Naturphilosophie

Naturphilosophie

Naturphilosophie (die »rationale Kosmologie« der ältern Schulsprache) heißt der Teil der Metaphysik, der sich mit der materiellen Außenwelt beschäftigt, im Gegensatz zur Geistesphilosophie, deren Objekt die geistige Well ist. Wie diese zur Psychologie, so steht jene zur Naturwissenschaft in näherer Beziehung. Im griechischen Altertum waren (wie das Beispiel des Aristoteles zeigt) N. und Naturwissenschaft noch ungeschieden, und auch die Begründer der neuern Naturerkenntnis (Kopernikus, Galilei, Kepler, Descartes) kennen noch keinen Unterschied beider Gebiete, der erst hervortrat, als man anfing, das Geschäft der (empirischen) Feststellung von Tatsachen und das der Erklärung derselben zu trennen. Bei Newton und noch heute im englischen Sprachgebrauch ist deshalb N. soviel wie theoretische (mathematisch deduktive) Naturlehre, und in ähnlichem Sinne nimmt auch Haeckel für die durch die Deszendenztheorie versuchte Erklärung der organischen Welt (im Gegensatz zu der in der Naturgeschichte enthaltenen bloßen Beschreibung und Klassifikation der Lebewesen) den Namen N. in Anspruch. Seit Wolff und Kant verstand man in Deutschland im allgemeinen unter N. in nochen germ Sinne den In begriff der unabhängig von aller Erfahrung, lediglich durch philosophische Spekulation zu gewinnenden Naturerkenntnis. In diesem Sinne unternahmen es besonders Schelling und Hegel, die ganze Natur begrifflich zu konstruieren. Die Verachtung aller Erfahrung, die sie zur Schau trugen, und die Willkürlichkeit ihrer Naturdeutung brachten jedoch diese spekulative N. bei den Naturforschern in Mißkredit, die nun ihrerseits nur die nackte Erfahrung gelten lassen wollten und die philosophische Naturauffassung prinzipiell als wertlos verwarfen. Erst in der Gegenwart dringt mehr und mehr die Einsicht durch, daß Naturwissenschaft und N. nicht im Gegensatze zueinander stehen, sondern sich ergänzen. Der Bereich jener erstreckt sich so weit, als die Erfahrung reicht; sie hat die Tatsachen festzustellen und zu deren Erklärung geeignete Annahmen über die Stoffe und Kräfte zu bilden. Hierbei zeigt sich aber, daß sie auf verschiedenen Gebieten (z. B. in der Physik und in der Chemie) oft zu abweichenden, nicht harmonierenden Grundvorstellungen geführt wird, außerdem bleiben Fragen übrig, die sich (wie die nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt, nach dem Ursprung und der Bedeutung des geistigen Lebens in der Natur etc.) überhaupt auf Grund der Erfahrung nicht lösen lassen. So wird es zur Aufgabe der N., die Resultate der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen zusammenzufassen, die in ihnen entwickelten Begriffe über das Wesen der Stoffe und Kräfte so zu gestalten und nötigenfalls weiterzubilden, daß sie nicht nur der Erfahrung, sondern auch den allgemeinen logischen Forderungen unsers Denkens (wie sie in den Begriffen der Substanz und Kausalität sich ausdrücken) genügen, und schließlich auch dafür zu sorgen, daß der Inhalt unsrer Naturauffassung sich mit den Tatsachen der geistigen Welt zu einer umfassenden Weltanschauung verknüpfen läßt. Vgl. Schaller, Geschichte der N. von Bacon von Verulam bis auf unsre Zeit (Leipz. 1841–1846, 2 Bde.); Fr. Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft (das. 1881–82, 2 Bde.); Wundt, Logik, 2. Aufl., Bd. 2, Abt. 1 (Stuttg. 1894); Ostwald, Vorlesungen über N. (2. Aufl., Leipz. 1903); E. v. Hartmann, Die Weltanschauung der modernen Physik (das. 1902); Reinke, Die Well als Tat (4. Aufl., Berl. 1905).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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