- Belgĭen
Belgĭen (hierzu Karte »Belgien«), das kleinste, aber am dichtesten bevölkerte der europäischen (außerdeutschen) Königreiche, liegt zwischen 49°30´-51°30´ nördl. Br. und zwischen 2°36´-6°4´ östl. L., im N. von den Niederlanden, im O. vom niederländischen Limburg, von der preußischen Rheinprovinz und von Luxemburg, im S. von Frankreich und im W. von der Nordsee begrenzt. Es umfaßt beinahe sämtliche ehemals österreichische Niederlande (die Grafschaften Flandern und Hennegau, das Herzogtum Brabant, das Marquisat Antwerpen, die Herrschaft Mecheln, die Grafschaft Namur sowie teilweise die Herzogtümer Luxemburg und Limburg), ferner das früher zu Deutschland gehörige Bistum Lüttich und die 1815 von Frankreich abgetrennten Kantone Mariembourg, Philippeville, Chimay, Quiévrain nebst dem Herzogtum Bouillon.
Bodengestaltung.
Der Bodenbeschaffenheit nach ist B. nördlich und nordwestlich der Maas und Sambre ein ebenes Land; der östlich der Maas belegene Teil besteht aus einer Reihe von schluchtenreichen Plateaus, die man unter dem Namen Ardennen (s. d.) zusammenfaßt; an der preußischen Grenze tritt das Hohe Venn in die Provinz Lüttich über. Die bedeutendsten Erhebungen zeigen die Provinzen Lüttich, Luxemburg, Namur und Hennegau. Die größten Höhen sind: Baraque Michel an der preußischen Grenze (Provinz Lüttich) 675 m, Baraque de Fraiture bei Houffalize (Provinz Luxemburg) 642 m, die Tailles (ebenda) 600 m, Odeigne 505 m, Malempré 487 m etc. Die mittlere Höhe von B. beträgt 163,36 m. Die unmittelbar von den Gewässern berührten, durch Dämme vor Überschwemumngen geschützten Strecken, Polders genannt, nehmen zusammen einen Flächenraum vun 115,000 Hektar ein. Bemerkenswert sind die durch besondere Namen unterschiedenen natürlichen Landschaften hinsichtlich der Bodenerhebung; so Flandern, begrenzt durch die untere Schelde und die Dender, gegen das Meer hin von Dünen und gegen Zeeland durch Polders umsäumt; das Land Waes, zwischen der Schelde unterhalb Gent und der niederländischen Grenze; die Campine (Kempenland), von der untern Schelde, der Rupel, Demer und der Maas begrenzt, den Norden der Provinzen Antwerpen und Limburg umfassend; Brabant zwischen der Rupel, Demer, Geete und Dender. Der nordöstliche Teil von Brabant heißt das Hageland, der südliche Wallonifch-Brabant. Der Hennegau wird durch Flandern, Brabant, die Orneau und Sambre begrenzt; Marlagne heißt der nordöstlichste Teil des Landstriches zwischen Sambre und Maas, der südliche Fagne. Zwischen der Maas von Dinant bis Lüttich und der Ourthe von Lüttich bis Hamoir liegt die Landschaft Condroz, deren südwestlicher Teil den besondern Namen Famenne führt. Ardenne ist durch die Vesdre, durch Condroz und die Semoy begrenzt. Die feuchte Nordebene im N. der Ardennen heißt Hautes Fagnes (Hohes Venn). Südlich von den Ardennen liegt die Lorraine.
Die reiche Bewässerung des Landes geschieht, mit Ausnahme der unterhalb Nieuport mündenden Afer mit der Yperlée, durch die Systeme der Schelde und Maas, welche beide Flüsse das Land von Frankreich aus schiffbar betreten, aber beide im Königreich der Niederlande münden. Die Schelde durchfließt den westlichen Teil Belgiens von SW. nach NO., nimmt bei Gent die aus Frankreich kommende Lys, bei Dendermonde die Dender und bei Rupelmonde die (aus der Vereinigung der Dyle, Großen und Kleinen Nethe entstehende) Rupel auf und tritt unterhalb Antwerpen in das niederländische Gebiet ein. Ihr durchgängig schiffbarer Lauf in B. beträgt 233 km. Die Maas durchfließt auf 183 km, ebenfalls ganz schiffbar, der Schelde parallel laufend, den östlichen Teil Belgiens, nimmt bei Namur die gleichfalls aus Frankreich kommende Sambre, bei Lüttich die aus Luxemburg kommende Ourthe auf und bildet dann auf 51 km die Grenze gegen die Niederlande. Diese Flüsse sind als stark benutzte Triebkraft von Industriewerken und zur Beförderung des Verkehrs von größter Wichtigkeit, um so mehr, als sie durch zahlreiche Kanäle teils unter sich verbunden, teils in ihrem Lauf reguliert werden (s. unten, S. 597). Seen hat B. nicht, dagegen sind Weiher in großer Menge vorhanden. Sümpfe gibt es viel, z. B. bei Furnes, besonders aber in der sogen. Campine, am Saum des Plateaus, welches das Gebiet der Maas von dem der Schelde trennt.
Geologisches, Klima, Pflanzenwelt.
Die ältesten Bildungen (in den Ardennen und im Hohen Venn) sind die westlichen Ausläufer des rheinischen Schiefergebirges und bestehen, abgesehen von kristallinischen Schiefern, die nur im Hohen Venn, und von spärlichen Vorkommnissen von Silur, die in den Ardennen nachgewiesen sind, wesentlich aus unterdevonischen Quarziten, Grauwacken, Sandsteinen und Tonschiefern, mitteldevonischen Kalksteinen (Eiseler Kalk) und oberdevonischen, Goniatiten und Klymenien führenden Schichten. Am Nordabfall der Ardennen und des Hohen Venn tritt längs der Sambre und der Maas in einem schmalen Streifen die Steinkohlenformation zutage. Ihre untere Abteilung, der Kohlenkalk, liegt in steiler Schichtenstellung gleichförmig auf dem Devon und wird seinerseits von der produktiven Steinkohlenformation gleichförmig überlagert, die zwei größere Becken, das von Lüttich (oder von der Maas) und das von Mons (oder von der Sambre) bildet. Die spätern Sedimente ruhen, ähnlich wie in Westfalen, übergreifend auf den steil gestellten Schichten des Karbons. Trias- und Jurasedimente finden sich in geringer Verbreitung nur im SO. von B. Das übrige Land, einschließlich der Ardennen, war von Beginn der Triaszeit bis zur untern Kreide Festland. Im Kreidegebiet von Maastricht setzen lockere, z. T. Glaukonit führende Sande, Ton, Mergel und an Bryozoen reiche Kreidetuffe die Schichten zusammen. Sehr verbreitet sind nördlich von der Sambre und der Maas auch die tertiären Ablagerungen; eocäne Bildungen treten namentlich im Hennegau, in Flandern und Brabant (zwischen Brügge, Löwen und Mons) zutage, oligocäne bei Tongern und Hasselt und nördlich von der Linie Löwen-Brügge, miocäne zwischen Antwerpen und Diest, allerdings vielfach von diluvialen und alluvialen Bildungen bedeckt, die sich in ihrer Zusammensetzung an die der Niederlande und Norddeutschlands eng anschließen.
Von nutzbaren Mineralien enthält B. in großer Menge Steinkohle und Eisenerze in der Steinkohlenformation bei Mons und Lüttich, dann Blei, Kupfer- und Zinkerze im Kohlenkalk und Devon zwischen Aachen und Lüttich, zumal bei Welkenraedt, Marmor, z. T. von schön schwarzer Farbe, im Kohlenkalk, besonders bei Visé, Wetzschiefer in den ältern Schiefern bei Vielsalm und Ottrez, ferner Kalksteine, Schiefer und Bausteine aller Art, auch Töpfertone, letztere besonders in den jüngern tertiären Ablagerungen. Auch an Mineralquellen ist B., namentlich im Gebiete der Maas, sehrreich. Außer den Eisensäuerlingen von Spa und den warmen Quellen von Chaudfontaine gibt es eisenhaltige Quellen bei Stavelot, Huy, Tongern, Namur etc. und Schwefelquellen bei Florée, Lüttich, Ougrée etc.
Das Klima steht unter dem Einfluß des Atlantischen Ozeans, daher Abschwächung der Wärmeschwankungen, Milderung der Winterkälte und der Sommerhitze, große Feuchtigkeit und Bewölkung, verhältnismäßig reichliche und häufige Niederschläge und stürmische Luftbewegung, insbes. im Winterhalbjahr. Nach SO. hin wird das Klima mehr kontinental. Die rasche Abnahme des Luftdruckes nach NW. hin bewirkt Vorwalten der südwestlichen Winde, die während der kältesten Jahreszeit, in der die Luftdruckunterschiede am beträchtlichsten sind, am stärksten auftreten. B. bildet den Übergang von den Herbst-zu den Sommerregen, hat aber vorwiegend noch Herbstregen, wobei das Maximum auf August und Oktober fällt. Die Jahressumme der Niederschläge beträgt zu Brüssel durchschnittlich 71 cm. Die mittlern Jahresextreme der Temperatur betragen zu Brüssel 31° und -11° (absolut 35° und -20´), Jahresmittel 9,9°. Auf das Jahr entfallen zu Brüssel durchschnittlich ca. 17 Gewittertage (Regentage 195).
Hinsichtlich der Pflanzenwelt schließt sich B. zunächst an das nördliche Frankreich an. Auf eine stark entwickelte Litoralzone mit Halophyten folgt die Marschzone, in der Wiesen und Felder überwiegen, aber Wälder und Waldpflanzen fehlen. Die dritte Zone entspricht der Geest Nordwestdeutschlands und enthält ausgedehnte Heideflächen, aber auch Wälder von Fichten, Buchen und Eichen. An diese Zonen, die zusammen die Tieflandsregion bilden, schließen sich im höhern Niveau die Regionen der Ton-, Kalk- und Schieferpflanzen an, unter denen die Elemente der mittel- und westeuropäischen Bergwaldflora überwiegen. Die Edelkastanie gilt (doch nicht unbestritten) als einheimisch; Kiefern, Fichten und Tannen sind nach Crépin angepflanzt und einheimisch nur Wacholder und Eibe.
Flächeninhalt und Bevölkerung.
Das Gesamtareal beträgt 29,456 qkm (534, 9 QM.), und die Gesamtbevölkerung belief sich Ende 1900, nach der letzten Volkszählung. auf 6,693,810 Seelen. Eingeteilt ist das Land in 9 Provinzen mit 41 Arrondissements, auf die sich Flächeninhalt und Bevölkerung folgendermaßen verteilen:
Zunahme seit 1846: 2,356,614 Seelen (54,32 Proz.). Die Einwanderung blieb in der Periode 1841–60 erheblich hinter der Auswanderung zurück, in den beiden folgenden Jahrzehnten war erstere etwas stärker, seit 1880 weichen beide ziemlich voneinander ab (1900: 29,231 ein- und 25,064 ausgewandert). Hinsichtlich der Dichtigkeit der Bevölkerung steht B. unter den Staaten Europas nur hinter Sachsen zurück. Von der Bevölkerung waren 1900: 3,324,989 männlichen und 3,368,821 weiblichen Geschlechts, so daß auf 1000 Männer 1013 Frauen entfielen (1880 nur 1000,1). Nach dem Zivilstand unterschied man 1890 (vorletzte Volkszählung) auf 1000 Einwohner des betreffenden Geschlechts:
Der jährliche Überschuß der Geburten über die Todesfälle ist sehr erheblich; es entfällt 1890 eine Geburt auf 34 Personen, aber ein Todesfall auf 50. Die mittlere Lebensdauer beträgt 40–41 Jahre. Lebendig geboren wurden 1900: 193,789 Kinder, darunter entfielen auf 100 Mädchen 105 Knaben. 7,5 Proz. waren unehelich. Totgeboren waren 9001 Kinder. Eheschließungen fanden 57,711, Ehescheidungen 609 statt. Von den 129,046 Gestorbenen waren 52,3 Proz. männlichen, 47,7 Proz. weiblichen Geschlechts.
Die Bevölkerung Belgiens ist ein Mischvolk deutscher und keltischer Abkunft, in dem die Stämme der Flämen (Flamänder) und Wallonen neben Deutschen, Engländern, Franzosen etc. hervortreten. 1890 zählte man neben 5,897,883 Belgiern 161,438 Fremde, nämlich 56,306 Niederländer, 47,338 Deutsche, 45,430 Franzosen, 4523 Engländer und 7841 von andrer Nationalität. Von der 1890 ermittelten Bevölkerung sprachen flämisch 45,2 Proz., französisch 40,9, beide Sprachen 11,5 Proz.; die übrigen sprachen entweder nur deutsch (0,54 Proz.) oder außerdem noch französisch oder flämisch. Unter den einzelnen Provinzen sind überwiegend flämisch Ostflandern (87 Proz.) und Antwerpen (84,6 Proz.), Limburg (83 Proz.) und Westflandern (81,8 Proz.); in Brabant überwiegt das Flämische das Französische bedeutend, während in den übrigen Provinzen, namentlich in Namur, wiederum die französische Sprache herrscht. Als Umgangssprache der höhern Stände hat das Französische über die verschiedenen Dialekte den Sieg davongetragen, obschon ihm der Sieg in der neuesten Zeit durch die Bestrebungen der Flamen (s. d.) wieder streitig gemacht wird. Das flämische Sprachgebiet umfaßt den fruchtbarern Teil des Königreichs. Die wallonischen Städte werden vielfach von deutscher Bevölkerung durchflochten. Das belgische Wallonenland bildet ungefähr ein gleichseitiges Dreieck, dessen Grundlinie sich an Frankreich lehnt, von Longwy bis Mons, und dessen beide Schenkel, die über Lüttich zusammentreffen, von deutschem Gebiet umschlossen sind. Die Sprachgrenze ist fast überall ziemlich scharf gezeichnet. Das Außere des Flämen wieder Grundton seines Innern zeugen für germanische Abkunft. Er ist schweigsam, phlegmatisch, von muskulöser Fülle, Willensfestigkeit und starrer, fanatischer Anhänglichkeit an seine Überzeugung und seinen Glauben, mißtrauisch und von grobem, zurückhaltendem Wesen. Die Wallonen (s. d.) dagegen sind ein rühriger, heiterer Menschenschlag von aufgewecktem Sinn und französischer Heftigkeit, wie sie auch Sitte und Sprache der westlichen Nachbarn teilen. Sie sind der härtesten Arbeit fähig. Der Konfession nach ist die Bevölkerung Belgiens fast ausschließlich katholisch, da die Zahl der Protestanten nur auf etwa 20–30,000, die der Juden auf 3000 geschätzt wird. Das Land ist in sechs Diözesen geteilt: das Erzbistum Mecheln (mit den beiden Provinzen Antwerpen und Brabant), die Bistümer Brügge (mit Westflandern), Gent (mit Ostflandern), Tournai (mit Hennegau), Lüttich (mit Lüttich und Limburg) und Namur (mit den Provinzen Luxemburg und Namur). Zu den geistlichen Orden gehörten (Ende 1890) 4775 Mönche in 218 Klöstern und 25,323 Nonnen in 1425 Klöstern oder geistlichen Gesellschaften, die sich der Krankenpflege, dem Unterricht oder dem beschaulichen Leben und dem heiligen Dienst widmen. Außer dem katholischen sind der protestantische, anglikanische und israelitische Kultus in B. anerkannt. Protestantische Gemeinden bestehen in den meisten größern Städten. Die Juden haben eine Zentralsynagoge in Brüssel, andre zu Antwerpen, Gent, Lüttich und Arlon.
Bildungsanstalten.
Die Einrichtungen des öffentlichen Unterrichts in B., besonders des elementaren, haben im 19. Jahrh. mehrere Wandlungen erlebt. Während durch das Gesetz vom 23. Sept. 1842 dem Klerus ein maßgebender Einfluß auf die Volksschule eingeräumt war, wurde dieselbe durch das Gesetz vom 1. Juli 1879 ausschließlich den weltlichen Behörden unterstellt. Durch das Gesetz vom 15. Sept. 1895 hat die Kirche wieder den frühern Einfluß auf die Schule erworben. Die Einrichtung und Erhaltung öffentlicher Volksschulen ist von dem Belieben der Gemeinden abhängig gemacht. Der Gemeinderat kann Privatschulen (écoles adoptées) an die Stelle der öffentlichen setzen und aus Gemeindemitteln unterstützen, d. h. den kirchlichen Genossenschaften den Volksunterricht ganz überlassen, falls nicht 20 Familienväter, die schulpflichtige Kinder haben, dagegen Einspruch erheben und sich der ständige Provinzialausschuß damit einverstanden erklärt. Die öffentlichen Lehrer können von den Gemeinden abgesetzt und auf Wartegeld (mindestens 750 Frank) gesetzt werden. Die Anstellung der Lehrer erfolgt auf Grund eines Diploms, das durch ein Examen erworben ist. Dem Religionsunterricht muß in der Schule die erste Stelle eingeräumt werden; wenn sich die Gemeinde weigert, diesen Unterricht in den Stundenplan aufzunehmen und durch Diener der Kirche erteilen zu lassen, so kann die Regierung auf den Wunsch von wenigstens 20 Familienvätern die Errichtung besonderer Schulen auf Kosten der betreffenden Gemeinde verfügen. Die oberste Aussicht führt der unter Vorsitz des Ministers des Innern tagende und aus 9–11 Mitgliedern bestehende Volksbildungsrat (conseil de perfectionnement). Außerdem gibt es 18 Ober- und 81 Kantonschulinspektoren. Ende 1900 dienten folgende Anstalten dem Elementarunterricht: 4424 écoles communales mit 480,059 Schülern und Schülerinnen, 2390 écoles adoptées mit 177,582 Schülern und Schülerinnen. Außerdem gab es an Schulen für Erwachsene (écoles d'adultes) 1860 communales und 985 adoptées, zusammen mit 130,816 Lernenden. Unter dem Lehrerpersonal der Kommunalschulen gehörten 254 Lehrerinnen, unter dem der écoles adoptées 493 Lehrer und 3693 Lehrerinnen dem geistlichen Stand an. Bei der Volkszählung von 1890 konnten nach Abzug der Kinder unter acht Jahren nur 74,96 Proz. der Bevölkerung lesen und schreiben. Die Ausbildung der Lehrer und Lehrerinnen für die Volksschule geschieht für jene auf 7 Staatsseminaren (écoles normales d'Etat) und in 12 Privatanstalten (écoles normales agréées), darunter eine kommunale; für Lehrerinnen gibt es 6 Staatsseminare, ferner 28 Privatanstalten. Die Staatsanstalten waren 1899/1900 von 423 männlichen und 456 weiblichen, die Privatanstalten hingegen von 1299 männlichen und 2100 weiblichen Zöglingen besucht. Dieser Unterschied ist der Begünstigung letzterer Anstalten seitens der Regierung zuzuschreiben. Während sie z. B. jährlich die Zahl der Zöglinge festsetzt, die zu den Staatsseminaren zugelassen werden sollen, sind den (klerikalen) Privatanstalten in dieser Hinsicht keinerlei Schranken auferlegt. Das höhere Bildungswesen steht unter einem Bildungsrat von 9–10 Mitgliedern, einem Generalinspektor, vier Inspektoren und drei Fachinspektoren. Es bestanden 1900 an Instituten für den Sekundärunterricht: 20 königliche Athenäen, 7 kommunale und 8 patronierte Collèges (d. h. Privatanstalten, die mit Ermächtigung der Regierung von der betreffenden Gemeindeverwaltung durch Zuschüsse oder unentgeltliche Gewährung der notwendigen Räumlichkeiten unterstützt werden), 78 staatliche und 10 kommunale und patronierte Mittelschulen für Knaben, 34 höhere Staais- und 6 kommunale Mädchenschulen, mit 23,988 Schülern und 7345 Schülerinnen. Die Vorbildung für das höhere Lehramt geschieht in den Sections normales zu Nivelles und Gent; für Lehrerinnen bestehen ähnliche Anstalten in Lüttich und Brüssel. Von den vier Universitäten zu Lüttich, Löwen (die alte wurde 1835 aufgehoben und die zu Mecheln errichtete hierher verlegt), Gent und Brüssel (1834 gestiftet) sind die zu Gent und Lüttich Staatsuniversitäten, die andern werden als »freie« Universitäten bezeichnet (Brüssel »liberal«, Löwen »katholisch«). Die vier Fakultäten sind: Philosophie und Literatur, Wissenschaften, Rechtswissenschaft, Medizin. Ausnahmsweise besteht an der Universität zu Löwen noch eine Fakultät der Theologie. Mit den Universitäten sind Fachschulen für Maschinenbau, Chemie, Bergbau, Elektrotechnik etc. verbunden. Sie wurden 1900/1901 insgesamt von 5344 Studierenden besucht. Außerdem sind noch vorhanden: eine Tierarzneischule (Brüssel), ein Institut agricole (Gembloux) und eine Ackerbauschule (Huy), drei Gartenbauschulen, eine Provinzial-Bergschule zu Mons, eine höhere Handelsschule zu Antwerpen, eine Kriegs- und Militärschule (Ixelles), eine Schule für Soldatensöhne zu Lierre, eine Reitschule zu Ypern, Schiffahrtsschulen zu Ostende, Antwerpen und Nieuport, Industrieschulen (1899/1900: 61). Brüssel hat eine königliche Akademie der Wissenschaften in drei Abteilungen: für Wissenschaft, für Literatur und für Kunst. Andre wissenschaftliche Anstalten bestehen in großer Zahl namentlich zu Brüssel (s. d.). Für Kunst und Literatur gibt es Anstalten in allen Provinzen des Landes; die hauptsächlichsten sind: die königlichen Akademien der schönen Künste zu Antwerpen, Brüssel und Lüttich; die königliche flämische Akademie in Gent (seit 1886) etc.
Bodenprodukte, Landwirtschaft etc.
Die Bodenkultur und Landwirtschaft haben sich in B. zu einer hohen Stufe der Vollkommenheit erhoben. Jede Provinz besitzt einen Bund (Société provinciale d'agriculture) der in derselben bestehenden landwirtschaftlichen Vereine (Comices agricoles), wovon es 1899: 155 gab. Jeder dieser Provinzialvereine bezeichnet zwei Bevollmächtigte, die mit neun vom König ernannten Mitgliedern den obersten Landwirtschaftsrat bilden, der berufen ist, alle auf den Fortschritt des heimischen Ackerbaues bezüglichen Mitkel und die ihm von der Regierung oder den provinzialen Gesellschaften unterbreiteten Gegenstände zu begutachten. Fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Belgiens (1895: 18,79 Proz.) ist mit dem Ackerbau beschäftigt, und zwar 43 Proz. Frauen und 57 Proz. Männer. Die dem Ackerbau gewidmete Bodenfläche ist von 2,704,956 Hektar (1880) auf 2,607,514 Hektar (1895) gesunken. 1900 waren bestellt mit:
Weinberge waren 1895: 70 Hektar, Gemüsegärten 41,868, Obstgärten etc. 3025 Hektar. Weizen wurde besonders in den Provinzen Hennegau und Brabant, Roggen in Brabant und Ostflandern, Hafer in Luxemburg. Namur und Hennegau, Spelz in Namur, Gerste in Brabant und Hennegau, Buchweizen in Ostflandern und Limburg, Runkelrüben in Hennegau, Lüttich und Brabant, Kartoffeln in Brabant, Ostflandern und Antwerpen angebaut. Der Ertrag einer Mittelernte wurde im Zeitraum 1871–80 auf 1412, 2 Mill. Fr. (darunter 541,8 Mill. Fr. von Getreidearten) veranschlagt. An Haustieren gab es 1895: 271,527 Pferde (verhältnismäßig die meisten in Hennegau und Brabant, im ganzen 4 auf 100 Einw.), für deren Veredelung durch Gestüte (Staatsgestüt zu Tervueren) viel getan wird; 1,420,976 Stück Hornvieh (die meisten in Ostflandern), im ganzen 22 Stück auf je 100 Einw.; 235,722 Schafe (die meisten in Luxemburg); 1,163,133 Schweine (die meisten in Ostflandern). Die Bienenzucht blüht in der Campine. Groß ist der Reichtum an See- und Flußfischen. Den Seefischfang betrieben 1900: 378 Fischerboote von 9069 Ton. mit einer Besatzung von 1916 Mann. Der Ertrag ist sehr wechselnd; so betrug er 1900 an Kabeljau 57 T. (gegen 3143 in 1856 und 1000 in 1881), während der große Heringsfang seit 1864 ganz aufgehört hat. Die Kleinfischerei auf Hering brachte 1900: 86,700 Fr., der Fang andrer Seefische 5,571,411 Fr. an Wert. Die Waldungen, die eine Flächevon 489,423 Hektar (16,6 Proz. des Flächeninhalts) bedecken, sind in den südlichen Provinzen (Luxemburg, Namur und Lüttich) am zahlreichsten, am wenigsten in den Provinzen West- und Ostflandern vertreten. An wilden Tieren finden sich hier und da noch Wölfe in den Eichenwäldern der Ardennen.
Bergbau und Hüttenwesen.
Obenan unter den mineralischen Schätzen des Landes steht die Steinkohle, deren weites Lager sich von W. nach O. erstreckt. Es teilt sich in zwei Hauptbassins, die durch den Bach Samson, östlich von Namur, getrennt werden. Das beträchtlichere westliche zieht über Namur in das Sambretal und hat in B. eine Ausdehnung von 900 qkm (16,4 QM.). Das östliche Becken folgt dem Tal der Maas bis über Lüttich hinaus und hat eine Oberfläche von 540 qkm (10 QM.); das Ganze beträgt fast ein Zwanzigstel des Flächenraums. 1900 zählte man 219 Kohlengruben (davon 118 im Betrieb) mit 132,749 Arbeitern, davon die meisten in Hennegau und Lüttich, die eine Ausdehnung von 140,286 Hektar hatten und an Kohlen 23,462,817 Ton. im Werte von 408,5 Mill. Fr. lieferten. Die Produktion von Mineralien ist zurückgegangen und die Arbeiterzahl seit 1865 von 11,813 auf (1900) 1437 gesunken. Der Ertrag war:
Hochöfen waren 1900: 38 vorhanden, die 1,018,561 Ton. Roheisen im Werte von 91,5 Mill. Fr. herstellten; an Eisenwerken gab es 1900; 47 mit 322 Puddel-, 152 Glüh- und 193 andern Ofen mit einer Produktion von 358,163 T. Fertigeisen im Werte von 70 Mill. Fr. Außerdem bestanden 1900:
Die Zahl der in sämtlichen Minen beschäftigten Arbeiter betrug 1896: 121,993. Marmor ist an manchen Orten im Überfluß vorhanden; der gesuchteste ist der von Dinant und Umgegend und von Basècles. Bedeutende Schieferbrüche befinden sich in den Provinzen Namur und Luxemburg, Steinbrüche in Hennegau, Lüttich und Namur. Endlich liefert der Boden Belgiens auch Fayenceerde, Töpferton, Kalk, vorzügliche Flintensteine und seine Wetzsteine (die besten Europas in Lüttich und Luxemburg, besonders bei Vielsalm), Magnesia (Lüttich), Alaun und Schwefel (Namur und Lüttich), Torf etc. Im ganzen besaß B. 1900: 1579 Steinbrüche mit 37,281 Arbeitern, die einen Wert von 56,3 Mill. Fr. erzeugten.
Industrie.
Von höchster Bedeutung ist in B. die Industrie. In welchem Maß die Großindustrie in den letzten Jahrzehnten zugenommen, läßt sich aus der Vermehrung der für dieselbe arbeitenden Dampfmaschinen ersehen. Während man 1860 in ganz B. 5740 Dampfkessel und 4997 Motoren mit 161,809 Pferdekräften zählte, belief sich 1900 die Zahl der Dampfkessel auf 22,003, die der Motoren auf 22,991 mit 1,408,941 Pferdekräften. Zu erwähnen ist außerdem die Nägelfabrikation, die bei Charleroi, namentlich in Fontaine l'Evêque, betrieben wird. Seit 1844 ist die Erzeugung von Draht eingeführt; sie blüht vornehmlich in Angleur, Fontaine-l'Evêque, Grivegnée etc. Alter ist die Anfertigung von Blech, die sich an der Ourthe und dem Hoyoux vorfindet. Für Gegenstände aus schmiedbarem Gußeisen ist Herstal bei Lüttich und Umgegend berühmt, für Zink die Gesellschaft »Vieille Montagne« in der Provinz Lüttich. Weltbekannt ist die Lütticher Waffenfabrikation, die 1789 entstand und 1900: 2,319,689 Stück Waffen lieferte. Unter den Maschinenbauanstalten steht das großartige Etablissement der Gesellschaft »Cockerill« (s. d.) in Seraing obenan, außerdem gibt es bedeutende Fabriken in Gent, Lüttich, Brüssel und in der Umgegend Charlerois. Eisenbahnbetriebsmittel stammen namentlich aus Lüttich, Seraing, Mecheln, Nivelles, Tubize, Couillet und La Louvière. Von einschlägigen Staatsanstalten sind zu nennen: die königliche Kanonengießerei und die Manufacture d'armes (für Kriegswaffen) in Lüttich und das Arsenal de construction in Antwerpen, die dem Kriegsministerium unterstellt sind. Vorzügliche Gold- und Silberwaren liefern Brüssel, Lüttich und Antwerpen. Die Steingut- und Fayencefabrikation ist besonders im Hennegau (La Louvière, St.-Ghislain und Wasmuel) heimisch. Eine Spezialität bildet die Fabrikation von Tonpfeifen in den Provinzen Lüttich und Hennegau. Unerreicht ist B. in der Erzeugung von Tafelglas und Gußspiegeln. Die Anstalten zur Anfertigung von Fensterglas befinden sich in der Provinz Hennegau (besonders im Arrond. Charleroi). Spiegelglas wird vorwiegend in den Provinzen Hennegau (Aiseau, Courcelles, Roux) und Namur (Auvelais, Floresse) erzeugt. Sämtliche (52) Glashütten des Landes lieferten 1900 Produkte im Werte von 65,9 Mill. Fr. Chemische Fabriken befinden sich namentlich in den Provinzen Namur und Hennegau, decken aber den Bedarf des Landes bei weitem nicht; Seife und Lichte werden in Antwerpen und Brüssel in großen Mengen fabriziert, Möbel in Ath, Mecheln, Brüssel, Strohhüte in der Provinz Lüttich. Die Papierindustrie hat ihren Hauptsitz in der Provinz Brabant; Tapeten werden besonders in Brüssel, Lüttich und Tongern hergestellt. Bedeutend sind die Gerbereien in Stavelot, Lüttich, Tournai, Soignies, Brüssel etc. Die Wollindustrie blüht besonders in Verviers und Umgegend; sie verarbeitet jährlich mehr als 60 Mill. kg Rohwolle. In der Garnspinnerei sind gegen 675,000 Spindeln im Betrieb. Wollenzeuge liefern besonders Verviers, Dison, Dinant, Leeuw-St.-Pierre und Hodimont; Halbwollengewebe Renaix, Braine-l'Alleud und St.-Nicolas; Wollendecken Lüttich, Mecheln, Hérenthals; Teppiche Hamme, Thourout, Harseaux etc. Die Baumwollindustrie, 1798 von Liévin Bauwens in Gent eingeführt, hat ihren Hauptsitz in Gent. Sie beschäftigte 1896: 15,709 Menschen und verarbeitet jährlich ungefähr 27 Mill. kg Rohstoff mittels ungefähr 1 Mill. Spindeln, produziert 24 Mill. kg Wolle in Fäden im Werte von 30–40 Mill. Fr. und fabriziert für 100 Mill. Fr. Gewebe von reiner und gemischter Baumwolle. Berühmt sind die belgischen, namentlich in Renaix, Mouscron und St.-Nicolas erzeugten Hosenstoffe, ein wichtiger Ausfuhrartikel. Der älteste Industriezweig ist die Leinenindustrie. Die beste Arbeit wie auch den besten Flachs liefert Flandern (namentlich um Courtrai). Man zählt gegenwärtig etwa 300,000 Spindeln, die jährlich im Durchschnitt 30 Mill. kg Garn erzeugen. Die Leinenindustrie beschäftigte 1896: 22,965 Personen. 1901 wurden 22 Mill. kg Garn von Flachs, Hanf und Jute im Werte von 77,1 Mill. Fr., namentlich nach England, ausgeführt. Mittelpunkt der Flachsspinnerei ist Gent. Damasttischzeug liefert diese Stadt sowie Ruysbroeck; Bettdrell besonders Courtrai, Gent und Turnhout; Zwirn vornehmlich Aloft und Ninove. Die Erzeugung von Spitzen, die vor einigen Jahren ziemlich im argen lag, hat sich in der jüngsten Zeit wesentlich gehoben. Die Brüsseler Spitzen, die geschätztesten von allen, rühren aus der Hauptstadt und Umgegend, die übrigen Sorten aus Mecheln, Antwerpen, Brügge etc. her. 1896 gab es 33,591 Spitzenklöpplerinnen, deren Arbeit ein Kapital von etwa 50 Mill. Fr. repräsentiert. Die Zuckerindustrie (1900: 121 Fabriken mit einer Erzeugung von 306,076 Ton. und 25 Raffinerien mit einer solchen von 73,883 T.) steht besonders im Hennegau in hoher Blüte, und die Ausfuhr von Rohzucker überstieg 1901 um 168,2 Mill. kg (im Werte von 32,8 Mill. Fr.) die Einfuhr. Bedeutende Schokoladefabriken gibt es in Brüssel und Tournai. Die Zahl der Bierbrauereien in B. war 1900: 3223, meist von geringerm Umfang, die zusammen 14,6 Mill. hl Bier erzeugten; Branntweinbrennerei (1900: 270 Anstalten im Betrieb, die 716,951 hl erzeugten) wird besonders in den Provinzen Brabant, Antwerpen und Lüttich betrieben. Zigarrenfabriken befinden sich in Antwerpen, Brüssel, Gent, Brügge.
Handel und Verkehr.
B. erfreute sich schon im Mittelalter eines blühenden Handels und einer ausgedehnten Schiffahrt. Seit dem Rückkauf (1863) des bis dahin durch die Niederlande kraft des 1839er Friedensvertrags erhobenen Scheldezolles hat sich der belgische Handel in großartiger Weise entwickelt, was nachstehende Tabelle veranschaulicht (Wert in Millionen Frank):
Die Hauptverkehrsgebiete nahmen 1901 in folgender Weise am belgischen Spezialhandel teil (Wert in Millionen Frank):
Die Eingangszölle betrugen 1901: 50,6 Mill. Fr. (wovon 9,7 Proz. auf Tabak, 8,2 Proz. auf Baumwollengewebe, 6,6 Proz. auf Kaffee und 5 Proz. auf Wollengewebe kamen). Mit Deutschland hat B. 6. Dez. 1891 für die nächsten 12 Jahre einen neuen Handelsvertrag geschlossen.
Im Vergleich zu der gewaltigen Ausdehnung des Handels ist die Handelsflotte unbedeutend. 1901 hatte B. 72 Schiffe von 110,457 Ton., darunter 66 Dampfer von 109,336 T. Der Handel wird meistens mit fremden Schiffen betrieben. Haupthäfen sind Antwerpen und Ostende. Eingelaufen sind 1901 in die belgischen Häfen 8569 Schiffe (darunter 7842 Dampfer) von 8,922,267 T., ausgelaufen 8613 Schiffe (darunter 7878 Dampfer) von 9,340,528 T. Lebhafte Förderung findet der Handel und Verkehr Belgiens durch die Kreditinstitute der Banken (Nationalbank, die Société générale etc.; Näheres über das belgische Bankwesen s. »Banken«, S. 348), die Börsen (in Antwerpen, Brüssel etc.), durch zahlreiche Gesellschaften, Handels- und Fabrikkammern, besonders aber durch ein sehr weitverzweigtes Netz von Straßen, Kanälen, schiffbaren Gewässern und Eisenbahnen, das nur in dem Englands seinesgleichen findet. Am 31. Dez. 1900 befanden sich 4562,3 km normalspurige Bahnen (darunter 4031,3 km Staatsbahnen) und 1819,9 km Nebenbahnen im Betrieb. An Telegraphen besaß B. 1900: 6402 km Linien, die Länge der Drähte betrug 34,277 km und die Zahl der Bureaus 1128. Das Fernsprechnetz umfaßte 42,4 km. Die Zahl der Postanstalten betrug 1900: 1085, durch die 162,9 Mill. Briefe, 65,3 Mill. Korrespondenzkarten, 123,6 Mill. Drucksachen, 6,4 Mill. Warenproben und 134,7 Mill. Zeitungen befördert wurden. Über den Ertrag dieser Verkehrsanstalten s. unten (Finanzen, S. 599). Außer den Hauptflüssen Maas und Schelde (s. S. 593) sind noch 15 schiffbare Nebenflüsse vorhanden. Die 49 Kanäle, welche die Schiffahrtsverbindung vervollständigen, haben eine Länge von ca. 1000 km. Unter den zahlreichen Abzugskanälen, die dazu dienen, das Wasser aus den Polders oder Wateringues abzuführen, damit die Kultur möglich werde, sind am bemerkenswertesten der Kanal von Selzaete zur Nordsee (39 km) und der Teil des Ableitungskanals der Lys, der bei Balgerhoeke anfängt und in dasselbe Meer einmündet (27 km). Auf den belgischen Wasserstraßen wurden 1900 an Waren 38,4 Mill. Ton. befördert. Die Länge der Landstraßen betrug Ende 1900: 9364 km. Für Maße und Gewichte gilt die französische Benennung. Bezüglich der Münzen herrscht laut Gesetz vom 4. Juni 1861 und des lateinischen Münzvertrags Doppelwährung. Es werden Goldmünzen zu 20 und 10 Frank, Silbermünzen zu 5,2,1 und 1/2 Fr., ferner Stücke zu 20,10 und 5 Cent. aus 3/4 Kupfer und 1/4 Nickel, zu 2 und 1 Cent. aus Kupfer geschlagen.
Staatsverfassung und Verwaltung.
Der Staatsverfassung zufolge ist B. eine konstitutionelle Monarchie. Die Krone ist erblich im Mannesstamm des Hauses Sachsen-Koburg-Gotha nach dem Rechte der Erstgeburt; seit 1865 ist König der Belgier: Leopold II. (geb. 1835, katholischer Konfession). Der König bezieht eine Zivilliste von 3,5 Mill. Fr. Die belgische Konstitution vom 7. Febr. 1831 (7. Sept. 1893 revidiert) gewährt unter allen europäischen Verfassungen die größte Summe politischer Freiheiten. Alle Staatsgewalt geht von der Nation aus; die gesetzgebende Gewalt ist dem König, der Kammer der Abgeordneten und dem Senat anvertraut. Der König besitzt die ausübende Gewalt. Die ausschließlich die Gemeinden und Provinzen betreffenden Angelegenheiten werden durch Gemeinde- und Provinzialräte geordnet. Durch die infolge der Verfassungsdurchsicht vom 7. Sept. 1893 verkündigten, später als Code electoral zusammengefügten Wahlgesetze ist die Altersgrenze bei dem Wahlrecht für die Abgeordnetenkammer auf 25, für den Senat auf 30 Jahre festgesetzt und der Zensus aufgehoben; nur muß der Wähler mindestens ein Jahr in derselben Gemeinde ansässig sein. Gleichzeitig wurde das Mehrstimmenwahlrecht eingeführt. Eine zweite Wahlstimme erhalten 35 Jahre alte Familienväter oder Witwer mit ehelichen Kindern, wenn sie 5 Fr. Personalsteuer zahlen, ferner 25 Jahre alte Eigentümer von Grundbesitz, dessen Mietzins wenigstens 48 Fr. erreicht, oder Besitzer einer Staatsrente von mindestens 100 Fr.; zwei ergänzende Wahlstimmen (also 3, die höchste Zahl) erhalten die über 25 Jahre alten Wähler mit akademischer Bildung und die gegenwärtigen oder frühern Inhaber von höhern öffentlichen Ämtern und ähnlichen Stellungen. Jeder Belgier, der wenigstens 25 Jahre alt ist, kann zum Abgeordneten ernannt werden. Um zum Senat gewählt werden zu können, muß man mindestens 40 Jahre alt sein und 1200 Fr. direkte Staatssteuern zahlen oder Besitzer oder Nutznießer von Immobilien im Werte von wenigstens 12,000 Fr. sein. Doch werden 26 Senatoren unabhängig von jedem Zensus durch die Provinzialräte gewählt. Die Zahl der Abgeordneten richtet sich nach der Stärke der Bevölkerung (ein Mitglied auf 40,000 Seelen) und beträgt gegenwärtig 166; der Senat zählt, abgesehen von jenen 26 Mitgliedern, halb soviel Mitglieder als die Zweite Kammer, gegenwärtig 110. Nur die Abgeordneten beziehen Diäten. Sie werden auf 4 Jahre gewählt und alle 2 Jahre zur Hälfte erneuert. Das Mandat der Senatoren, wovon die Hälfte alle 4 Jahre zurücktritt, dauert 8 Jahre. Nach den Wahllisten von 1900/1901 besaßen in B. 915,673 Wähler je eine, 318,099 je zwei und 239,181 je drei Wahlstimmen, also 1,472,953 Wähler 2,269,414 Stimmen für die Wahl zur Abgeordnetenkammer. Für die Senatswahl hatten 699,115 Bürger je eine, 311,298 je zwei und 233,092 je drei Wahlstimmen, mithin 1,243,505 Wähler zusammen 2,020,987 Stimmen. Abgesehen von den 26 oben erwähnten, durch die absolute Mehrheit der Provinzialräte bezeichneten Senatoren werden die Mitglieder beider Kammern kraft des Verhältniswahlsystems (sogen. Proportionalwahl) ernannt. Die Person des Königs ist unverletzlich; alle von ihm ausgehenden Akte bedürfen der Mitunterzeichnung eines Ministers. Der König ernennt und entläßt die Minister, er sanktioniert die Gesetze und verkündigt sie, darf auch die Kammern auflösen, kann sie aber auf nicht länger als einen Monat vertagen. Er ist volljährig mit zurückgelegtem 18. Jahr. Bei der Minderjährigkeit oder Regierungsunfähigkeit des Königs treffen die Kammern Vorkehrungen für die Einsetzung der Regentschaft und der Vormundschaft. Residenz des Königs ist Brüssel.
Die Minister (8) sind verantwortlich und können von der Kammer der Abgeordneten angeklagt werden. Der König kann einen durch den Kassationshof verurteilten Minister nur auf Verlangen einer der beiden Kammern begnadigen. Nach dem Provinzialgesetz vom 30. April 1836 (zuletzt 1898 abgeändert) bestehen in jeder Provinz ein Provinzialrat und ein Kommissar der Regierung, der den Titel Gouverneur führt und vom König ernannt und abgesetzt wird. Bei den Wahlen für den Provinzialrat ist sowohl die Wahlberechtigung als die Anwendung des Mehrstimmenwahlrechts den nämlichen Bedingungen als bei der Bildung des Senats (s. oben) unterworfen. Der Provinzialrat wählt aus seiner Mitte einen beständigen Ausschuß von sechs Mitgliedern. Wahlfähig sind die Belgier, die 25 Jahre alt sind, in der betreffenden Provinz ihren Wohnsitz haben und weder den Kammern noch den Beamten der Provinz angehören. Die Beschlüsse des Provinzialrats sind in finanziellen und Verwaltungsangelegenheiten der königlichen Bestätigung unterworfen. Die Provinzialräte werden auf 8 Jahre nach dem gewöhnlichen Mehrheitssystem ernannt und von 4 zu 4 Jahren zur Hälfte erneuert. Der Gouverneur der Provinz allein ist mit der Ausführung der vom Rat oder vom Ausschuß gefaßten Beschlüsse beauftragt. An der Spitze eines jeden Verwaltungsdistrikts (Arrondissements) der Provinz steht ein königlicher Kommissar (commissaire d'arrondissement), der unter der Oberaufsicht des Gouverneurs und des beständigen Ausschusses die Verwaltung in den Gemeinden, deren Einwohnerzahl nicht 5000 Seelen übersteigt, beaufsichtigt. Die Gemeindeverfassung stützt sich auf das Gemeindegesetz vom 30. März 1836 (1897 revidiert). Die Gemeindeobrigkeit jeder Kommune besteht aus dem Gemeinderat, einem Bürgermeister und Schöffen, deren Anzahl mit der Bevölkerungsziffer steigt. Alle Belgier, die 30 Jahre alt und seit drei Jahren in der Gemeinde wohnhaft sind, sind Gemeindewähler. In den Gemeinden, deren Bevölkerung 20,000 Seelen erreicht, sind die Arbeitgeber und Arbeiter, welche die Wahlbefähigung für die Kommune und die Gewerbe- und Arbeitsräte (Conseils de l'Industrie et du Travail) besitzen, außerdem berechtigt, je zur Hälfte 4–8 beigeordnete Mitglieder (conseillers supplémentaires) zu bezeichnen. Die Grundlagen des Mehrstimmenwahlrechts für die Gemeinderäte weichen darin von denen für die Kammerwahlen ab, daß der 35jährige Familienvater oder Witwer mit ehelichen Kindern, um über eine zweite Wahlstimme verfügen zu können, nicht eine Personalsteuer von 5 Fr., wie zur Wahlberechtigung für die Kammern, sondern je nach der Bevölkerungszahl der betreffenden Gemeinde eine solche von 5–15 Fr. entrichten muß. Außerdem kann der Eigentümer von Grundbesitz eine zweite Wahlstimme beanspruchen, falls dessen Mietzins wenigstens 150 Fr. erreicht. Endlich kann jeder Wähler höchstens über 4 Stimmen verfügen. Bei der Ernennung von Mitgliedern der Gemeindevertretung ist an die Stelle der frühern Stichwahlen die Verhältniswahl (s. Proportionalwahl) getreten. Sie findet aber selbstverständlich nur auf diejenigen Kandidaten Anwendung, welche die absolute Mehrheit nicht erhielten. Die Beteiligung ist sowohl bei diesen als bei den Wahlen für die Kammern oder die Provinzialräte obligatorisch. Die Wohltätigkeitsanstalten, die von Provinzen und Gemeinden unterhalten werden, sind sehr zahlreich. Der Rat jeder Gemeinde ernennt die Mitglieder eines sogen. Wohltätigkeitsbureaus. Von den Wohltätigkeitsanstalten sind hervorzuheben: Taubstummen- und Blindeninstitute, Irren-, Gebär-, Findel- und Waisenhäuser, Anstalten für Augenkranke, die Irrenkolonien zu Gheel und Lierneux (wo die Kranken gegen Entgelt bei den Einwohnern untergebracht werden), Bettler- und Landstreicherhäuser etc.
In betreff der Gerichtsverfassung und Rechtspflege ist zu bemerken, daß die Streitigkeiten über bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte in erster Instanz vor die Ziviltribunale (26), in zweiter Instanz vor die Appellhöfe (3, zu Brüssel, Gent und Lüttich) gehören. Daneben bestehen ein Militärgerichtshof, 29 Handelsgerichte, 222 Friedensgerichte (für Zivilsachen bis 200 Fr. und Polizeivergehen) sowie Sachverständigenräte (conseils de prud'hommes); Assisenhöfe gibt es 9. Für alle Kriminalsachen sowie für politische und Preßvergehen ist das Geschwornengericht angeordnet. Für ganz B. besteht ein Kassationshof zu Brüssel, der, mit Ausnahme der Ministeranklage, nicht über die Muerie der Rechtssachen erkennt. Seit der französischen Herrschaft gelten in B. der Code Napoléon und die französischen Gesetze aus der Zeit von 1795–1814, die nur teilweise Abänderungen erlitten haben. Die Umgestaltungen, die der Code pénal 1832 in Frankreich erfuhr, veranlaßten 1834 auch in B. eine Durchsicht desselben; eine weitere erfolgte 1867. An Gefängnissen bestehen: Zentralgefängnisse in Gent und Löwen, Maisons de sûreté bei jedem Assisenhof und Maisons d'arrêt in jedem Arrondissement, wo nicht eine Maison de sûreté besteht.
[Finanzen.] Das Budget für 1902 enthält an ordentlichen Einnahmen 439,040,050, an ordentlichen Ausgaben 489,292,524 Fr. Hauptposten der Einnahmen sind: direkte Steuern 58,7, indirekte 173,8, Verkehrsanstalten 233,9 Mill. Fr. Von den direkten Steuern ist 1902 die Grundsteuer auf 26,4, Personalsteuer auf 21,6, Gewerbesteuer auf 9,0 Mill. Fr. veranschlagt. Unter den indirekten Steuern sind: Eingangszölle 43,3, Verbrauchssteuern 68,7 (davon Branntweinsteuer 42,7, Bier- und Essigsteuer 13,7, Zuckersteuer 3,5 Mill. Fr.), Erbschaftssteuer 19,7 und Registrierung 25,0 Mill. Fr. Der Ertrag der Eisenbahnen wurde veranschlagt auf 204,4, der der Post auf 15,9, der Telegraphen- und Fernsprechanstalten auf 10,9 Mill. Fr. Unter den Ausgaben erfordern:
Die öffentliche Schuld betrug 1. Jan. 1901: 2651 Mill., erforderte 103,3 Mill. an Zinsen und Tilgung, d. h. jährlich 21,16 Proz. der Einnahmen (1854: 29 Proz.). Die Einnahmen der Provinzen betrugen 1899: 19,6 Mill. Fr., denen 16,5 Mill. Fr. an Ausgaben gegenüberstanden.
[Heerwesen.] Das Heerwesen ist durch Gesetz vom 20. Juli 1889 geregelt. Die Armee ist zur Verteidigung des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität bestimmt. Sie soll sich dabei auf das Festungssystem des Landes mit Antwerpen als Zentralpunkt und den neuen Plätzen der Maaslinie bei Termonde, Namur, Diest und Lüttich als Außenwerken stützen. Der Truppenbestand unterliegt der jährlichen Bewilligung durch die Volksvertretung. Die Ergänzung des Heeres erfolgt nach dem Gesetz von 1901 durch den bis zur Höhe von 2000 Mann gestatteten Eintritt von Freiwilligen. Falls diese nicht ausreichen, sollen, wenn erforderlich, jährliche Einstellungen von Milizsoldaten durch die Auslosung ergänzend eintreten. Die Dienstpflicht im stehenden Heere währt 8, in der Reserve 5 Jahre. Die Dienstzeit bei der Fahne soll für die Kavallerie 30, bei der Artillerie 26, bei der Infanterie 21 Monate, das Kontingent 18,000 Mann betragen, auch soll ein Radfahrer- und ein Geniebataillon errichtet werden. Das Land ist in 4 Divisionsbezirke, diese in Militärdistrikte und Kantone geteilt. Den höchsten Militärverband bilden die 4 Armeedivisionen, unter denen sich die Truppen in 8 Infanteriebrigaden (die 9. ist nicht zugeteilt) mit 19 Regimentern, 2 Kavalleriedivisionen mit 8 Regimentern, 4 Feldartillerieregimenter (12 fahrende, 2 reitende Abteilungen) gliedern. Es bestehen somit: 58 aktive, 39 Reservebataillone Infanterie, 40 aktive, 8 Depoteskadrons, 30 aktive, 10 Reserve-, 4 reitende Batterien. Ferner an Festungsartillerie: 4 Regimenter mit 58 aktiven, 7 Reservebatterien; an Genie: 1 Regiment (Antwerpen), 3 aktive, 1 Reservebataillon; Train: 1 Regiment (Antwerpen), 7 Kompagnien. Außerdem bestehen: 4 Artillerie-Spezialkompagnien (je 1 Feldpontonier-, Feuerwerker-, Arbeiter-, Büchsenmacherkompagnie) und 5 Genie-Spezialkompagnien. Die Stärke im Frieden ist demnach: 3471 Offiziere, 47,816 Unteroffiziere und Mannschaften, 10,858 Dienstpferde, 204 Geschütze. Um die Kriegsstärke auf 180,000 Mann zu bringen, werden bei jedem Regiment ein Ergänzungsbataillon, bei jeder Division ein Ergänzungsregiment aufgestellt. Die Infanterie ist mit dem 7,65 mm-Mausergewehr, die Artillerie mit 87 mm-, die reitenden Batterien mit 75 mm-Geschützen bewaffnet; die Einführung von Schnellfeuergeschützen und leichten Haubitzen steht bevor, Hotchkißmitrailleusen und Selbstladepistolen sind eingeführt.
Im Kriege werden außer dem Großen Hauptquartier, dem mehrere Kompagnien, bez. Detachements zugeteilt sind, gebildet: 1) Feldtruppen sind 4 Armeedivisionen, anderen Spitze die Befehlshaber der vier territorialen Militärbezirke (Gent, Antwerpen, Lüttich, Brüssel) stehen, und 2 Kavalleriedivisionen. Die Armeedivisionen umfassen 8 Infanteriebrigaden mit 16 Regimentern (52 Bataillone), 8 Eskadrons Divisionskavallerie, 30 fahrende Batterien, 4 Genie-, 4 Trainkompagnien, die beiden Kavalleriedivisionen 4 Brigaden mit 8 Regimentern (32 Eskadrons), 8 reitende Batterien. 2) Festungstruppen sind: eine 5. Division (Antwerpen) mit 2 Infanteriebrigaden (2 aktive, 19 Reserveregimenter mit 6 aktiven, 39 Reservebataillonen), 8 Eskadrons, 6 fahrende Reservebatterien, 5 Festungsartillerie-Regimenter, 12 Geniekompagnien. 3) Ersatztruppen für die verschiedenen Waffen etc., zusammen 13,300 Mann. 41 Die Territorialgendarmerie mit etwa 2100 Mann. Die Gesamtkriegsstärke berechnet sich auf 3408 Offiziere, 162,087 Mann, nach Abzug des Mobilmachungsausfalls auf rund 140,000 Mann mit 240 Feldgeschützen. Zu diesen Truppen kommt noch eine zum Dienst in den Garnisonen und Festungen verpflichtete Bürgerwehr, deren Mannschaften nicht aus dem Heere hervorgegangen sind, und deren Zahl auf 90,000 geschätzt wird. Militärschulen: Kadettenschule für Offizierssöhne in Namur, Pupillen- (Unteroffizier-) schule mit 700–1000 Schülern, Reitschule in Ypern.
Als Wappen führt B. im schwarzen Felde den goldenen, rot bewehrten Brabanter Löwen; über dem Schild erscheint eine mit Purpur gefütterte Königskrone mit silbernen Bändern, hinter dem Schilde zwei sich kreuzende Zepter, unten im schwarz geränderten, roten Bande die Devise: »L'union fait la force«, den Schild umzieht die Kette des Leopoldsordens (s. Tafel »Wappen II«). Die Farben des Landes sind (seit 1831) Schwarz, Gelb und Rot, senkrecht nebeneinander (s. Tafel »Flaggen I«). – Von Orden bestehen der Leopoldsorden (gestiftet 1832; s. Tafel »Orden II«, Fig. 1), der Orden für Zivilverdienste (1867 gestiftet) und ein Militärkreuz (seit 1885). Über den Orden des Afrikanischen Sterns s. Kongostaat.
[Geographisch-statistische Literatur.] Amtliche Werke: »Statistique générale de la Belgique«, »Annuaire statistique«, »Almanach royal officiel«. »Tableau général du commerce« und »Recensement général des industries et des métiers. 31. Octobre 1896« (Brüss. 1900–1902, 18 Bde.); ferner. Sauveur, Statistique générale de l'instruction publique (das. 1880–85, 2 Bde.); Mourlon, Géologie de la Belgique (das. 1880–81, 2 Bde.); Jourdain und van Stalle, Dictionnaire de géographie historique du royaume de Belgique (2. Aufl., das. 1895–96, 2 Bde.); »Patria belgica. Encyclopédie nationale« (hrsg. von van Bemmel u. a., das. 1873–1875, 3 Bde.); Wauters, La Belgique ancienne et moderne (das. 1882–97,5 Lfgn.); Lemonnier, La Belgique (illustriert, Par. 1887); Leroy, Géographie générale de la Belgique (Namur 1889); »La Belgique illustrée« (hrsg. von Bruylant u. a., 2. Aufl., das. 1892–93, 3 Bde.); Genonceaux, La Belgique physique, politique, industrielle, etc. (2. Aufl., Mons 1884); Greyson, L'enseignement supérieuren Belgique; L'enseignement moyen; L'enseignement primaire (Brüss. 1892–94, 3 Bde.); Kurth, La frontière linguistiqueen Belgique (das. 1896–418, 2 Bde.); Ghislain, Cours de géographie industrielle et commerciale de la Belgique (das. 1900). Von deutschen Werken: Rodenberg, B. und die Belgier (Berl. 1881); Lauer, Entwickelung des belgischen Volksschulwesens (das. 1885); Brämer, Nationalität und Sprache im Königreich B. (Stuttg. 1887); Penck, Das Königreich B. (in Kirchhoffs »Länderkunde«, Bd. 2, Prag und Leipz. 1889); Vauthier, Das Staatsrecht des Königreichs B. (Freiburg 1891); v. Chlapowski, Die belgische Landwirtschaft im 19. Jahrhundert (Stuttg. 1900); Bädeker, B. und Holland, Handbuch für Reisende (22. Aufl., Leipz. 1900).
Karten (sämtlich amtlich): Carte topographique de la Belgique, in nachstehenden Ausgaben: a) 1: 20,000, farbig, 227 Meßtischblätter (Brüss. 1866 bis 1880); b) 1: 20,000, schwarz, 227 Bl. (neue Aufl., das. 1872–81); c) 1: 40,000,72 Bl. (das. 1861–83) und d) 1: 160,000,6 Bl. (neue Aufl., das. 1893); Carte des chemins de fer, routes et voies navigables de la Belgique (1: 302,000, das. 1900); Carte de la Belgique (1: 500,090, das. 1900); Carte géologique de la Belgique (1: 40,000,1894 ff., bisher 190 Bl. erschienen).
Geschichte.
Der Name B. rührt von dem keltischen Stamm der Belgen (s. d.) her, die in ältester Zeit das Land bewohnten. 57 v. Chr. von Cäsar erobert, bildete B. einen Teil der Provinzen Germania inferior und Belgica secunda. Seit Beginn des 4. Jahrh. n. Chr. Schauplatz der Grenzkriege zwischen Franken und Römern, seit 486 zum Frankenreich gehörig, spielte B. unter den Merowingern eine bescheidene Rolle, war aber zur Karolingerzeit der Brennpunkt für die damalige romanisch-germanische Kultur. 843 erhielt Karl II. der Kahle das Land links der Schelde, während die übrigen Gebiete an Kaiser Lothar 1., 855 an seinen Sohn Lothar II. als Teil von dessen Königreich Lotharingien (s. Lothringen) fielen. Nachdem fast ganz B. 870 unker französische, 879 unter deutsche Botmäßigkeit gekommen war, bildete seit 925 die Schelde die Grenze zwischen beiden Staaten. Die infolge der Normanneneinfälle inzwischen entstandenen Grafschaften Flandern (s. d.) und Artois (s. d.) wurden französische Lehen. Lotharingien wiederum, das unter Zwentibold vorübergehend Königreich gewesen, ward eine deutsche Provinz, deren belgische Teile seit 959 zum Herzogtum Niederlothringen gehörten. Der allmähliche Verfall der kaiserlichen Macht im 11. Jahrh. führte dann zur Auflösung Niederlothringens sowie zur Entstehung der Grafschaften Namur (s. d.) und Hennegau (s. d.), der Herzogtümer Brabant (s. d.), Luxemburg (s. d.) und Limburg (s. d.), der Herrschaft Mecheln (s. d.) und des geistlichen Fürstentums Lüttich (s. d.). Vom 12.–15. Jahrh. waren die belgischen Territorien nicht nur einer der Hauptkriegsschauplätze, sondern auch der Hauptmärkte Europas. Obwohl fast unausgesetzt im Kampf mit dem Ausland (Frankreich und England) begriffen und im Innern durch dynastische, politische oder soziale Wirren erschüttert, waren sie dennoch auf industriellem, kommerziellem und kulturellem Gebiet äußerst rege. Die Städte Brügge, Ypern, Gent sowie später Antwerpen erfreuten sich damals wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung eines Weltruss. Nachdem Flandern, Artois und Mecheln 1384 an das Haus Burgund (s. d.) gefallen waren, brachte dieses durch Erbschaft, Kauf und Verträge allmählich auch die übrigen belgischen Territorien nebst den nördlichen Niederlanden an sich und vereinigte sie zu einem verhältnismäßig straff verwalteten Staatenbund, dessen Schwerpunkt sich im heutigen B. befand. Nach dem Tode Marias von Burgund (1482) gelangten die belgischen Lande in den Besitz des Hauses Habsburg. Unter dem in Gent gebornen Kaiser Karl V. (s. d.) waren die seit 1548 zu dem »burgundischen Kreis« vereinigten 17 niederländischen Provinzen das reichste und blühendste Land Europas. Der Despotismus und kirchliche Verfolgungseifer seines Nachfolgers Philipp II. (s. d.) riefen indessen 1566 einen Aufstand hervor, der schließlich 1579 zum Abfall der sieben nördlichen protestantischen Provinzen (s. Niederlande, Geschichte) führte, während der katholische Süden, der den größten Teil des heutigen B. umfaßte, unter spanischer Herrschaft blieb. In dem nunmehr folgenden, nur durch einen zwölfjährigen Waffenstillstand (1609–1621) unterbrochenen Kriege Spaniens mit der niederländischen Republik gelang weder jenem die Wiederunterwerfung der abgefallenen, noch dieser die Befreiung der spanisch gebliebenen Provinzen. Der Westfälische Friede (1648) überließ die »Generalitätslande« (Teile von Flandern, Brabant und Limburg) der niederländischen Republik, von der jetzt die spanischen Niederlande endgültig getrennt wurden. Das Schicksal der letztern war wenig beneidenswert. Nicht nur schädigten die Holländer durch Sperrung der Schelde die wirtschaftliche Entwickelung des Landes, sondern B. bildete auch fortan bei den Eroberungskriegen Frankreichs gegen Spanien fast immer den Kriegsschauplatz und das Entschädigungsobjekt. Nach dem gleichfalls z. T. auf spanischem Gebiet ausgefochtenen Spanischen Erbfolgekrieg (s. d.) kam B. an Österreich. Doch erhielt Holland durch den Barrieretraktat (s. d.) das Besatzungsrecht in den wichtigsten Grenzfestungen, während anderseits die Sperrung der Scheldemündung zum Nachteil der belgischen Territorien bestehen blieb. Nachdem im Österreichischen Erbfolgekrieg (s. d.) die österreichischen Niederlande 1744–48 größtenteils in den Händen der Franzosen gewesen waren, nahmen sie unter der langen Regierung des Statthalters Karl von Lothringen (bis 1780) einen sichtbaren Aufschwung. Unter Kaiser Joseph II. (s. d.) ward zwar 1785 der lästige Barrieretraktat aufgehoben, die mit Gewalt versuchte Öffnung der Schelde aber nicht erreicht. Überdies rief der die religiösen Gefühle der Bevölkerung wie die provinziellen Gerechtsame verletzende Reformeifer des Kaisers seit Ende 1786 im Land Unruhen hervor, zu denen die Studenten der ihrer Privilegien beraubten Universität Löwen das Zeichen gaben. Bei dem Aufstande von 1789 brachten die Insurgenten unter van der Mersch (s. d.) den Österreichern mehrere Niederlagen bei. Am 11. Jan. 1790 erklärten sich sämtliche Provinzen (außer Luxemburg) als Vereinigte belgische Staaten für unabhängig und wählten einen Kongreß, wo zum erstenmal seit langer Zeit wieder der Name B. auftauchte. Der neue Staat war jedoch nur von kurzer Dauer. Heftige innere Spaltungen unter den Aufständischen, zwischen einer klerikal-aristokratischen und einer demokratischen Partei, ermöglichten es den Österreichern, sich schon Ende 1790 von neuent des Landes zu bemächtigen. Von der französischen Republik Ende 1792 vorübergehend erobert und durch den Sieg bei Fleurus (26. Juni 1794) endgültig behauptet, ward B. 1797 und 1801 von den Österreichern förmlich an Frankreich abgetreten, dessen Schicksale es fortan in Gesetzgebung (Code Napoléon) und Verwaltung (9 Departements) teilte. Nach dem Sturz Napoleons (1814) mehrere Monate durch einen österreichischen Generalgouverneur verwaltet, kam B., auf dessen Boden sich der letzte Entscheidungskampf abspielte (s. Waterloo), 1815 mittels des Londoner Vertrags (19. Mai) und der Wiener Schlußakte (9. Juni) zusammen mit Holland als Königreich der Vereinigten Niederlande unter das Haus Oranien und erlangte im zweiten Pariser Frieden eine sichere Südgrenze durch Einverleibung einiger Bezirke mit den Festungen Philippeville und Marienburg sowie des Herzogtums Bouillon. Der neue Staat, dessen Verfassung König Wilhelm I. (s. d.) in Brüssel 21. Sept. feierlich beschwor, erwies sich jedoch als wenig lebenskräftig, da die geistigen und materiellen Interessen seiner beiden Bestandteile verschieden waren. Die Einführung der holländischen Amtssprache und die Gleichstellung der Konfessionen erregten die Unzufriedenheit der überwiegend französisch, teilweise auch klerikal gesinnten Bevölkerung Belgiens, die sich überdies durch die verhältnismäßig geringe Zahl ihrer parlamentarischen Vertreter, die Mitübernahme der beträchtlichen holländischen Staatsschuld sowie durch drückende Steuern benachteiligt fühlte. Die scharfen Maßnahmen der Regierung gegen den klerikalen Oppositionsführer und Genter Bischof Prinz Moritz von Broglie (s. d. 5) erzielten ein ebenso geringfügiges Ergebnis wie später der Abschluß eines Konkordats mit dem Papst (18. Juni 1827) und die Aufhebung der verhaßten Mahl- und Schlachtsteuer. Besonders verhängnisvoll für die Zukunft des neuen Staatsgebildes wurde das Ende der 1820er Jahre zwischen den belgischen Klerikalen und Liberalen geschlossene Bündnis. Das Vorgehen der Regierung gegen die antiministerielle Presse, der Versuch, von den Beamten eine schriftliche Loyalitätsversicherung zu erzwingen, und die Verbannung der angesehensten Oppositionsführer, darunter de Potters (s. d.), erbitterten in B. so, daß es 1830 nur der Pariser Julirevolution und des Geschicks französischer Emissäre bedurfte, um eine gewaltsame Volkserhebung zu veranlassen.
Die Ausführung der »Stummen von Portici« gab 25. Aug. in Brüssel das Zeichen zu einem Aufruhr, der bald in den meisten andern belgischen Städten Nachahmung fand. Zunächst war eine vollkommene Trennung noch nicht beabsichtigt. Da indessen die von belgischen Deputationen verlangte Abstellung aller Beschwerdepunkte kein Gehör im Haag fand, mißlangen die Vermittelungsversuche des Prinzen von Oranien, und es bildete sich 24. Sept. in Brüssel auf Pariser Antrieb eine provisorische Regierung, die den Angriff eines holländischen Heeres nach 4tägigem, blutigem Straßenkampf (23.–26. Sept.) abschlug. Eine neue provisorische Regierung, darunter Rogier (s. d.), Graf Merode (s. d. 3), Stassart (s. d.) und Potter, erklärte hierauf 4. Okt. die Unabhängigkeit Belgiens und berief einen Nationalkongreß, der unter dem Eindruck des holländischen Bombardements von Antwerpen (s. d.) 19. Nov. die Unabhängigkeitserklärung bestätigte und 24. Nov. das Haus Oranien absetzte, dagegen 22. Nov. nicht, wie Potter beantragte, die Republik ausrief, sondern die Errichtung einer konstitutionellen Monarchie unter einer neuen Dynastie beschloß. Die inzwischen in London zusammengetretene Konferenz der Großmächte erkannte schon 20. Dez. die Auflösung des Vereinigten Königreichs an, stieß aber später bei der Frage der Grenzregulierung zunächst in beiden Staaten auf Widerspruch. Der nach Fertigstellung einer neuen Verfassung (7. Febr. 1831) vom belgischen Nationalkongreß zum provisorischen Regenten gewählte Baron Surlet de Chokier berief einen zweiten Nationalkongreß, der, da die Kandidaturen des Herzogs von Leuchtenberg und des Herzogs von Nemours am Einspruch der Londoner Konferenz gescheitert waren, trotz heftiger Opposition des katholischen Klerus 4. Juni mit großer Mehrheit dem protestantischen Prinzen Leopold von Sachsen-Koburg die Krone antrug.
Nachdem der Kongreß 9. Juli die sogen. 18 Artikel angenommen hatte, worin die Londoner Konferenz (26. Juni) die Grenzen Belgiens und dessen Verhältnis zum Deutschen Bund in Bezug auf Luxemburg (s. d.) näher bestimmt hatte, erschien König Leopold I. (s. d.) in B. und beschwor 21. Juli in Brüssel die Verfassung. Wenige Tage später fiel auf Befehl König Wilhelms, der die 18 Artikel verwarf, ein holländisches Heer unter dem Prinzen von Oranien ein und besiegte die belgischen Truppen bei Hasselt und Löwen, mußte aber beim Nahen eines starken französischen Hilfskorps unter Marschall Gérard auf Verlangen Frankreichs und Englands B. wieder räumen. Das hartnäckige Sträuben Hollands gegen die von der Londoner Konferenz nunmehr (6. Okt.) beschlossenen 24 Artikel, wonach eine Teilung Luxemburgs sowie Limburgs erfolgen und B. jährlich 8,4 Mill. Guld. an Holland zahlen sollte, hatte zur Folge, daß die Großmächte, die am 15. Nov. die immerwährende Neutralität Belgiens verbürgt hatten, 1832 zu Zwangsmaßregeln schritten. Eine englisch-französische Flotte blockierte die Scheldemündung, und ein französisches Belagerungskorps eroberte 23. Dez. die bisher von den Holländern behauptete Antwerpener Zitadelle. Der Londoner Vertrag vom 21. Mai 1833 machte zwar den Feindseligkeiten ein Ende, führte aber keine endgültige Entscheidung herbei. Als sich dann Holland Anfang 1838 endlich zur Annahme der 24 Artikel bereit erklärte, erhob sich in B. eine so einmütige Opposition gegen die Räumung Limburgs und Luxemburgs, daß es eines energischen Einschreitens der Großmächte bedurfte, um einen bewaffneten Zusammenstoß zu verhüten und die belgischen Kammern (Mitte Februar 1839) zur Genehmigung der 21 Artikel zu bestimmen. Im endgültigen Frieden vom 19. April ward auch der von Holland zu erhebende Scheldezoll festgesetzt und der Anteil Belgiens an der holländischen Staatsschuld auf eine jährliche Rente von 5 Mill. Gulden herabgemindert.
Die innere Entwickelung Belgiens ward besonders durch den Gegensatz zwischen Liberalen und Klerikalen beherrscht, deren Wege sich bald nach dem Gelingen der Revolution von 1830 getrennt hatten. Da nach der in B. geltenden konstitutionellen Lehre stets die parlamentarische Mehrheit die Minister stellte, wechselten die Ministerien rasch. 1834–40 standen die Klerikalen unter de Theux und Muelenaere (s. d.), 1840–41 die Liberalen unter Lebeau (s. d.) und Rogier, 1841–45 die gemäßigt Klerikalen unter Nothomb (s. d.), 1845–46 die Liberalen unter van de Weyer, 1846–47 die Klerikalen unter de Theux an der Spitze der Regierung. Das liberale Kabinett Rogier (1847–52), das erste von längerer Dauer, steuerte das Staatsschiff geschickt durch die Stürme des Jahres 1843; französische Arbeiter, die Ende März B. revolutionieren wollten, wurden durch wenige Truppen zersprengt. Nicht minder große Verdienste erwarb sich das seit 1848 im Besitz einer Zweidrittelmehrheit befindliche Ministerium durch Verbesserung der Volksbildung (Gesetz über den mittlern Unterricht von 1850), Hebung des Volkswohlstandes (Handelsverträge, Erleichterung der Gewerbesteuer, Gründung der Nationalbank), Anbahnung besserer Beziehungen zu Rußland (1852), Erweiterung der kommunalen Selbstverwaltung und Geschicklichkeit in der Behandlung der politischen Flüchtlinge, die sich nach dem Staatsstreiche Napoleons (2. Dez. 1851) aus Frankreich nach B. gerettet hatten. Auch das gemäßigt liberale Kabinett Brouckère (s. d. 2) erzielte 1852–55 erhebliche Erfolge, besonders in der auswärtigen Politik, indem es den Annexionsgelüsten des französischen Kaisers einen Riegel vorschob und ein befriedigendes kommerzielles Verhältnis mit Frankreich herstellte. Das gemäßigt klerikale Ministerium unter Graf Vilain XIII (s. d.) und de Decker (s. d.; 1855 bis 1857) bewahrte nach außen die feste und würdige Haltung seiner Vorgänger, ließ sich aber im Innern bald zu Zugeständnissen in ultramontanem Sinn verleiten. Als ein von ihm 1856 eingebrachter Gesetzentwurf über die Organisation der Stiftungen und Wohltätigkeitsanstalten, der durch Beseitigung der Staatsaufsicht dem Klerus die Ansammlung bedeutenden Vermögens ermöglichte, 20. Mai 1857 von der Kammer angenommen wurde, kam es in mehreren Städten zu Mißhandlungen von Mönchen sowie zum ersten jener nur mit Waffengewalt unterdrückten Straßentumulte, die seitdem in B. häufig als Ultimatum der antiklerikalen Bevölkerung gedient haben. Der Liberale Rogier, der nunmehr von neuem an die Spitze eines Kabinetts (1857–67) trat, führte nach langjährigen parlamentarischen Kämpfen, wiederholter Kammerauflösung und längerer Ministerkrisis (1864) betreffs der wichtigen Frage der Landesverteidigung eine günstige Entscheidung herbei und wirkte von der Kammer die Bewilligung der vielen Millionen aus, die für die Schleifung der alten Festungen an der Südgrenze und für die Verwandlung der mächtig aufstrebenden Handelsstadt Antwerpen in eine der stärksten modernen Festungen Europas erforderlich waren. Ferner kam Ende März 1866 ein neues Wahlgesetz über die Vermehrung der Abgeordnetenzahl zustande.
Kaum hatte König Leopold II. (s. d.) den Thron bestiegen (10. Dez. 1865), so nahm die internationale politische Lage eine für die Unabhängigkeit Belgiens bedrohliche Wendung, da Napoleon III. infolge der deutschen Ereignisse von 1866 mehr denn je nach einer Erweiterung der französischen Nordostseegrenze trachtete und, nachdem seine Annexionspläne auf Luxemburg (s. d., Geschichte) 1867 unter belgischer Mitwirkung gescheitert waren, sein Augenmerk auf B. richtete. Unter solchen Umständen fand der Gedanke einer Heeresreform in B. lebhaften Anklang. Die Kammern bewilligten Rogier im Mai 1867 einen Militärkredit von 60 Mill. und erhöhten auf Antrag seines gleichfalls liberalen Nachfolgers Frère-Orban (s. d., seit Ende 1867) im März 1868 das Jahreskontingent von 10,000 auf 12,000 Mann sowie die aktive Dienstzeit auf 24 Monate.
Im Juni 1870 mußten die Liberalen nach 13jähriger Herrschaft ihren Gegnern das Feld räumen. Das neue ultramontane Ministerium d'Anethan (s. d.) sah sich zunächst vor die Aufgabe gestellt, während des deutsch-französischen Krieges die Neutralität Belgiens zu wahren. Mit Hilfe eines Kammerkredits von 15 Mill., der eine Mobilmachung der Armee zum Schutz der Grenze ermöglichte, erfüllte es seine Neutralitätspflichten loyal, obwohl die Bevölkerung, besonders die wallonische, vielfach französische Sympathien bekundete. Im Innern gelang ihm eine Erweiterung des Wahlrechts in demokratisch-klerikalem Sinne. Die Ernennung de Deckers (s. d.), der in die Schwindelaffäre Langrand-Dumonceau (s. d.) verwickelt war, zum Gouverneur von Limburg führte jedoch Ende 1871 den Rücktritt d'Anethans herbei. Hierauf folgten die etwas gemäßigtern klerikalen Kabinette de Theux (1871–74), d'Aspremont-Lynden (1874–78), deren eigentliche Seele der Finanzminister Malou (s. d.) war. Den meist ultramontanen Flämen ward nunmehr von der Regierung das Zugeständnis gemacht, daß in den flämischen Landesteilen künftig das Flämische als Gerichtssprache zulässig sein solle. Eine gründliche Heeresreform, so namentlich durch Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nach deutschem Muster, ließ sich dagegen nicht durchsetzen, sondern man mußte sich mit einem neuen Militärgesetz (1873) begnügen, das die Schäden des Stellvertretungswesens milderte und mit einem jährlichen Mehraufwand von 4 Mill. Fr. den Präsenzstand erhöhte. Besonders kam die Machtstellung der Klerikalen dem ultramontanen Klerus zu statten. Auf den in die belgische Verfassung aufgenommenen Grundsatz von dec völligen Selbständigkeit der Kirche und ihrer Trennung vom Staate gestützt, beherrschten die Geistlichen fast das gesamte Schulwesen, besaßen ihre besondern, von Jesuiten geleiteten Gymnasien sowie eine eigne Universität (Löwen), und diese Anstalten waren weit stärker besucht als die des Staates, der sich seit jeher um die Ausführung des liberalen Schulgesetzes von 1842 wenig bekümmert hatte. Die weibliche Jugenderziehung lag fast ausnahmslos in den Händen der Klöster, deren Zahl (1700 mit 22,600 Mönchen und Nonnen) sich binnen 20 Jahren mehr als verdoppelt hatte. Vor allem aber machte der Klerus bei den Gemeinderats- und Kammerwahlen von den kirchlichen Machtmitteln Gebrauch. In den preußischen Kulturkampf griffen damals die ultramontanen Blätter, bez. Bischöfe Belgiens so leidenschaftlich ein, daß es 1874 und 1875 diplomatischer Schritte des deutschen Reichskanzlers beim belgischen Ministerium bedurfte, um dieser Agitation ein Ziel zu setzen.
Erst durch ein Bündnis der flämischen Liberalen mit den wallonischen, nachdem diese ihre bisherige schroff ablehnende Haltung gegen die flämische Sprache aufgegeben hatten, sowie durch ein von den Liberalen erzwungenes Gesetz (7. Juli 1877) zur Bekämpfung der Wahlkorruption, das zugleich die Zahl der städtischen Abgeordneten erhöhte, ward die Herrschaft der Klerikalen allmählich so erschüttert, daß die liberale Partei bei den Kammerneuwahlen (im Juni 1878) den Sieg davontrug. Das neue Kabinett Frère-Orban (s. d.) war in erster Linie auf eine Befreiung der Volksschule aus den Händen des Klerus bedacht. Nach langen Debatten genehmigten die Kammern ein Unterrichtsgesetz (1. Juli 1879), das die Bestimmungen von 1842 erneuerte, die Errichtung öffentlicher Gemeindeschulen, nötigenfalls mit staatlicher Unterstützung, unter Staatsaufsicht und mit staatlich ausgebildeten Lehrkräften anordnete und die Mitwirkung der Geistlichen auf den Religionsunterricht beschränkte. Als hierauf der Klerus die Staatsschulen mit dem Bann belegte und es sich 1880 herausstellte, daß die römische Kurie den geistlichen Widerstand gegen das Gesetz heimlich ermutigte, brach die Regierung kurzerhand die diplomatischen Beziehungen zum päpstlichen Stuhl ab. 1881 ward die Zahl der Staatsgymnasien (Athenäen) verdoppelt, die der Lehrerseminare beträchtlich vermehrt. Ferner wurden am Wahlgesetz Änderungen vorgenommen, um künftigen klerikalen Wahlbeeinflussungen möglichst vorzubeugen. Die ultramontane Agitation blieb jedoch keineswegs wirkungslos, zumal die erheblichen Ausgaben für die Staatsschulen das Defizit im Staatshaushalt vergrößerten und die Erhebung neuer, bez. die Erhöhung bestehender Steuern erforderlich machten. Hierzu kam die Uneinigkeit im liberalen Lager selbst, indem eine radikale Fraktion unter Janson (s. d.) durch ihre Forderung des allgemeinen Stimmrechts bei den Kammerwahlen den besitzenden Klassen, die zumeist der doktrinär-liberalen Partei angehörten, den Fehdehandschuh hinwarf.
So brachten die Neuwahlen im Juni 1884 wieder die klerikale Partei aus Ruder. Tas streng ultramontane Ministerium Malou (s. d.), in das auch Jacobs (s. d.) und Woeste (s. d.) Aufnahme fanden, stellte sogleich den Frieden mit der Kurie wieder her, sah sich aber schon im Oktober 1884, nachdem es ein neues klerikales Schulgesetz durchgesetzt, zum Rücktritt genötigt. Das nun folgende gemäßigt klerikale Kabinett Beernaert (s. d.) löste geschickt die Aufgabe, die Bestimmungen des liberalen Unterrichtsgesetzes von 1879 zu beseitigen. Auf Grund des neuen klerikalen Schulgesetzes waren Ende 1885 bereits 877 von den 1933 Staatsvolksschulen verschwunden, dagegen 1465 geistliche Schulen als öffentliche Lehranstalten anerkannt. Auch mehrere andre Umstände trugen zur Befestigung der klerikalen Machtstellung bei, so die günstige Entwickelung des Kongostaates (s. d.), als dessen Souverän König Leopold II. 1885 auch von den belgischen Kammern anerkannt wurde, ferner der unaufhaltsame Rückgang der von Bara (s. d.) geleiteten Doktrinär-Liberalen und die Abneigung weiter Volkskreise gegen die von den Radikalen rücksichtslos vertretene Wahlrechtsreform, endlich das erfolgreiche Streben der Klerikalen, durch die Gesetze von 1887 und 1888 dem flämischen Volkstum die sprachliche Gleichberechtigung neben dem wallonischen zu verschaffen und in der Verwaltung die Alleinherrschaft der französischen Sprache zu brechen. Besonders aber kam der Regierung zu gute, daß sie durch Sparsamkeit und Rentenkonversion das unter Frère-Orban entstandene Defizit beseitigte. Für die wirtschaftliche Zukunft Belgiens war von Bedeutung, daß 2. Juli 1890 fast alle Mächte (die Niederlande Anfang 1891) der Erhebung von Einfuhrzöllen im Kongostaat zustimmten, worauf beide Kammern eine Vereinbarung zwischen diesem und B. genehmigten, wonach letzteres dem erstern ein unverzinsliches Darlehn von 25 Mill. Frank auf 10 Jahre gewährte und dafür das Recht erhielt, nach Ablauf der genannten Frist den Kongostaat mit allen Rechten und Verpflichtungen zu übernehmen.
Gefährliche soziale Krisen blieben, abgesehen von dem durch General van der Smissen (s. d.) schnell unterdrückten Arbeiteraufstand in der Umgegend Lüttichs und Charlerois (März 1886), dem Kabinett Beernaert zunächst erspart. Erst Anfang 1890 erhielt die Bewegung zugunsten der Ausdehnung des politischen Wahlrechts eine sozialistisch-revolutionäre Färbung. Als der radikale Parteiführer Janson im November den Antrag auf Verfassungsänderung einbrachte, erkannte die Repräsentantenkammer fast einstimmig die Notwendigkeit einer Ausdehnung des Stimmrechts an. über die Grundlage und den Umfang einer solchen herrschte indessen bei den Parteien die größte Meinungsverschiedenheit, weshalb die eigentlichen Kammerberatungen erst im Januar 1892 beginnen konnten. Da die Ultraklerikalen unter Woeste nur eine geringe Ausdehnung des Wahlrechts zugeben wollten, während das Ministerium das »Hausstandswahlrecht« vorschlug, kam es in den Industriebezirken zu Arbeiterunruhen, worauf beide Kammern sich im Mai für eine Verfassungsrevision im Sinne der Regierung aussprachen. Letztere verlor jedoch bei den Neuwahlen im Juni die zur Verfassungsänderung erforderliche Zweidrittelmehrheit, so daß die monatelangen Verhandlungen 12. April 1893 mit der Verwerfung aller Revisionsarten endigten. Die Folge hiervon waren Arbeiterausstände und so blutige Zusammenstöße zwischen dem Volk und der bewaffneten Macht, daß die Kammern 18. und 27. April mit überwältigender Mehrheit einem Wahlgesetz zustimmten, das, statt der bisherigen Zensuswahl, allen Belgiern von 25 (bez. 30) Jahren das Wahlrecht, Familienvätern über 35 Jahre sowie Inhabern eines gewissen Vermögens und gewisser Bildung aber doppeltes, bez. dreifaches Stimmrecht erteilte (Pluralvotum). Dagegen ward ein Regierungsvorschlag, der die Einführung des Systems der Proportionalwahl (s. d.) in allen Wahlkreisen mit mehreren Vertretern sowie des Prinzips der obligatorischen Wahlbeteiligung bezweckte, auf Betreiben Woestes 16. März 1894 von den vereinigten Ultraklerikalen und Radikalen abgelehnt und der gemäßigte Teil des Ministeriums dadurch zum Rücktritt genötigt.
Das neue streng klerikale Kabinett de Burlet errang bei den zum erstenmal auf Grund des Pluralstimmensystems stattfindenden Wahlen (Oktober 1894) einen Sieg, der nur durch das Anwachsen der sozialistischen Stimmen getrübt ward. Im Frühjahr 1895 genehmigten beide Kammern, trotz der durch eine Ausstandsbewegung unterstützten sozialistischen Opposition, eine Regierungsvorlage, die allen, mindestens 3 Jahre in einer Gemeinde wohnenden Senatswählern das einfache Kommunalwahlrecht, Familienvätern, Besitzern und höher Gebildeten aber Pluralstimmen zubilligte. Die Konvention vom 11. Jan. 1895 über die Abtretung des Kongostaats an B. als Kolonie stieß anfangs bei den Parteien auf Widerspruch und führte sogar (24. Mai) zum Sturz des Auswärtigen Ministers Merode. Erst Ende Juni kam ein Kompromiß zu stande, wonach die Kammern dem Kongostaat 6°/4 Mill. Fr. vorschossen und der Kongoeisenbahngesellschaft eine 5 proz. hypothekarische Anleihe (Mai 1896 eine gleiche Rate) bewilligten, wogegen das Ministerium der Erhöhung mehrerer Einfuhrzölle und einer Änderung des Schulgesetzes von 1884 zustimmte, durch die der von dem Klerus zu leitende Religionsunterricht zum Hauptsach in der Volksschule erhoben und die »freien«, d. h. von Geistlichen gegründeten Schulen unter gewissen Bedingungen aus Staatsmitteln unterstützt wurden.
Der Widerstand der Ultraklerikalen gegen die seit 1893 schwebende Heeresreform (mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) hatte 25. Febr. 1896 den Rücktritt des Ministerpräsidenten de Burlet zur Folge, worauf der bisherige Finanzminister De Smet de Naeyer (s. d.) den Vorsitz übernahm. Da die Ergänzungswahlen im Juli eine flämisch-katholische Mehrheit ergaben, genehmigten die Kammern Ende 1896 und Anfang 1898 Gesetze, die der flämischen Sprache völlige Gleichberechtigung mit der französischen in allen amtlichen Beziehungen sicherten. Bezüglich der Heeresreform teilte die neue Regierung den Standpunkt der Ultraklerikalen, die ein Heer von Freiwilligen und Milizsoldaten unter möglichster Einschränkung der Stellvertretung wünschten, und begnügte sich mit Einbringung eines Gesetzes über eine Reform der Bürgergarde (garde civique), das im August 1897 von beiden Kammern angenommen wurde.
Die immer lebhaftere Unzufriedenheit weiter Volkskreise mit dem System der Pluralstimmen und der Listenabstimmung, das den Klerikalen, trotz der weit größern Stimmenzahl der Opposition, bei den Wahlen von 1898 ein erdrückendes Übergewicht verschafft hatte, veranlaßte schließlich den König, das Ministerium zu einer Wahlgesetzreform aufzufordern, worauf dieses im Januar 1899 zurücktrat und durch ein Kabinett Vandenpeereboom (s. d.) ersetzt ward. Allein auch letzteres konnte sich zunächst zu keinem entschiedenen Schritt entschließen. Erst als sich auf der Grundlage des S. U. (suffrage universel) sowie der R. P. (représentation proportionelle) ein gefährlicher radikal-liberal-sozialistischer Dreibund gegen die Klerikalen bildete, brachte es im April ein Wahlgesetz ein, das die Einführung der Proportionalwahl, jedoch nur für die antiklerikal gesinnten 7 größern Wahlkreise des Landes, bezweckte. Da diese Bestimmung zu einer dauernden Befestigung der klerikalen Herrschaft führen mußte, schlossen sich die antiklerikalen Parteien zusammen, um das Zustandekommen der Vorlage zu vereiteln. Nach stürmischen Auftritten schlug Vandenpeereboom 4. Juli auf Veranlassung des Königs die Wahl einer neuen Kommission zur Prüfung neuer Wahlgesetzentwürfe vor. Als sich in dieser keine Einigung erzielen ließ, dankte das Ministerium ab und erhielt 5. Aug. ein zweites Kabinett De Smet de Naeyer zum Nachfolger.
Bei den Kommunalwahlen Mitte Oktober 1899 errangen die Liberalen solche Erfolge, daß die Regierung, aus Besorgnis vor einem sonst bei den nächsten Sommerwahlen in Aussicht stehenden antiklerikalen Wahlbündnis, endlich ein auf dem Proportionalsystem beruhendes, neues Wahlgesetz vorlegte. Nach heftigen Debatten und einer kurzen Kammervertagung gelangte der Entwurf 24. Nov. in der Kammer, 22. Dez. im Senat zur Annahme, nachdem zuvor ein radikaler Antrag auf Einführung des allgemeinen gleichen Stimmrechts verworfen worden war. Die auf Grund des Proportionalsystems Ende Mai 1900 stattfinden den Wahlen hatten zur Folge, daß die klerikale Mehrheit in der Kammer auf 20, im Senat auf 14 Stimmen zusammenschmolz. Bei den nun folgenden parlamentarischen Verhandlungen standen namentlich vier Fragen im Vordergrunde des Interesses: die Spielhäuser, die Zukunft des Kongostaates, die allgemeine Wehrpflicht und das allgemeine gleiche Wahlrecht. Ein Ostende und Spa bis 31. Okt. 1903 privilegierendes Senatsamendement ward 22. März 1902 von der Kammer genehmigt und dadurch eine endgültige Unterdrückung der Spielbanken herbeigeführt. Schwieriger gestaltete sich die Lösung der Frage, was nach Ablauf des Abkommens zwischen B. und dem Kongostaat vom 2. Juli 1890 (s. oben) geschehen solle. Sämtliche Parteien waren hierüber in sich selber gespalten. Während ein Teil eine Fortsetzung des bestehenden Verhältnisses, ein andrer die sofortige Preisgabe des Kongostaats wünschte, befürworteten viele dessen sofortige Einverleibung. Der Regierungsentwurf vom 29. März 1901, der einen Aufschub der Entscheidung über die Annexion verlangte, stieß anfangs auf starken Widerspruch. Erst ein im Juni an Woeste gerichtetes Schreiben Leopolds II., worin dieser, unter Berufung auf sein Testament von 1889 (das nach seinem Tode den Kongostaat unter allen Umständen den Belgiern als Kronkolonie überließ), gegen eine sofortige Einverleibung protestierte und die ihm zugedachte Rolle eines Administrators ad interim ablehnte, rief einen völligen Umschlag der Stimmung hervor und bewirkte, daß die Kammer 17. Juli 1901 der Regierungsvorlage zustimmte. Dagegen scheiterte die seit langer Zeit vom König wie von vielen Mitgliedern aller Parteien erstrebte Heeresreform auch diesmal am Widerstand der Anhänger Woestes gegen die Einführung der persönlichen Wehrpflicht, bez. die Heranziehung von Geistlichen und Ordensmitgliedern zum Militärdienst. Nach scharfen Auseinandersetzungen genehmigten Kammer (5. Dez. 1901) und Senat (20. März 1902) ein Militärgesetz, das, unter Beibehaltung des Stellvertretungssystems und des Jahreskontingents von 13,300 Mann, die Zahl, bez. Besoldung der angeworbenen Berufssoldaten erhöhte, dagegen die aktive Dienstzeit bei verschiedenen Waffengattungen auf 22–36 Monate verminderte.
Stürmisch verlief die Bewegung zugunsten der Einführung des allgemeinen gleichen Stimmrechts. Obwohl die Kammer 28. Juni 1901 einen Antrag des Radikalen Janson (s. d.), betreffend die Herbeiführung einer Volksabstimmung darüber, ablehnte, setzte die Opposition im Hinblick auf die im Mai 1902 bevorstehenden Wahlen die Agitation fort. Am 23. März 1902 fand in Brüssel eine Massendemonstration aller antiklerikalen Parteien zugunsten einer Verfassungsrevision statt, und eine Woche später beschloß der sozialistische Generalkongreß, zusammen mit den Liberalen an dem allgemeinen gleichen Stimmrecht (mit Proportionalvertretung) festzuhalten und die von den Klerikalen beantragte Verleihung des Wahlrechts an die in B. zumeist streng katholische weibliche Bevölkerung abzulehnen. Seit 8. April nahm die Bewegung einen revolutionären Charakter an. Tagtäglich kam es in Brüssel etc. zwischen sozialistischen Arbeitern und den öffentlichen Sicherheitsorganen zu blutigen Zusammenstößen. Auch begann 14. April in den großen Industriebezirken des Landes ein allgemeiner Arbeiterausstand. Am 18. April, wo die Repräsentantenkammer nach dreitägiger Debatte den Antrag auf Revision der Verfassung mit 84 gegen 64 Stimmen entgültig ablehnte, fand in Löwen abends eine förmliche Straßenschlacht statt. Dies war jedoch die letzte gewaltsame Äußerung der im Lande herrschenden Erregung; 20. April ordnete der Generalrat der Arbeiterpartei die allgemeine Wiederaufnahme der Arbeit an. Bei den am 25. Mai stattfindenden Neuwahlen siegte die klerikale Regierungspartei, deren Mehrheit in der Kammer von 20 auf 26, im Senat von 14 auf 15 Stimmen stieg.
[Geschichtslitteratur.] Urkundenpublikationen etc.: »Collection des chroniques belges inédites« (Brüss. 1836 ff.); »Collection de mémoires relatifs à l'histoire de Belgique« (das. 1858–74, 44 Bde.); »Recueil des anciennes ordonnances de la Belgique« (das. 1860 ff.); »Analectes pour servir à l'histoire ecclésiastique de la Belgique« (Löwen 1864 ff.); »Recueil des anciennes coutumes de la Belgique« (Brüss. 1867 ff.). – Einzelwerke: E. Poullet, Histoire politique nationale (2. Aufl., Löw. 1882–1892, 2 Bde.); Pirenne, Geschichte Belgiens (deutsch von Arnheim, Gotha 1899–1902, 2 Bde.; bis 1477 reichend); Namèche und Balau, Cours d'histoire nationale (Löw. 1853–94, 32 Bde.; bis 1815 reichend); Balau, 70 aus d'histoire contemporaine de la Belgique 1815–1884 (4. Aufl., das. 1891); zahlreiche Werke von P. Fredericq, Gachard, Gerlache, H. Hymans, Juste und Kervyn de Lettenhove (s. diese Artikel); Rahlenbeck, Trois régentes des Pays-Bas 1507–1567 (Brüss. 1893); Piot, Le règne de Marie-Thérèse dans les Pays-Ras autrichiens (Löw. 1874); Crousse, La guerre de la succession d'Autriche dans les provinces belgiques (Brüss. 1885); Schlitter, Die Regierung Josephs II. in den österreichischen Niederlanden, Bd. 1 (Wien 1900); Zeißberg, Zwei Jahre belgischer Geschichte 1791–1792 (das. 1891); Lanzac de Laborie, La domination françaiseen Belgique 1795–1814 (Par. 1895, 2 Bde.); Delplace, La Belgique sous la domination française (Löw. 1896, 2 Bde.); Derselbe, »La Belgique sous Guillaume I, roi des Pays-Bas« (das. 1899); Nothomb, Essai historique et politique sur la révolution belge (1. Aufl., Brüss. 1876, 2 Bde.); Thonissen, La Belgique sous le règne de Léopold I (Löw. 1861, 3 Bde.); Vanderkindere, Histoire de la formation territoriale des principautés belges an moyen-âge (Brüss. 1899, Bd. 1); Defacqz, Ancien droiten Belgique (das. 1846–73, 2 Bde.); van Bruyssel, Histoire du commerce et de la marineen Belgique (das. 1861–65, 3 Bde.); Lebon, Histoire de l'enseignement populaire en Belgique (das. 1868). – Zeitschriften etc.: »Archives belges, revue critique d'historiographie nationale« (hrsg. von Kurth, Lüttich 1899 ff.); »Bulletins de la Commission d'histoireen Belgique« (Brüss. 1834 ff.); »Biographie nationale« (hrsg. von der belgischen Akademie, das. 1866 ff.); Pirenne, Bibliographie de l'histoire de Belgique (2. Aufl., Gent u. Brüss. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.