- Tschudi
Tschudi, Adelsgeschlecht der Schweiz im Kanton Glarus. Die Tradition, daß dasselbe 906–1253 das säckingische Meieramt besessen, beruht auf Fälschungen Gilg Tschudis. Zu Ansehen gelangte die erst seit dem 13. Jahrh. in echten Dokumenten nachweisbare Familie durch Jost T., der mehr als 30 Jahre Glarus als Landammann vorstand und im alten Zürichkrieg eine Hauptrolle spielte. Sein Sohn Johannes T. befehligte die Glarner in den Burgunderkriegen und dessen Sohn Ludwig T. in den Mailänderkriegen. Ein Sohn des letztern war Ägidius (s. unten). Vgl. Blumer, Das Geschlecht der T. von Glarus (St. Gallen 1853). Bemerkenswert sind:
1) Ägidius (Gilg), Geschichtschreiber, geb. 5. Febr. 1505, empfing seinen ersten Unterricht von Zwingli, damals Pfarrer in Glarus, studierte in Basel und Paris und verfaßte 1528 eine Beschreibung Rätiens samt einer Schweizerkarte, die von Seb. Münster gedruckt wurde. 1536 machte er einen Feldzug in Südfrankreich mit, 1540 führte ihn eine Reise nach Rom, und 1559 erlangte er bei Anlaß einer eidgenössischen Mission an Kaiser Ferdinand I. von diesem ein Adelsdiplom. In verschiedenen hohen eidgenössischen und kantonalen Stellungen wirkte er eifrig der Reformation entgegen und plante sogar, 1558 zum Landammann gewählt, als Haupt der katholischen Minderheit in Glarus mit Hilfe der fünf innern Orte eine gewaltsame Unterdrückung der neuen Lehre in seinem Kanton (Tschudikrieg). Als er deshalb bei der Neuwahl 1560 von der Landsgemeinde übergangen ward, widmete er sich bis zu seinem am 28. Febr. 1572 erfolgten Tode fast ausschließlich der Vollendung seiner zwei großen Geschichtswerke, der »Gallia Comata«, die im Rahmen einer Beschreibung des alten Gallien namentlich die Altertümer und Vorgeschichte der Schweiz enthält, und der viel wertvollern, bis 1470 reichenden »Schweizerchronik«, die bis auf Joh. v. Müller herab als Hauptquelle für die ältere Schweizergeschichte benutzt, aber erst 1734–36 zu Basel gedruckt wurde (2 Bde.). Tschudis Darstellung der Entstehung der Eidgenossenschaft, die auf einer geschickten Verknüpfung von Urkunden, sagenhafter Überlieferung und freier Erfindung des Autors beruht, ist jahrhundertelang die herrschende geblieben und durch Joh. v. Müller und Schiller europäisches Gemeingut geworden. Seit Kopps Forschungen (s. Kopp 1) diese als Sage oder Roman haben erkennen lassen, beruht der Wert der Chronik Tschudis, abgesehen von ihrem literarischen Verdienst, hauptsächlich auf den zahlreichen, jetzt verlornen Urkunden, deren Wortlaut sie uns erhalten hat. Vgl. Fuchs, Ägidius Tschudis Leben und Schriften (St. Gallen 1805, 2 Bde.); Vogel, Egidius T. als Staatsmann und Geschichtschreiber (Zürich 1856); Blumer, Ägidius T. (im »Jahrbuch des Historischen Vereins Glarus«, 1871 u. 1874); Herzog, Die Beziehungen des Chronisten Ä. T. zum Aargau (Aarau 1888); ferner die Arbeiten Vögelins und Schultes über T. im »Jahrbuch für schweizerische Geschichte«, Bd. 11, 14 u. 18 (Zürich); Oechsli, Gilg T. (»Schweizerische pädagogische Zeitschrift«, das. 1895).
2) Iwan von, geb. 19. Juni 1816 in Glarus, gest. 28. April 1887 in St. Gallen, wurde 1846 Mitbesitzer der Verlagsbuchhandlung Scheitlin und Zollikofer in St. Gallen und machte sich als Alpenforscher verdient durch die Herausgabe eines weitverbreiteten Reisehandbuches: »Tourist in der Schweiz und dem angrenzenden Süddeutschland, Oberitalien und Savoyen« (1855; 34. Aufl., Zür. 1899, 3 Tle.).
3) Johann Jakob von, Naturforscher, Bruder des vorigen, geb. 25. Juli 1818 in Glarus, gest. 8. Okt. 1889 auf Jakobshof in Niederösterreich, studierte in Leiden, Neuchâtel, Zürich und Paris, später auch in Berlin und Würzburg Naturwissenschaft, bereiste 1838–43 Peru, lebte seit 1848 auf seiner Besitzung Jakobshof, bereiste 1857–59 Brasilien, die La Plata-Staaten, Chile, Bolivia und Peru, ging 1859 als Gesandter der Schweiz nach Brasilien, wo er namentlich auch zum Studium der Einwanderungsverhältnisse die mittlern und südlichen Provinzen bereiste, kehrte 1861 zurück, ging 1866 als schweizerischer Geschäftsträger nach Wien und wurde 1868 zum außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister daselbst ernannt. Seit 1883 lebte er wieder auf seinem Gut. Er schrieb: »System der Batrachier« (Neuchâtel 1838); »Untersuchungen über die Fauna peruana« (St. Gallen 1844–47, mit 76 Tafeln); »Die Kechuasprache« (Wien 1853, 3 Tle.); »Ollanta, ein altperuanisches Drama, aus der Kechuasprache übersetzt und kommentiert« (das. 1875); »Organismus der Khetsuasprache« (Leipz. 1884); »Peru, Reiseskizzen« (St. Gallen 1846, 2 Bde.); »Antiguedades peruanas« (mit Don Mariano de Rivero, Wien 1851, mit Atlas); »Reisen durch Südamerika« (Leipz. 1866–69, 5 Bde.); »Kulturhistorische und sprachliche Beiträge zur Kenntnis des alten Peru« (Wien 1891). Auch bearbeitete er von der dritten Auflage an Winckells »Handbuch für Jäger« (5. Aufl., Leipz. 1878, 2 Bde.).
4) Friedrich von, Bruder der vorigen, geb. 1. Mai 1820 in Glarus, gest. 24. Jan. 1886, studierte in Basel, Bonn und Berlin Theologie, wurde 1843 Stadtpfarrer in Lichtensteig (Toggenburg), lebte seit 1847 als Privatmann in St. Gallen, übernahm dort seit 1856 verschiedene Beamtenstellungen, saß seit 1864 im Großen Rat, seit 1874 im Regierungsrat und wurde 1877 Mitglied des schweizerischen Ständerats. Er erwarb sich besondere Verdienste um das Erziehungswesen und führte den Kampf mit dem Klerus ebenso taktvoll wie entschieden. Er schrieb: »Das Tierleben der Alpenwelt« (Leipz. 1853, 11. Aufl. 1890; vielfach übersetzt), ein auf eignen Forschungen und sorgfältigster Beobachtung beruhendes, auch sprachlich ausgezeichnetes Buch; »Der Sonderbund und seine Auflösung« (unter dem Pseudonym C. Weber, St. Gallen 1848); »Landwirtschaftliches Lesebuch« (8. Aufl., Frauenfeld 1888); »Der Obstbaum und seine Pflege« (mit Schultheß, 9. Aufl., das. 1901).
5) Hugo von, Kunsthistoriker, Sohn von T. 3), geb. 7. Febr. 1851 auf dem Gut Jakobshof in Niederösterreich, studierte in Wien die Rechte und Kunstwissenschaft und trat nach längern Studienreisen als Volontär in das österreichische Museum für Kunst und Industrie ein. 1884 kam er nach Berlin, wo er nach kurzer Tätigkeit an den königlichen Museen Direktorialassistent an der Gemäldegalerie und der Abteilung der Bildwerke der christlichen Epoche wurde. 1894 erhielt er den Professortitel, und 1896 wurde er zum Direktor der königlichen Nationalgalerie ernannt, die er völlig neu ordnete und durch sorgfältige Auswahl der Ankäufe und die auf seine Anregungen zurückzuführenden Schenkungen wertvoller Kunstwerke des Auslandes zur bedeutendsten modernen Galerie Europas gemacht hat. 1906 war er einer der Leiter und emsigsten Förderer der deutschen Jahrhundert-Ausstellung, über die er, ebenso wie über die von ihm veranstaltete Menzel-Ausstellung des vorhergehenden Jahres, Prachtwerke herausgab. Außerdem verfaßte er mit K. v. Pulszky den Text zu dem von der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien herausgegebenen Werk: »Die Landesgemäldegalerie in Budapest« (Wien 1883), mit W. Bode die »Beschreibung der Bildwerke der christlichen Epoche in den königlichen Museen zu Berlin« (Berl. 1888) und schrieb: »Edouard Manet« (das. 1902); »Die Werke Böcklins in der königlichen Nationalgalerie zu Berlin« (das. 1901); »Aus Menzels jungen Jahren« (das. 1906) und wichtige Aufsätze, besonders in den Jahrbüchern der königlich preußischen Kunstsammlungen. Seit 1894 leitet er mit H. Thode das »Repertorium für Kunstwissenschaft« und gibt mit Gurlitt u. a. das Sammelwerk »Das Porträt« (Berl. 1906 ff.) heraus.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.