Humŏr

Humŏr

Humŏr ist ein subjektiver ästhetischer Begriff und tritt als solcher den Begriffen des Pathetischen, Satirischen und Elegischen zur Seite. Während das Schöne (im engern und eigentlichen Sinne des Wortes), das Erhabene, das Tragische und die meisten Formen des Komischen auf ästhetische Eigenschaften deuten, die an den Objekten haften und von jedem normalen Bewußtsein als solche gefühlt werden können, entsteht der H. immer nur durch das auffassende Subjekt und bildet keine Eigenschaft der ästhetischen Objekte; wenn er auch objektiviert werden kann (s. unten), so ist doch sein Wesen nur zu begreifen, wenn man diesen subjektiven Ausgangspunkt beachtet. Das Wort H. (lat. hūmor) bedeutete ursprünglich Feuchtigkeit und diente in der antiken Medizin zur Bezeichnung für die vier Hauptsäfte des animalischen Körpers, von deren Mischung und Beschaffenheit die Gemütsstimmung abhängig gedacht wurde. In der antiken und mittelalterlichen Kunstlehre ist von H. im jetzigen Sinne des Wortes noch nicht die Rede. Erst im 18. Jahrh. begann eine Entwickelung, die auf die jetzige Bedeutung des Wortes hinsteuerte: das Wort bezeichnete zunächst Laune, Stimmung, dann gute, fröhliche, ausgelassene Laune und Stimmung und gewann seinen tiefern jetzigen Sinn vor allem durch die Entwickelung der humoristischen Literatur in England und Deutschland. Noch Goethe gebraucht das Wort H. häufig als eine vox media für Stimmung im allgemeinen und spricht daher noch oft von üblem, schlechtem H. im Sinne von schlechter Stimmung. Große Humoristen gab es schon, bevor man über den Begriff des Humors ins klare gekommen war, vor allem gehört Cervantes hierher. Aber erst seit dem Auftreten einer Anzahl namhafter englischer und deutscher Romanschriftsteller, wie Sterne, Jean Paul, Fritz Reuter, Wilhelm Raabe, Gottfried Keller u. a., ist das Wesen der Sache deutlicher erkannt worden. Die alte Bedeutung von Laune, Stimmung, wirkt aber immer noch nach, und so spricht man etwa von bitterm, sarkastischem, pessimistischem H. u. dgl.: doch es sind dies Bezeichnungen, die zu dem modernen Begriff des Humors in Widerspruch stehen. Für diesen sind zwei Merkmale bezeichnend: erstens, daß der Auffassende den unzulänglichen Erscheinungen des Lebens, zu denen er Stellung nimmt, die erhabene Anschauung des weitblickenden Weltkenners gegenüberstellt, der die Dinge sub specie aeternitatis erblickt, sie in ihrer Kleinheit gegenüber den Urformen irdischen Geschehens hinstellt, sie aber doch mit diesen in unmittelbare Beziehung bringt; und zweitens, daß er durch einen solchen Ausblick auf das Ewige und die höhere Vernunft und Ordnung der Welt eine innere Überwindung und einen versöhnlichen Ausgleich dieser unzulänglichen Erscheinungen herbeiführt. Der reine H. ist daher immer mit einer im besten Sinne des Wortes optimistischen Anschauung verknüpft; freilich nicht mit einem Optimismus, der sich über die Mängel des Lebens hinwegtäuscht, sondern mit einem solchen, der sie überwindet. Daher unterscheidet sich der H. von der Satire: bei dieser, die sich auch nur auf die Willensregungen der Menschen, nicht wie der H zugleich auf ihre Schicksale erstreckt, wird das Unvollkommene und Verkehrte entweder mit richtendem Ernst oder in komischer Form gegeißelt, aber der Ausblick auf einen versöhnlichen Ausgleich fehlt. Durch die weitere Weltanschauung nähert sich der Humorist dem Erhabenen, aber dieses bildet doch nur den Hintergrund, von dem sich die Kleinheit menschlichen Tuns und Leidens abhebt; wenn es als bestimmende Hauptsache hervorträte, so würde das Erhabene das Verkehrte und Unzulängliche dieser Lebenserscheinungen e. drücken, und es würde jene versöhnliche Überwindung des Humors unmöglich werden.

Der H. vermag ein ungemein weites Lebensgebiet zu umfassen. Er erstreckt sich auf unsre eigne Person, auf solche Personen, mit denen wir durch die Bande der Sympathie und Lebensgewohnheit verknüpft sind, auf die soziale, politische und nationale Gemeinschaft, ja er braucht sogar bei den letzten metaphysischen Fragen dieses Lebens nicht Halt zu machen. Er erfaßt sowohl die Willens-als die Schicksals- und Zustandsgefühle der Menschen, und überall rückt er das Falsche zurecht, entwirrt den verworrenen Knäuel unsers Lebens und läßt uns in bittern Schicksalen selbst unter Tränen noch lächeln. M. m kann je nach den Gegenständen, auf die sich der H. erstreckt, den H. des Selbstgefühls, der Sympathiegefühle, den sozialen, politischen, nationalen etc. H. unterscheiden und innerhalb jedes dieser Geltungsgebiete wiederum den H. der Willens-, Schicksals- und Zustandsgefühle, wobei sich in den letztern, den Zustandsgefühlen, entweder vor allem eine Verdichtung von Willenshandlungen oder vor allem eine solche von Schicksalswendungen, nicht selten aber auch eine Mischung beider geltend macht. Der H. des Selbstgefühls, der sich in der Überwindung unsrer eignen Schwachen und Leiden bewährt, zeichnet sich zumeist durch herbe Fröhlichkeit und gesunden Lebensmut aus; er besteht in einem beherzten Aufrütteln unsrer Kräfte. Ein besonders glücklicher Vertreter dieser Form des Humors ist Gustav Freytag; Gestalten wie Konrad Bolz, Fink, Viktor König u. v. a. gehören hierher. Der H. der Sympathiegefühle macht sich, so weit er sich auf die Willensregungen andrer erstreckt, in ähnlicher Weise geltend; erfaßt er jedoch deren Leiden, so zeichnet er sich aus durch Weichheit des Mitgefühls und nimmt einen andern Grundton an. Als namhafter Vertreter dieser Form des Humors erscheint Jean Paul. Der soziale H. findet in Cervantes, der die innere Unhaltbarkeit einer ganzen Kulturrichtung darstellt, bedeutendsten Ausdruck; den politischen H. verkörpern Aristophanes u. a.

Die subjektive Auffassung des Humors kann aber objektiviert werden; es ist möglich, daß der Auffassende nicht unmittelbar seine eigne Anschauung kundgibt, sondern sie in seiner künstlerischen oder poetischen Darstellung in die Objekte selbst hineinverlegt; er stellt dem Vergänglichen und Unzulänglichen das Ewige und Wahre gegenüber und rückt hierdurch jenes in humoristische Beleuchtung. Auf diese Weise treten die Gebilde des Humors denen des objektiv Komischen unmittelbar an die Seite. Sie unterscheiden sich aber von diesen durch die Größe und Weite der Auffassung, die in ihnen zur Geltung kommt. Das objektiv Komische liegt dort vor, wo eine mit falschem und unberechtigtem Anspruch auftretende Erscheinung durch den gesunden Menschenverstand und die allgemeine Anschauung ohne weiteres als widersinnig erkannt wird. Der Widerspruch des Komischen liegt offen zutage. Der Gegensatz dagegen, den der H. aufdeckt, wird nur durch eine höhere und weitere Auffassungsweise ins Licht gesetzt. Der objektivierte H. ist also eine höhere Fortsetzung des Komischen, die nur der größere und reichere Geist zu schaffen und herauszuarbeiten vermag. Aber der H. ist nicht immer komisch, und er erzeugt oft nur ein mildes Lächeln, während das Komische, wo es normal und glücklich ausgebildet ist, ein kräftiges Lachen bewirkt. Die Widersprüche des Lebens, die uns der H. verdeutlicht, sind nicht immer, wie die des Komischen, überraschend und verblüffend und erwecken daher nicht jene charakteristische Spannung des Gefühls, die beim Komischen hervortritt und sich in einer unmittelbar darauffolgenden Lösung gewaltsam Luft macht. Der H. ist häufig dem Tragischen gegenübergestellt, und er verträgt wegen der Größe seiner Auffassung recht wohl einen solchen Vergleich. Aber der Gegenstand tragischer Vernichtung ist das Schöne und Erhabene der Willens- und Schicksalsgefühle, der Gegenstand humoristischer Zersetzung dagegen geradezu das Unzulängliche, das Häßliche und innerlich Gehemmte; und während die tragische Gegenmacht zerstörend wirkt, besitzt der H. umgekehrt die Fähigkeit zu heilen und zu lindern. Auch tritt, wie wir gesehen haben, das Erhabene, das im Tragischen die erste Rolle spielt, beim H. nicht aus dem Hintergrund hervor. Der H. ist der Pflege und Ausbildung des Schönen und Erhabenen im ganzen nicht günstig: indem er darauf hinweist, daß alles irdische Wollen Stückwerk ist, und daß alle Bitternisse des Schicksals doch ertragen werden können, ermangelt er der Kräfte, die den Willen anspornen und zu höherer Betätigung entflammen. Aus diesem Grund ist es verständlich, daß ein so ganz und gar auf Aktivität gestellter Genius wie Goethe dem H. nur mit geteilter Sympathie gegenüberstand. Auch sind eine größere Anzahl humoristischer Schriften, wie namentlich diejenigen Jean Pauls, durch auffallende Formlosigkeit hinter dem Ideal künstlerischen Stils zurückgeblieben; auch diese Erscheinung steht im innern Zusammenhang mit der Tatsache, daß der H. nicht sowohl das Schöne darstellt, als vielmehr das von dem Schönen Entfremdete versöhnlich zu überwinden lehrt. Die mangelhafte Pflege des Schönen teilt sich leicht auch mittelbar der Form poetischer Kunstwerke mit. Besonders aus giebig behandeln den H. Jean Paulin der »Vorschule der Ästhetik« und Vischer in Band 1 seiner »Ästhetik«. Vgl. außerdem Lazarus, Leben der Seele, Bd. 1 (3. Aufl., Berl. 1884); Bahnsen, Das Tragische als Weltgesetz und der H. als ästhetische Gestalt des Metaphysischen (Lauenb. 1887); Th. Lipps, Komik und H. (Hamb. u. Leipz. 1898); Elster, Prinzipien der Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 341 ff. (Halle 1897).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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