- Brahmanen
Brahmanen (Braminen, im Sanskrit Brâhmana), die oberste, priesterliche Kaste Indiens. Schon der Rigveda (s. Veda) betrachtet eine Anzahl von Familien als brahmanisch (vgl. Indische Religion). Nach der ursprünglichen Auffassung liegt es offenbar nicht eigentlich im Wesen des B., Priester zu sein, sondern vielmehr Priester sein kann nur der Brahmane, da er allein die nur durch die Geburt erlangbaren mystischen Eigenschaften besitzt, die zum Verkehr mit Göttern und Geistern, insonderheit zum Genuß des heiligen Soma befähigen. Wenn auch das theoretische Idealbild der sozialen Ordnung, wie es in der jüngern Vedaliteratur und im Manugesetz entworfen wird, für die normale Beschäftigung des B. die priesterliche erklärt, hat die Wirklichkeit offenbar zu allen Zeiten einen andern Zustand ausgewiesen. Wie sich in jüngerer vedischer Zeit im Geiste der B. selbst das Bild der Rechte und Pflichten ihrer Kaste darstellte, zeigen A. Webers »Collectanea über die Kastenverhältnisse in den Brahmana und Sûtra« (in den »Indischen Studien«, Bd. 10, Leipz. 1868). Die B. betrachten sich als neben den himmlischen Göttern stehende »menschliche Götter«; ihre vier Vorrechte sind: der Anspruch an einen jeden auf Ehrerbietung, der Anspruch auf Geschenke, ihre Unbedrückbarkeit, ihre Untötbarkeit; ihre vier Pflichten sind: brahmanische Abkunft, demgemäßer Wandel, Ruhm des Vedastudiums etc., Belehrung (eigentlich Reifmachung) der Leute. Gegenüber solchen Idealkonstruktionen zeigt die altbuddhistische Literatur (vgl. Rich. Fick, Die soziale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddhas Zeit, Kiel 1897) das Bild der Wirklichkeit. Neben den B., die ihren geistlichen Pflichten leben, die als Hofgeistliche (Purohita) fungieren oder auch die niedern geistlichen Funktionen, wie Vorhersagen der Zukunft, Traumdeutung, allerlei Zauberei u. dgl., ausüben, treten in Masse B. auf, die sich mit Handel abgeben, die Viehzucht und Ackerbau bald als Großgrundbesitzer, bald als kleine Bauern betreiben. Oft ist von der Unverschämtheit, der krassen Habgier der B. die Rede; ein beliebtes Thema ist die Diskussion über den höhern Rang der Brahmanen- oder der Kschatrijakaste, wobei natürlich die Anhänger des aus einem Kschatrijahause stammenden Buddha die Partei der letztern ergreifen. Die mächtige Opposition gegen den Brahmanismus, die sich im Buddhismus (vom 6. Jahrh. v. Chr. an) und verwandten Sekten verkörperte, mußte natürlich der geistigen Suprematie der B. stärksten Abbruch tun; in nachchristlicher Zeit nahm diese Suprematie einen neuen Aufschwung, und ihr gelang die Verdrängung des Buddhismus aus Vorderindien (s. Buddhismus).
Unter den muslimischen Herrschern war für die B. als geistliche Ratgeber keine Stelle mehr an den Höfen der Andersgläubigen. Sie widmen sich, was ja nichts Neues mehr war, weltlichen Geschäften; in den von eingebornen Fürsten regierten Vasallenstaaten fungieren sie als Schreiber und Lehrer, an den Höfen als oberste Beamte. Unter der englischen Herrschaft mußte der Einfluß der B. als Priester immer weiter schwinden. Für den höhern Verwaltungsdienst eigneten sich die B. nicht; sie erkannten aber richtig ihre Aufgabe, besuchten die englischen Schulen, lernten Englisch und sicherten ihrer Kaste die niedern Beamten- wie die Lehrerstellen. Einige haben es in den neuen Lehrfächern schon zu solcher Meisterschaft gebracht, daß ihnen Lehrstühle der englischen Literatur in Indien übertragen werden konnten. Als die fähigsten und intelligentesten Köpfe unter den Hindu werden die B. immer eine große Rolle in der Geschichte und Kulturentwickelung ihres Vaterlandes spielen. Sie zeigen schon durch ihre hellere Hautfarbe, daß sie sich mehr als alle übrigen Kasten rein erhielten, sich mit dem Blute der Urbewohner weniger vermischten. Sie sind in zahlreiche Unterabteilungen gespalten. Fünf große Abteilungen werden nördlich, fünf südlich vom Vindhjagebirge gerechnet; allein in der einen der nördlichen Abteilungen, bei den Sârasvatabrahmanen im Pandschab, werden 469 kleinere Gruppen gerechnet. Der größte Stolz findet sich bei den aus Audh abstammenden. Erfundene Stammbäume und ausführliche Legenden, worin sie mit Heroen und Göttern in Verbindung treten, sollen ihren Zusammenhang mit den Vorvätern darlegen. Ihre Hauptplätze sind die östlichen Teile der Nordwestprovinzen, das untere Ganges-Dschamna-Doab und die angrenzenden Distrikte; die in den Gegenden um Dehli werden als Gaurbrahmanen bezeichnet. Durch Energie und geistige Begabung zeichnen sie sich im Westen Indiens, im Marathenland, aus; weniger Eifer zeigen sie in Bengalen, wo sie meist auf einer niedrigen Stufe geistiger Bildung stehen; sehr zahlreich und fleißig ist die Brahmanenkaste dagegen im Süden von Indien, in Maissur und Travankor. Im allgemeinen haben sich die B. vielfach als aristokratische Klasse erhalten. Aber von den vornehmen Pandits in Bihar und den stolzen Priestern von Benares stufen sie sich ab bis zu dem halbnackten, schmutzigen Landarbeiter in Orissa, den nur das Abzeichen der Brahmanenschnur als B. erkennen läßt. Nebeneinander stehen B., die zu allen Erwerbsarten greifen, und solche, die eher mit Weib und Kind verhungern, als sich zu Handarbeit herablassen würden. Nach Hunter gibt es gegenwärtig etwa 10,5 Mill. B. Überraschend groß ist die Zahl der Bettler unter ihnen; 1864 wurden in Bombay 33 Proz. der dortigen B. als Bettler ausgezeichnet. Vgl. Haug, Brahma und die B. (Münch. 1871); Muir, Original Sanskrit texts, Bd. 1 (3. Aufl., Lond. 1890); Campbell, The ethnology of India (das. 1866); E. Schlagintweit in H. v. Schlagintweits »Reisen in Indien«, Bd. 1 (Jena 1869); M. A. Sherring. Hindu tribes and castes, Bd. 2 (Kalkutta 1879); W. Hunter, Imperial Gazetteer of India, Bd. 6 (2. Aufl., Lond. 1886); E. Senart, Les castes dans l'Inde (Par. 1896).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.