Lehrgedicht

Lehrgedicht

Lehrgedicht (didaktische Poesie) heißt diejenige Dichtung, in der das belehrende oder reflektierende Element im Vordergrunde steht und die Herrschaft über die andern Elemente der Poesie behauptet. Da der abstrakte Gedanke, die Reflexion nur mit schwachen Gefühlen und Affekten vereinigt ist und daher den Grundforderungen der Kunst (s. Ästhetik) nicht entspricht, so ist das reine L. ästhetisch wertlos; sobald sich aber das reflektierende Element dem erzählenden, dem beschreibenden, dem lyrischen oder dem dramatischen Element gesellt, kann es willkommen sein, vor allem, wenn sein Inhalt der Norm der Bedeutsamkeit entspricht. Am besten ist es aber, wenn sich die Reflexion nur indirekt durch jene andern Elemente kundgibt; eine derartige Dichtung kann aber nicht mehr L. genannt werden. Mit dem erzählenden Elemente vermischt ist die Reflexion z. B. in der Fabel (s. d.), mit dem beschreibenden in der Satire (s. d.), mit dem lyrischen in der Gedankenlyrik und im Epigramm. Breit vorwaltende Reflexion und damit das eigentliche L. ist besonders auf derjenigen Entwickelungsstufe der Völker zu beobachten, auf der das selbständige Wesen der Wissenschaft noch nicht entfaltet und darum ihre selbständige Form noch nicht gefunden ist (die Sutras des Kapila bei den Indern, die philosophischen Lehrgedichte des Xenophanes, Parmenides, Empedokles u.a., die »Theogonie«, die »Werke und Tage« des Hesiod). Die Fortdauer oder Wiederkehr dieser Lehrdichtung neben der selbständig auftretenden Wissenschaft kündigt den Verfall oder Mangel der Poesie an, den auch die prunkvollste Rhetorik nicht zu verhüllen vermag. Dies zeigen in der Geschichte der römischen Poesie des Lukrez übrigens höchst geistvolle poetische Darstellung des Epikureischen Systems in dem Gedicht »De rerum natura«, die »Georgica« des Vergil, die fast allen spätern didaktischen Dichtern zum Muster gedient haben, Ovids »Ars amandi« und des Horaz »Ars poetica«. Unter den neuern Völkern ward das L. besonders bei den Franzosen gepflegt von Raeine, Boileau, Dorat, Lacombe, Delille. Die namhaftesten englischen hierher gehörigen Dichter sind: Davies, Dyer, Akenside, Dryden, Pope, Young, Erasmus Darwin. Auch in Deutschland fand die didaktische Poesie schon früh in der sogen. Spruchdichtung eine rege Entwickelung. Hierher gehören die unter Spervogels Namen verbreiteten Gedichte, ferner »Winsbeke« und »Winsbekin«, vor allem Freidanks »Bescheidenheit« und der »Renner« des Hugo von Trimberg. Vollends um die Wende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrh. entfaltete sich die vorwiegend satirische Lehrdichtung (Seb. Brant, Geiler, Murner u.a.), um sich lange Zeit hindurch, namentlich auch zur Verfechtung der Tendenzen der Reformation, zu behaupten. In den Zeiten der schlesischen Schulen bildeten das L. und die didaktische Poesie überhaupt Opitz, Brockes u.a. nach antiken und französischen Mustern, späterhin Haller, Dusch, Gleim, Zachariä, Bodmer, Cronegk, Giseke, Lichtwer u.a. aus. Die bedeutendste Richtung erhielt die didaktische Poesie jedoch durch Lessing, Wieland, Tiedge, dessen »Urania« lange Zeit beim Publikum in hoher Gunst gestanden hat, Neubeck, dessen »Gesundbrunnen« A. W. Schlegel empfahl, und Schelling, der im L. die vollendete Ineinsbildung von Poesie und Philosophie und in seiner Naturphilosophie das wahre »Naturepos« sah. Bei den Klassikern und namentlich in der romantischen Schule nahm das Interesse an der didaktischen Dichtung wieder ab, doch einige Jahrzehnte später gelang es Leopold Schefer mit seinem »Laienbrevier«, Fr. v. Sallet mit seinem »Laienevangelium« und besonders Rückert mit seiner »Weisheit des Brahmanen« die allgemeine Aufmerksamkeit wieder zu fesseln.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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  • Lehrgedicht — oder didaktisches Gedicht ist ein solches, das über irgend einen Gegenstand des Wissens oder der Kunst in poetischer Sprache belehrt wie z. B. Virgil s Gedicht »Ueber den Landbau,« Neubeck s »Gesundbrunnen,« Horaz s »Kunstepistel an die Pisonen.« …   Damen Conversations Lexikon

  • Lehrgedicht — (Didaktisches Gedicht), Gedicht, bei welchem der eigentliche Zweck ist, über irgend eine Wahrheit zu belehren, aber nicht so wie der Prosaiker thut, sondern um sie zu versinnlichen u. als Gegenstand des Gefühls zu behandeln, um ihr mehr… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Lehrgedicht — Lehrgedicht, didaktisches Gedicht, Dichtungsart, in welcher der Zweck der Belehrung vorwaltet: wie die Theogonien und Kosmogonien der Alten, die Fabel, die Parabel und die Gnomen oder Spruchgedichte etc …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Lehrgedicht — Lehrgedicht, didaktisches Gedicht, die Darstellung wissenschaftlicher oder praktischer Sätze in poetischer Form. Diese Dichtungsart gelingt selten, nimmt auch immer lyrische oder epische Episoden zu Hilfe und zieht in der Regel durch diese am… …   Herders Conversations-Lexikon

  • Lehrgedicht — Ein Lehrgedicht ist die Darstellung eines Sachgegenstandes aus Kultur, Gesellschaft, Literatur oder Naturwissenschaft in hochpoetischer Form. Das gängige Versmaß der Lehrdichtung ist der stichische Hexameter, Lehrgedichte im elegischen Distichon …   Deutsch Wikipedia

  • Lehrgedicht: Weltentstehung, Bienenzucht, Sternenhimmel und Liebe —   Am Anfang der didaktischen Poesie standen in Griechenland die in Hexametern abgefassten Lehrgedichte Hesiods (um 700 v. Chr.). In seiner »Theogonie« schildert er die Entstehung der Götterwelt und die Abfolge der Göttergeschlechter bis hin zur… …   Universal-Lexikon

  • Lehrgedicht, das — Das Lehrgedicht, des es, plur. die e, ein Gedicht, dessen vornehmster Endzweck ist, zu lehren oder zu unterrichten …   Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart

  • Lehrgedicht — Lehr|ge|dicht 〈n. 11〉 Lehrdichtung in Gedichtform * * * Lehr|ge|dicht, das (Literaturwiss.): vgl. ↑ Lehrdichtung. * * * Lehr|ge|dicht, das (Literaturw.): vgl. ↑Lehrdichtung …   Universal-Lexikon

  • Lehrgedicht — Lehr|ge|dicht …   Die deutsche Rechtschreibung

  • Georgica — Bei den Georgica (Neutrum Plural: altgriechisch [Gedicht vom] Landbau) handelt es sich um ein Lehrgedicht in vier Büchern, das Publius Vergilius Maro (Vergil) zwischen 37 und 29 v. Chr. schrieb. Inhaltsverzeichnis 1 Inhalt und Interpretation 1.1… …   Deutsch Wikipedia

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