die Arbeitsweise ihrer Verfasser ist völlig verschieden von der ihrer mittelalterlichen Vorgänger: jetzt wurden die Geschichtschreiber vergangener Zeiten systematisch hervorgesucht, die bei ihnen überlieferten Nachrichten in gedrängter Form zusammengestellt, und bei den auftretenden Widersprüchen wird historische Quellenkritik geübt. Das war ein neues Zeitalter der Geschichtschreibung. Der Nürnberger Hartmann Schedel (s.d.), in Italien humanistisch gebildet, gab 1493 seine mit Holzschnitten gezierte lateinische »Weltchronik« heraus, die Georg Alt 1494 ins Deutsche übersetzte. Gleichzeitig arbeitete der um zehn Jahre ältere Lehrer des kanonischen Rechts an der Tübinger Universität, Johannes Nauclerus (s.d.), auf Veranlassung des Kaisers Max ebenfalls eine Weltgeschichte aus, die aber erst nach seinem Tode, von andern vervollständigt, 1516 im Druck erschien. Der Humanist R. Agricola verfaßte auch ein solches Geschichtswerk, das die Zeitgenossen rühmend nennen, das aber nicht erhalten ist, dagegen stellte des Sleidanus (s.d.) »De quattuor monarchiis« (1556) ein Kompendium der Weltgeschichte dar, das bis ins 18. Jahrh. als unübertroffenes Lehrbuch dagestanden hat und immer wieder neu bearbeitet worden ist. Gleichwertig ist das Buch, das mit Melanchthons Namen verknüpft ist: der Astrolog Johann Cario (geb. 1499) sandte 1531 Melanchthon einen Abriß der Weltgeschichte mit der Bitte, ihn zu verbessern und zu veröffentlichen. Dieser hat die Bitte erfüllt, und Carlos Büchlein ist 1532 deutsch erschienen; auch in seinen geschichtlichen Vorlesungen hat es Melanchthon zu Grunde gelegt, 1539 hat es Hermann Bonnus ins Lateinische übersetzt. Aber Melanchthon bearbeitete seinerseits den Stoff immer tiefer und gab den 1. Teil des »Chronicon Carionis« selbst 1558 heraus, der zweite erschien nach seinem Tode, der dritte, bearbeitet von seinem Schwiegersohn Kasp. Peucer (s.d.), 1562 und der vierte, bis 1519 reichend, 1565. Das unglückliche Lebensschicksal des Fortsetzers verhinderte ihn, auch den fünften abzufassen, der für die Nachlebenden eine wichtige Quelle dargestellt hätte. Die Weltgeschichte, die so zum erstenmal popularisiert wurde, übte auch ihren Einfluß auf die Chronistik. Aber gerade dieser Zweig der Literatur ist bisher wenig gewürdigt worden; denn sachlich bieten die Chroniken des 16.–18. Jahrh. dem Geschichtschreiber nur verhältnismäßig recht geringe Ausbeute, weil aus dieser Zeit zum größten Teil die Akten als bessere Quellen zur Verfügung stehen; doch für die Entwickelung der Geschichtschreibung sind diese vielfach handschriftlich verbreiteten und vielfach gedruckten Werke, welche die Ausgangspunkte für die neuere landes- und ortsgeschichtliche Geschichtschreibung darstellen, von hohem Interesse. Die Chronik ist jetzt nicht mehr eine naive Erzählung der zeitlich naheliegenden oder miterlebten Ereignisse, sondern das Erzeugnis gelehrtwissenschaftlicher Studien. Sobald die Ämter in der Stadt- und Staatsverwaltung in höherm Maße von frühern Zöglingen der Lateinschulen und Magistern der Philosophie besetzt wurden und diese vielfach schon von Amts wegen der geschichtlichen Entwickelung nachgehen mußten, lag es nahe, die Beschäftigung mit der Heimatsgeschichte zur Liebhaberei zu machen. Auch die kleinen Städte erhalten so fast alle früher oder später ihre Chronik, die für die ältere Zeit, so gut es eben gehen will, aus den Quellen (alten Chroniken und Urkunden) das Wichtigste beibringt, gern an das Altertum anknüpft, damit eine oft bis heute noch nicht wieder gut gemachte Verwirrung anstiftet und dann bei den zeitlich näher liegenden Ereignissen in eine ungebührliche Breite verfällt. Diese Art der Ortsgeschichtschreibung bedeutet einen nur in den allerbescheidensten Grenzen gelungenen Versuch, die Ortsgeschichte äußerlich der Allgemeingeschichte einzugliedern. Bedeutender ist der Erfolg grundsätzlich gleichartiger Arbeiten, die eine ganze Landschaft zum Gegenstande der Darstellung wählen: als solche kommen die vorwiegend bayrische Chronik des 1534 gestorbenen Johann Turmair (s. Aventinus), die Pommersche des Th. Kantzow (gest. 1542), die Schweizerische des 1572 gestorbenen Ägidius Tschudi (s.d.), die Preußische des Lukas David (gest. 1583) u. a. in Betracht. Eine deutsche Chronik, welche die ganze deutsche Nationalgeschichte umfassen will, ist das »Zeitbuch« des Sebastian Franck (s.d.).
In allen diesen Büchern waltet das rein antiquarische Interesse vor: es werden Kuriositäten für die Unterhaltung ausgekramt. Wir vermissen eine Geschichtsphilosophie, leitende Gedanken, welche die erzählten Ereignisse in gewisse Verbindung setzen, und vor allem praktische Benutzung des geschichtlichen Stoffes für das Leben, wenn sich auch die Parteinahme der Verfasser namentlich in kirchlichen Dingen leicht erkennen läßt. Im 17. Jahrh., wo die Politik das Leben beherrscht, wo die großen Sammelwerke, das »Theatrum Europaeum« (s.d.) und das »Diarium Europaeum« (s.d.), zuerst dem großen Publikum als Vorläufer der Zeitungen die Ereignisse mundgerecht mitteilen, begann auch die politische Betrachtung der Geschichte und zwar in doppeltem Sinn: es wird sowohl die politische Absicht der handelnden Personen in den Vordergrund gestellt, als auch die Erzählung der Ereignisse von den Verfassern benutzt, um bestimmte politische Zwecke zu erreichen. Geschichtschreiber sind dementsprechend vorwiegend Juristen und Staatsmänner, nicht mehr Philologen. Zuerst in größerm Stil ist die politische Auffassung zu finden in der Geschichte des schwedischen Krieges von Philipp Chemnitz (s.d. 2), ausgestaltet und verbreitet hat sie besonders Pufendorf (s.d.), der in seinem Lehrbuch der europäischen Staatengeschichte (»Einleitung zur Historie der vornehmsten Reiche und Staaten«, 1682) auch zuerst die Statistik für die Geschichte nutzbar macht. Während Rechtsgelehrte, wie I. P. v. Ludewig (gest. 1743) und U. H. Gundling (gest. 1731), in weiterer Verfolgung des einmal gebahnten Weges die Geschichte als Publizisten bewußt in den Dienst bestimmter Interessen stellten, begründete Leibniz (s.d., 1646–1716) die kritische Behandlung der deutschen Geschichte und damit die Geschichtswissenschaft als selbständiges Fach. Ein früher Versuch geschichtlicher Darstellung auf kritischer Grundlage ist des Grafen H. v. Bünau »Leben und Taten Friedrichs I., Probe einer Teutschen Kayser- und Reichs-Historie« (Leipz. 1722), während Mascov (s.d.) 1726 und 1737 in zwei Teilen die älteste deutsche Geschichte bis zum Ausgang der Merowinger behandelte. Daneben aber blüht im 18. Jahrh. eine Literatur, welche die Geschichte wesentlich moralisch verwertet, indem sie mit Anwendung einiger Gewalt, die den Tatsachen angetan wird, zeigt, wie das Gute belohnt und das Böse bestraft wird.
In neue Bahnen lenkten die Geschichtschreibung die von der Philosophie ausgehenden Anregungen: namentlich Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« (1780) und Herd ers »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784) sind bis in die neueste Zeit wirksam geblieben. Gatterer (s.d.), Schlözer (s.d.), Spittler (s.d.) und Heeren (s.d.) haben ihre Darstellungen unverkennbar durch die Einführung geschichtsphilosophischer Leitmotive vertieft. Die nationale Begeisterung, die, während der Napoleonischen Fremdherrschaft erwacht, auf literarischem Gebiet in der Romantik zur dichterischen Belebung des Mittelalters führte, wirkte auf die Geschichtsdarstellung in gleicher Weise, indem sie von der Beschäftigung mit der wenig erfreulichen Gegenwart abziehend zum liebevollen Eingehen auf die mittelalterliche Kultur an der Hand der Quellen anregte. Wenn diese Bestrebungen auch vielfach auf eine überschwengliche Verherrlichung dieses Zeitalters hinausliefen, so bedeutet doch das tiefere Eindringen in eine fremdartige Kultur mit der Absicht, sie geschichtlich zu verstehen, einen großen Fortschritt für die Geschichtschreibung, der, einmal errungen, nicht wieder verloren gehen konnte, sondern immer weiter ausgestaltet werden mußte: Fr. v. Raumers »Geschichte der Hohenstaufen« (1823–25) ist wohl das charakteristischste Werk, das zugleich den Zuständen gerecht zu werden sucht. Die romantische Weltanschauung führte anderseits vielfach kirchlich und politisch zu Bestrebungen, die andern Geistern unzeitgemäß und für die nationale Zukunft gefährlich erschienen. Mit der Waffe des Geistes mußte deshalb dieser Richtung begegnet werden, und es trat eine liberale Geschichtschreibung im Geiste der Aufklärung in Erscheinung, als deren hervorragendster Vertreter Rotteck dasteht: 1830–34 erschien seine »Allgemeine Weltgeschichte«. Die seit Leibniz geübte Quellenkritik wurde immer allgemeiner als erste Voraussetzung der Geschichtsforschung anerkannt und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. weiter ausgebildet: bahnbrechend wirkte neben Niebuhrs (s.d.) Arbeiten zur römischen Geschichte die Gründung der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, deren Werk die Herausgabe der großen Quellensammlung »Monumenta Germaniae historica« (s.d.) ist. Mit dem Namen Georg Heinrich Pertz unzertrennlich verknüpft, hat dieses nationale Werk die Geschichtsforschung ganz unerwartet gefördert. Das Neue in den zunächst bearbeiteten frühmittelalterlichen Annalen bestand gegenüber den ältern Ausgaben darin, daß die Abhängigkeit dieser untereinander festgestellt und durch Vergleichung die älteste und zuverlässigste Form der einzelnen Nachricht ermittelt wurde. Die auf Grund solcher Quellenkritik aufgebauten Darstellungen suchen objektive Wahrheit zu vermitteln: das ist vor allem das Bestreben von Leopold Ranke (s.d.) und seiner Schule. Freilich auch hier kann eine vorurteilsfreie Prüfung nicht verkennen, daß in der Tat der Versuch nicht gelungen ist, daß vielmehr auch hier die Weltanschauung der Verfasser für die Art der Auffassung maßgebend bleibt. Weniger bei Ranke selbst als z. B. bei seinem Schüler Wilh. Giesebrecht (s.d.) kommt dies zum Ausdruck: sein großes Werk über die deutsche Kaiserzeit (1855ff.), von patriotischem Geist durchweht, ist nur denkbar als Ausdruck der Sehnsucht nach einem neuen Reich. Nicht weniger ist Heinrich Leos (s.d.) Darstellung von seiner Weltanschauung und politischen Parteistellung beeinflußt: er vertritt den christlich-konservativen Standpunkt gegenüber der Aufklärung, während Hurter, Gfrörer (s.d.) und Janssen (s.d.) in ausgesprochen katholischem, ja ultramontanem Sinn Geschichte schrieben.
Alle diese Geschichtschreiber und zahlreiche ihnen verwandte Geister (Sybel, Treitschke, Dümmler, I. G. Droysen) haben grundsätzlich hinsichtlich ihrer Darstellungsmittel und ihrer Gesamtauffassung geschichtlicher Vorgänge nichts wesentlich Verschiedenes, wenn, äußerlich genommen, der Charakter ihrer Bücher auch die größten Gegensätze aufweist. Einen großen Schritt über Ranke hinaus hat in neuester Zeit Karl Lamprecht (s.d.) getan, indem er grundsätzlich alle Erscheinungen des Lebens, geistige wie materielle Zustände, als Gegenstand der Geschichte betrachtet und aus der bestimmten sozialpsychischen Disposition einer Zeit deren eigentümliche Erscheinungen zu erklären sucht. Seine »Deutsche Geschichte« stellt sich die Aufgabe, jedes Kulturzeitalter als Einheit darzustellen, sie kennt nicht mehr das Nebeneinander von »kulturgeschichtlichen« Abschnitten und politischen Kapiteln, sondern eine Kultureinheit, aus der in gewissen Grenzen mit Naturnotwendigkeit die einen wie die andern Erscheinungen folgen. Eine wesentliche, nebenbei gewonnene Errungenschaft ist die an der Hand der geschichtlichen Ereignisse in ihre Schranken gewiesene geschichtliche Notwendigkeit: nicht mehr das einzelne Ereignis erscheint ihm geschichtlich notwendig, sondern nur der Gesamtzustand der Zeit, aus dem heraus naturgemäß Personen und bestimmte Verwickelungen der Verhältnisse viele Möglichkeiten in den konkreten Erscheinungen zulassen. Am wichtigsten für eine universalgeschichtliche Betrachtung erweist es sich, daß die Aufeinanderfolge der Kulturperioden, die als durch symbolisches, typisches, konventionelles, individualistisches und subjektivistisches Geistesleben charakterisiert hingestellt werden, in allen beobachteten Fällen nationaler Entwickelung wesentlich dieselben sind. In ähnlicher Weise ist in neuester Zeit auch der Begriff der Weltgeschichte umgestaltet worden, die im wesentlichen seit den Versuchen der humanistischen Weltchronikschreiber dieselbe geblieben und auf die sogen. Kulturvölker beschränkt worden war. Hans Helmolt (s.d.) hat, von der Erwägung ausgehend, daß alle Kulturen, auch die primitivsten, Gegenstand der Weltgeschichte sein müssen, wenn anders diese ihren Namen mit Recht führen soll, die Geschichte auf geographischer Grundlage aufgebaut: seine seit 1899 erscheinende »Weltgeschichte«, an der 30 für die verschiedenen Abteilungen sachkundige Mitarbeiter nach einheitlichem Plan tätig sind, hat trotz lebhaften Widerspruchs auch viel Anhänger gefunden. Lamprecht und Helmolt verfolgen gewisse verwandte Ziele: beide wollen den historischen Stoff erweitert und nicht nur eine Reihe willkürlich ausgewählter, wenn auch durch das Herkommen geheiligter Gebiete als »geschichtlich« bezeichnet wissen. An ihre Werke haben sich Erörterungen angeknüpft, die sich mit den Fragen der geschichtlichen Methode wie allen geschichtsphilosophischen Problemen eingehend beschäftigen. Unverkennbar ist dadurch in weitesten Kreisen unbewußt die geschichtliche Einsicht gefördert worden; anderseits hat diese Vertiefung der Auffassung auch bei den Gegnern auf die Gestaltung der Darstellung und namentlich die Art der Fragestellung eingewirkt. Auch für die Geschichte der Geschichtschreibung sind bei diesen Erörterungen, namentlich seitens Lamprechts und seiner Schüler, viele neue Ergebnisse gewonnen worden. Vgl. Wattenbach, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts (6. Aufl., Berl. 1893–94, 2 Bde.); Lorenz, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter seit der Mitte des 13. Jahrhunderts (3. Aufl., das. 1887, 2 Bde.); »Monumenta Germaniae historica«, Abteilung »Deutsche Chroniken« (bisher 5 Bde.); v. Wegele, Geschichte der deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus (Münch. u. Leipz. 1885); Joachimsohn, Die humanistische Geschichtschreibung in Deutschland, 1. Heft: Die Anfänge, Sigismund Meisterlin (Bonn 1895); Ziegler, Chronicon Carionis (Halle 1898); Wesendonck, Die Begründung der neuern deutschen Geschichtschreibung durch Gatterer und Schlözer (Leipz. 1876); Lamprecht, Die Entwickelung der deutschen Geschichtswissenschaft, vornehmlich seit Herder (Münch. 1898); Barge, Entwickelung der geschichtswissenschaftlichen Anschauungen in Deutschland (Leipz. 1898); Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland (Berl. 1902).
Übrige Wissenschaften
Die Entwickelung der übrigen Wissenschaften historisch zu verfolgen, ist, wie schon erwähnt, hier nicht der Ort; es kann allenfalls nur eine Anzahl Autoren, besonders der neuesten Zeit, als Repräsentanten namhaft gemacht werden, deren Werke sich nicht nur durch Gediegenheit des Inhalts, sondern auch durch schöne Darstellung auszeichnen und daher teilweise Anspruch haben dürften, zum Bestande der Nationalliteratur hinzugezogen zu werden. In dieser Hinsicht sei zunächst an die staatsrechtlichen und politischen Schriften eines Bluntschli (»Geschichte des allgemeinen Staatsrechts«, »Deutsche Staatslehre für Gebildete«), Robert v. Mohl, Lor. v. Stein, I. Waitz, Fr. v. Holtzendorff, Rud. Gneist u. a., an die nationalökonomischen u. kulturgeschichtlichen von Fr. List, W. Roscher, Schäffle, W. H. Riehl etc. erinnert. Auf dem Gebiete der Altertumskunde dürfen Böckhs klassisches Werk »Der Staatshaushalt der Athener«, Friedländers »Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms« und die ähnlichen Schilderungen aus der altgriechischen und altrömischen Welt: »Charikles« und »Gallus« von A. W. Becker, endlich Prellers »Griechische Mythologie«, O. Jahns Werk »Aus der Altertumswissenschaft«, Lehrs »Populäre Aufsätze aus dem Altertum«, Rohdes »Psyche« u. a. angeführt werden; in andrer Richtung verlangen die Schriften von Grimm (»Deutsche Rechtsaltertümer« u. a.), Weinhold (»Altnordisches Leben«, »Deutsche Frauen im Mittelalter«), Schultz (»Höfisches Leben«) etc. Erwähnung. Die Erdkunde hat (von der Unzahl von Reisebeschreibungen und Handbüchern abgesehen) in den Werken A. v. Humboldts und K. Ritters, der Begründer der wissenschaftlichen Geographie, O. Peschels, F. v. Richthofens und F. Ratzels meisterhafte Erzeugnisse aufzuweisen. Ein besonders starkes Kontingent hierher gehöriger Bücher haben die Naturwissenschaften gestellt, seitdem man begonnen, die großen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschungen unsrer Zeit in ansprechender und gemeinverständlicher Darstellung zu verarbeiten und so in die allgemeine Bildung mit aufzunehmen. Obenan steht in dieser Richtung Al. v. Humboldt, der in seinen klassischen, schon oben genannten Schriften: »Ansichten der Natur« und »Kosmos« zur Popularisierung der Naturwissenschaft (im edelsten Sinn des Wortes) den Anstoß gab. Für diese wirkten seitdem in gediegener Weise: Lor. Oken, der Physiolog K. Fr. Burdach, der Chemiker Liebig (»Chemische Briefe«), H. Masius (»Naturstudien«), Bernh. v. Cotta (»Geologische Bilder«, »Geologie der Gegenwart«), Quenstedt (»Epochen der Natur«, »Sonst und jetzt«), Fr. v. Kobell (»Mineralogie«), M. I. Schleiden (»Die Pflanze und ihr Leben«, »Studien«, »Das Meer«), E. A. Roßmäßler (»Das Wasser«, »Der Wald«, »Die Jahreszeiten«), Otto Ule und Karl Müller, die mit Roßmäßler die Zeitschrift »Natur« begründeten, Reitlinger (»Freie Blicke«), Herm. Burmeister »Geschichte der Schöpfung«, (»Geologische Bilder zur Geschichte der Erde«), O. Heer (»Urwelt der Schweiz«), O. Fraas (»Vor der Sündflut«), Zittel (»Aus der Urzeit«), K. G. Carus (»Symbolik der Menschengestalt«, »Vergleichende Psychologie«, »Psyche«), Karl Vogt (»Zoologische Briefe«, »Physiologische Briefe«, »Vorlesungen über den Menschen«), K. Büchner (»Kraft und Stoff«, »Goldenes Zeitalter«, »Aus dem Geistesleben der Tiere«, »Liebe und Liebesleben in der Tierwelt«), K. E. v. Baer (»Reden«), Mädler (»Astronomische Briefe«, »Der Himmel«), Bessel (»Populäre Vorlesungen über wissenschaftliche Gegenstände«), H. Klein (»Astronomische Abende«), Helmholtz (»Populäre wissenschaftliche Vorträge«), Du Bois-Reymond (»Reden«), M. Willkomm, F. Unger (»Botanische Briefe«, »Geschichte der Pflanzenwelt«, »Die Urwelt«), H. F. Link (»Urwelt und Altertum«), Grisebach (»Die Vegetation der Erde«), A. E. Brehm (»Illustriertes Tierleben«), Fr. v. Tschudi (»Tierleben in der Alpenwelt«), O. Schmidt (»Alter des Menschen und Paradies«, »Deszendenzlehre und Darwinismus«), Moleschott (»Kreislauf des Lebens«), Fr. Ratzel (»Völkerkunde«, »Die Erde und das Leben«), E. Haeckel (»Natürliche Schöpfungsgeschichte«, »Kunstformen der Natur«, »Welträtsel«), Kerner (»Pflanzenleben«), Neumayr (»Erdgeschichte«), Ranke (»Der Mensch«), F. Cohn (»Die Pflanze«), W. Preyer (»Seele des Kindes«, »Aus Natur und Menschenleben«, »Tatsachen und Probleme«), W. Wundt (»Menschen- und Tierseele«), W. v. Brücke (»Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt«, »Physiologie der Farben«), G. Th. Fechner (»Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht«) u. v. a. In neuerer Zeit haben sich durch gewinnende Darstellungen bekannt gemacht: K. Laßwitz (»Auf zwei Planeten«), W. Meyer (»Das Weltgebäude«, »Die Naturkräfte«), Ernst Krause (»Werden und Vergehen«, »Allgemeine Weltanschauung«), W. Bölsche (»Liebesleben in der Natur«), W. Marshall (»Spaziergänge eines Naturforschers«, »Plaudereien und Vorträge«, »Leben der Tiefsee«), F. v. Hellwald durch ethnographische, K. Lampert durch zoologische und ethnographische Darstellungen u. v. a. Auch Bernsteins »Naturwissenschaftliche Volksbücher« sind mit Auszeichnung hier anzureihen. Endlich haben auch die Publizistik sowie die literarische Forschung und Kritik in der neuesten Zeit einen ungemeinen Aufschwung genommen, dem die Teilnahme des Publikums fördernd entgegenkommt. Zahlreiche Zeitschriften sorgen für Unterhaltung und Belehrung, wie anderseits eine Reihe großer, in immer neuen Auflagen erscheinender Enzyklopädien und Sammelwerke andrer Art, z. B. die von Virchow und v. Holtzendorff herausgegebenen Sammelwerke: »Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge« und »Deutsche Zeit- und Streitfragen«, denen eine Reihe ähnlicher Sammlungen folgte, für Verbreitung der mannigfaltigsten Kenntnisse in den weitern Schichten des Volkes erfolgreich wirken.
Literatur
Den ersten in Betracht kommenden Versuch einer Darstellung der deutschen Literaturgeschichte hat Erduin Julius Koch unternommen (»Grundriß einer Geschichte der Literatur der Deutschen bis auf Lessing«, 1790–98, 2 Bde.), doch hat sein Werk einen vorwiegend bibliographischen Charakter. Das nämliche gilt für das von Jördens herausgegebene »Lexikon deutscher Dichter« (1806–11, 6 Bde.). Zusammenhängende Schilderungen unternahmen Wachler (»Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Nationalliteratur«, 1818 u. 1819, 2 Bde.; 2. Aufl. 1831) und F. Horn (»Geschichte und Kritik der Poesie und Beredsamkeit der Deutschen von Luthers Zeit bis zur Gegenwart«, 1822–29, 4 Bde.). Kobersteins »Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (Leipz. 1827; 5. Aufl. von K. Bartsch, 1872–74, 5 Bde.; 6. Aufl., Bd. 1, 1884) enthält eine historische Darstellung mit reichhaltigen Literaturnachweisen; Gervinus ' »Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen« (das. 1835–42, 5 Bde.; 5. Aufl. von Bartsch, 1871–74) ist ausgezeichnet durch umfassende Beherrschung des Stoffes und durch selbständiges, wenn auch öfter subjektiv gefärbtes Urteil; Vilmar (»Geschichte der deutschen Nationalliteratur«, Marb. 1847; 24. Aufl. 1898, mit Fortsetzung von A. Stern) ist lebensvoll, gemeinverständlich, aber einseitig orthodox; Wackernagel (»Geschichte der deutschen Literatur«, Basel 1851–55,2. verb. Aufl. von E. Martin, 1877–94, 2 Bde.) verbindet mit der literarhistorischen Erzählung wertvolle kulturgeschichtliche Mitteilungen; Goedeke (»Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung«, Dresd. 1859–81, 3 Bde.; 2. Aufl. 1884ff.) bietet das vollständigste bibliographische Repertorium; die Bücher von Wolfgang Menzel (»Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf die neueste Zeit«, Stuttg. 1858–59), Roquette (»Geschichte der deutschen Dichtung«, Stuttg. 1862, 2 Bde.; 3. Aufl. 1878–79) und Edm. Höfer (»Deutsche Literaturgeschichte für Frauen«, das. 1876) sind veraltet. Auch Heinr. Kurz (»Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken«, Leipz. 1851–59, 3 Bde.; 7. Aufl. 1876–82, 4 Bde.) kommt nur noch wegen der ausgewählten Stücke in Betracht. Ein sehr wertvolles Buch ist: W. Scherer, Geschichte der deutschen Literatur (Berl. 1883, 9. Aufl. 1902), eine auf selbständiger Forschung beruhende, in großen Zügen entworfene Darstellung mit Benutzung der neuesten Ergebnisse der Wissenschaft; Vogt u. Koch, Geschichte der deutschen Literatur (Leipz. 1897), verbindet gründliche Sachkenntnis mit geschmackvoller Darstellung; wie dieses Werk sind R. König, Deutsche Literaturgeschichte (29. Aufl., Bielef. 1903), und O. v. Leixner, Geschichte der deutschen Literatur (6. Aufl., Leipz. 1903), durch Illustrationen geschmückt; das neueste Werk ist A. Bartels, Geschichte der deutschen Literatur (das. 1901–1902, 2 Bde., mit besonderer Berücksichtigung der neuesten Zeit). Lindemann (»Geschichte der deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart«, 7. Aufl. von Salzer, Freiburg i. Br. 1897–98, 3 Bde.) steht auf dem Standpunkte der katholischen Kirche. Könneckes »Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (2. Aufl., Marb. 1895) erläutert den Gang der Literaturgeschichte durch gut gewählte Bilder. Unter den zahlreichen Chrestomathien seien erwähnt: Wackernagel, Deutsches Lesebuch (Basel 1835–43, 4 Bde.); O. L. B. Wolff, Enzyklopädie der deutschen Nationalliteratur (Leipz. 1834–46, 8 Bde.).
Einzelne Epochen der deutschen Literaturgeschichte behandeln: Kelle, Geschichte der deutschen Literatur von der ältesten Zeit bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts (Berl. 1892); R. Kögel, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters (Straßb. 1894–97, Bd. 1, 2 Tle.); Julian Schmidt, Geschichte der deutschen Literatur von Leibniz bis auf unsere Zeit, bis 1814 (Berl. 1886–96, 5 Bde.); Lemcke, Von Opitz bis Klopstock (neue Ausg., Leipz. 1882); Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert (4. Aufl., Braunschw. 1893, 3 Bde.); Schäfer, Geschichte der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (2. Aufl., Leipz. 1881); Meusel, Lexikon der von 1750–1800 verstorbenen Schriftsteller (1802–16, 15 Bde.); Löbell, Die Entwickelung der deutschen Poesie von Klopstocks erstem Auftreten bis zu Goethes Tod (Braunschw. 1856–65, 3 Bde.); Gottschall, Geschichte der deutschen Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts (7. Aufl., Bresl. 1902, 4 Bde.); R. M. Meyer, Die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert (Berl. 1899,2. Aufl. 1900); Hettner, Die romantische Schule (Braunschw. 1850); Haym, Die romantische Schule (Berl. 1870); Brandes, Die romantische Schule in Deutschland (deutsch von Strodtmann, 4. Aufl., Leipz. 1893; deutsche Ausg. des Verfassers, das. 1887); Derselbe, Das junge Deutschland (das. 1890); I. Prölß, Das junge Deutschland (Stuttg. 1892); die neueste Zeit behandeln Eug. Wolff, Geschichte der deutschen Literatur in der Gegenwart (Leipz. 1896), und A. v. Han ste in, Das jüngste Deutschland (das. 1900). Unter den Werken, die einzelne Teile der Literaturgeschichte im Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturgeschichte darstellen, sind hervorzuheben: Janssen, Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters (Freiburg i. Br. 1877–86, 6 Bde.; in zahlreichen Auflagen, gründlich, aber vom ultramontanen Standpunkt); Bezold, Geschichte der deutschen Reformation (Berl. 1890); Biedermann, Deutschland im 18. Jahrhundert (Leipz. 1854–80, 4 Tle.). Die Literaturgeschichte einzelner Landschaften und Städte wurde dargestellt von Bächtold (»Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz«, Frauenfeld 1892, ein hervorragendes Werk); Kahlert (»Schlesiens Anteil an deutscher Poesie«, Bresl. 1835); R. Krauß (»Schwäbische Literaturgeschichte«, Freiburg i. Br. 1897–99, 2 Bde.); H. Fischer (»Beiträge zur Literaturgeschichte Schwabens«, Tübing. 1891; 2. Reihe 1899); Nagl u. Zeidler (»Deutsch-österreichische Literaturgeschichte«, Wien 1899); W. Schoof (»Die deutsche Dichtung in Hessen«, Marb. 1901); Koepper (»Literaturgeschichte des rheinisch-westfälischen Landes«, Elberf. 1893). Für einzelne Dichtgattungen vgl. Bobertag, Geschichte des Romans und der ihm verwandten Dichtungsgattungen in Deutschland (Freiburg, dann Berl. 1876–84, 2 Bde., bis zum Anfang des 18. Jahrh.); H. Mielke, Der deutsche Roman des 19. Jahrhunderts (3. Aufl., Berl. 1898); Litzmann, Das deutsche Drama in den literarischen Bewegungen der Gegenwart (4. Aufl., Hamb. 1897); Devrient, Geschichte der deutschen Schauspielkunst (Leipz. 1848–1874, 5 Bde.). Vgl. außerdem Cholevius, Geschichte der deutschen Poesie nach ihren antiken Elementen (Leipz. 1854–56, 2 Bde.). Literarhistorische Zeitschriften sind: das »Archiv für Literaturgeschichte« (hrsg. zuerst von Gosche, dann von Schnorr v. Carolsfeld, 1870–87, 15 Bde.), die »Vierteljahrschrift für Literaturgeschichte« (hrsg. von Seuffert, Weim. 1888 bis 1893, 6 Bde.); daran anschließend: der »Euphorion« (hrsg. von Sauer, Bamb., jetzt Leipz. u. Wien 1894–1903, Bd. 1–10); die »Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte« (Berl. 1887,1 Bd., hrsg. von M. Koch; neue Folge 1887–1903, Bd. 1–15; Bd. 1–4 hrsg. von Koch u. Geiger, Bd. 5–14 von Koch allein, Bd. 15 von Wetz u. Collin); die »Studien zur vergleichenden Literaturgeschichte«, hrsg. von Koch (Berl. 1901–1903, Bd. 1–3). Die neuesten Ergebnisse der literarischen Forschungen kann man übersehen in dem »Jahresbericht über die Erscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie« (seit 1879) und in den »Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte« (seit 1890).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.