Kulturgeschichte

Kulturgeschichte

Kulturgeschichte, die Geschichte des innern gesellschaftlichen Lebens der Menschheit in seiner sozialen und geistigen Entwickelung gegenüber der früher schlechthin als »Weltgeschichte« bezeichneten politischen oder Staatengeschichte, ein jüngerer, in neuerer Zeit mit Vorliebe gepflegter und temperamentvoll verteidigter Zweig der allgemeinen Geschichtschreibung. Man hatte früher allzusehr den Einfluß einzelner Persönlichkeiten auf die Geschicke der Völker und selbst auf die Gestaltung ihres intimen Lebens in den Vordergrund gestellt, eine sehr natürliche Folge der ehemals vorzugsweise von den Machthabern, wie Julius Cäsar, oder besoldeten Staatshistoriographen besorgten Geschichtschreibung, die nur zu leicht vergißt, daß auch die leitende Persönlichkeit mehr oder weniger ein Kind ihrer Zeit bleibt, und dadurch in Heroenkultus oder Parteilichkeit ausartet, während das Studium der Völker nach ihrem allgemeinen sozialen und geistigen Zustand vernachlässigt wird, als ob es sich bei ihnen um willen- und charakterlose, nach jeder Richtung lenkbare Massen handelte, deren Auge und Verstand in der Regierung allein verkörpert wären. Wenn auch für eine solche Geschichtsauffassung bei niedriger stehenden Völkern eine gewisse Berechtigung vorhanden sein mag, so zeigt sich ihre Schwäche sogleich in der Schilderung solcher Perioden, in denen die Völker sich zu fühlen beginnen und geistige Bewegungen die Oberhand gewinnen, die von innen heraus zu Reformen führen, oder in denen die Völker selbst ihre Geschicke in die Hand nehmen. Der wesentliche Unterschied zwischen K. und Staatengeschichte prägt sich darin aus, daß letztere eigentlich nur das Geschehene registriert und von einem festgefaßten subjektiven Standpunkt aus zu erklären und zu beurteilen sucht, während die K. mehr in das innere Leben der Zeit zu dringen und daraus die Geschehnisse als Folgen eines natürlichen Entwickelungsvorganges zu erklären und zu verstehen strebt. Der Mensch ist in solcher Auffassung nicht das unbedingt freie Wesen, sondern ein Produkt seines Landes, seiner Rasse und Zeit, in einem solchen Grade, daß der einzelne gewöhnlich mit seinen Mitmenschen in Konflikt gerät, sobald er aus dieser bestimmten Kulturepoche heraustritt oder seiner Zeit vorauseilt. Ein tieferes Eindringen in diese Bedingungen erfordert somit ein Hinausgehen über die mit persönlichen Absichten behafteten schriftlichen und künstlerischen Denkmäler der Zeiten und eine Vertiefung in das gesamte soziale Leben, Abstammung, Lebensweise, Ernährung, Wohnungsart, Hygiene, Kleidung, Möbel und Geräte, Sitten und Gebräuche, Rechtsanschauungen, Glauben und Aberglauben der einzelnen Epochen. Die Kulturgeschichtsforschung tritt somit durchaus in keinen wirklichen Gegensatz zur Geschichtschreibung. Sie verkennt keineswegs die Wichtigkeit einer genauen Feststellung der oft von Persönlichkeiten beeinflußten und geleiteten Begebenheiten und den Wert ihrer unparteiischen Darstellung; allein sie umfängt wie ein allgemeiner Hintergrund die epische Darstellung, sie sucht die Schlüssel zu einem tiefern Verständnis der Ursachen des Geschehenen zu geben und erklärt dadurch sattsam das große Interesse, das sie in neuerer Zeit erregte. Außerdem ergänzt sie die Geschichte, namentlich was die ältesten Zeiten betrifft, indem sie an Stelle der absichtsvoll erfundenen Herkunftsmythen Fundtatsachen der vorgeschichtlichen Forschungen setzt; so findet die sogen. »Vorgeschichte« endlich ihr angestammtes Recht auf den ersten Seiten einer echten Universalgeschichte.

Ihre eigne Geschichte begann mit der Bevorzugung der Sittengeschichte in der allgemeinen Geschichtschreibung, gewissermaßen mit einem Blick hinter die Kulissen des Welttheaters, die aber anfangs meist in eine aus den Memoiren der Zeit geschöpfte Geschichte der Höfe von seiten abgedankter Staatsbeamten und Höflinge ausartete, als ob die Schilderung des Volkslebens gar keine Aufmerksamkeit verdient hätte und den Poeten überlassen bleiben müßte. In späterer Zeit traten die Interessen an der religiösen, literarischen und rechtsgeschichtlichen Entwickelung zu der bloßen Schilderung der sittengeschichtlichen Zustände hinzu. In dieser Richtung haben namentlich Montesquieu, Voltaire und Gibbon im 18. Jahrh. der modernen Kulturgeschichtschreibung vorgearbeitet. Eine erhebliche Vertiefung mit Anbahnung eines universalgeschichtlichen Standpunktes erfuhr die Geschichtschreibung sodann durch Herder, der mit seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit« (1784) die neue, noch nicht ausgeschöpfte Epoche der Geschichtschreibung einleitete, während Heeren in seinen »Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt« (1793) namentlich den Einfluß der Handelsbeziehungen auf die Wege der Kultur darlegte. Das im 19. Jahrh. mächtig geförderte Studium der Anthropologie und Ethnologie bereitete der allgemeinern Auffassung des Problems zuerst eine wissenschaftliche Grundlage, indem sie zeigte, von welchen Zuständen man auszugehen habe, um die untersten Kulturstufen zu begreifen. In dieser Richtung ist das Werk von H. KlemmAllgemeine K.«, Leipz. 1842–53, 10 Bde.) bahnbrechend geworden. Einen fernern wichtigen Anstoß, der heute freilich in keiner Weise mehr zu rechtfertigen ist, gab sodann H. T. Buckle in seiner »Geschichte der Zivilisation in England« (zuerst 1857), worin der Einfluß der natürlichen Bedingungen (Bodengestaltung, Klima etc.) auf die Entwickelung der Individualität der Völker in Betracht gezogen wurde, ein Gesichtspunkt, der in Friedr. Ratzels »Anthropogeographie« (Stuttg. 1882 bis 1891, 2 Bde.; 1. Bd. in 2. Aufl. 1899) geläuterter in den Vordergrund tritt. Das Auftreten Darwins, die von ihm eingeleitete Zurückforderung des Menschen für die Naturgeschichte, die mit Eifer in Angriff genommenen Studien über das Auftreten des vorhistorischen Menschen in Europa und andern Ländern, die damit gewonnenen Vergleichspunkte der Menschen aller Zeiten und Zonen untereinander haben zu einer mächtigen Bewegung auf diesem Gebiet geführt, deren Ziel dahin geht, die allgemeine K. zu einer Entwickelungsgeschichte der Menschheit auszubauen. Hierfür sind namentlich die Schriften von E. TylorEarly history of mankind«, 1870; deutsch, Leipz. 1873), LubbockThe origin of civilization, and the primitive condition of man«, 1870; deutsch, Jena 1875), Ratzel (s. oben) und seinem Schüler Heinrich SchurtzUrgeschichte der Kultur«, Leipz. 1900) zu nennen. Von einer verwandten Weltanschauung ist auch Helmolts (s. d.) »Weltgeschichte« (Leipz. 1899 ff., 9 Bde.) ausgegangen. Casparis »Urgeschichte der Menschheit« (2. Aufl., Leipz. 1877, 2 Bde.) ist namentlich in psychologischer Beziehung ideenreich; Herbert Spencers »Prinzipien der Sociologie« (deutsch, Stuttg. 1877 ff.) behandeln speziell die Entstehung der Staatsformen, Sitten und Gebräuche. Hier schließen sich die Arbeiten über die Entwickelung der Familie, der Sprache, Religionsvorstellungen, des Rechts, der Kunst etc. an, die bei den betreffenden Artikeln angeführt sind. Die äußersten Konsequenzen dieser naturalistischen Auffassung der K. zog Friedr. v. Hellwald (s. d. 1) in seiner »K. in ihrer natürlichen Entwickelung bis zur Gegenwart«, worin er die Notwendigkeit der alten Priesterherrschaften, Tyrannei und Sklaverei etc. als unvermeidlicher Durchgangsstufen der Entwickelung darstellt (die neueste Ausgabe des Werkes ist wesentlich umgestaltet). Die Übergangszeit von der Vorgeschichte zur Geschichte behandelt Lenormant in seinen »Anfängen der Kultur« (deutsch, Jena 1875, 2 Bde.). Neuere Bestrebungen, die mit dem Werke Gobineaus über die Ungleichheit der Menschenrassen ihren Ursprung nahmen, suchen den Anteil der einzelnen Rassen an den Kulturfortschritten zu ermitteln und haben namentlich gegenüber dem Vorurteile der alten Historiker, wonach semitische und hamitische Völker (Ägypter, Assyrer, Juden, Phöniker) die Hauptkulturträger gewesen sein sollten, den Anteil der Arier und im besondern der germanischen Rassen betont, wie dies namentlich in den Werken von Ammon, Wilser, Much, Krause und Houston S. Chamberlain geschehen ist. Von den Werken, die teils die K. mehr im allgemeinen, teils besondere Abschnitte (Sittengeschichte) und Zeitepochen behandeln, seien erwähnt: W. Wachsmuth (»Europäische Sittengeschichte«, Leipz. 1831–39, 5 Bde., und »Allgemeine K.«, das. 1850 bis 1852, 3 Bde.), G. F. Kolb (»K. der Menschheit«, 3. Aufl., das. 1884, 2 Bde.), O. Henne am RhynAllgemeine K.«, 2. Aufl., das. 1877–97, 7 Bde.; »K. des deutschen Volkes«, 2. Aufl., Berl. 1892, 2 Bde., »Handbuch der K.«, Leipz. 1900), Lippert (»K. der Menschheit in ihrem organischen Aufbau«, Stuttg. 1886), G. Hoyns (»Die alte Welt in ihrem Bildungsgang als Grundlage der Kultur der Gegenwart«, Berl. 1876), Riehl (»Kulturstudien aus drei Jahrhunderten«, 6. Aufl., Stuttg. 1903), H. Rückert (»K. des deutschen Volkes in der Zeit des Überganges aus dem Heidentum in das Christentum«, Leipz. 1853), Joh. ScherrDeutsche Kultur- und Sittengeschichte«, 11. Aufl., das. 1902), Karl Grün (»K. des 16. Jahrhunderts«, das. 1872), J. J. Honegger (»Grundsteine einer allgemeinen K. der neuesten Zeit«, das. 1868–1874, 5 Bde., u. a.), Faulmann (»Illustrierte K.«, Wien 1881), Noiré (»Das Werkzeug«, Mainz 1880), FelixEntwickelungsgeschichte des Eigentums«, Leipz. 1883–1903, 4 Bde.), Beck (»Geschichte des Eisens«, Braunschw. 1892–1903, 5 Abt.), GruppSystem und Geschichte der Kultur«, Paderb. 1892, 2 Bde., und »Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit«, Münch. 1902–04, 2 Bde.). Das Mittelalter behandeln in diesem Sinne: G. Grupp (Stuttg. 1894, 2 Bde.), Löher (Münch. 1891–94, 3 Bde.) und Kleinpaul (Leipz. 1894, illustriert), Henne am Rhyn (»Die Kreuzzüge«, 3. Aufl., das. 1903), Alwin Schultz (»Das höfische Leben«, u. Aufl., Leipz. 1889, 2 Bde.; »Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert«, Wien u. Prag 1892; »Das häusliche Leben«, Münch. 1903, u. a.). Einzelne Kapitel der K. behandeln HellwaldHaus und Hof«, Leipz. 1888), Bintz (»Deutsche Kulturbilder aus sieben Jahrhunderten«, Hamb. 1893, 2 Bde.), Scherr (»Geschichte der deutschen Frauenwelt«, 5. Aufl., Leipz. 1898), Henne am Rhyn (»Die Frau in der K.«, Berl. 1893; »Kulturgeschichte des jüdischen Volkes«, 2. Aufl., Jena 1892). In Breysigs breit angelegter »Kulturgeschichte der Neuzeit. Vergleichende Entwickelungsgeschichte der führenden Völker Europas« (Berl. 1900 f., bis jetzt 3 Bde.) umfaßt Kultur alle sozialen Einrichtungen und das gesamte geistige Schaffen (Verfassung und Verwaltung, Recht und Sitte, Klassen und Stände, Dichtung und bildende Kunst, Wissenschaft und Glauben). Während aber Breysig vorderhand noch im spätern Mittelalter steht, hat Karl Lamprecht (s. d.) dasselbe Ideal, wenn auch teilweise von andern (massenpsychologischen) Gesichtspunkten ausgehend, für ein räumlich beschränkteres Gebiet in seiner »Deutschen Geschichte« (Berl. u. Freiburg i. Br. 1891 ff.) nahezu durchgeführt. Georg Steinhaufen legt in seiner »Geschichte der deutschen Kultur« (Leipz. 1904) besonderes Gewicht darauf, die Wandlungen aufzuzeigen, die der deutsche Mensch im Laufe der Jahrhunderte nachweisbar durchgemacht hat. Eine neue Form von K., die Stimmungs geschichte, brachten W. Wenck (»Deutschland vor 100 Jahren«, Leipz. 1887–90, 2 Bde.) und namentlich P. Holzhausen auf; letzterer schöpft seit 1898 das Zeitalter Napoleon Bonapartes (unter anderm: »Bonaparte, Byron und die Briten«, Frankf. a. M. 1904) stimmungsgeschichtlich aus. Unter dem Gesamttitel »Natur und Staat« (Jena, seit 1903) erschien eine Reihe von Preisschriften zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre; »Monographien zur deutschen K.« gibt Steinhaufen heraus (Leipz. u. Jena 1899 ff.). Von ausländischen Werken sind außer den die Bedeutung des »milieu« predigenden »Origines de la France contemporaine« des geistreichen Taine (s. d.) vornehmlich die des wesentlich auf dem Standpunkt Buckles stehenden Amerikaners J. W. Draper (s. d.), die von W. H. Lecky (s. d.) und Paul Lacroix (s. d. 2) zu nennen. Von Bilderwerken sind hervorzuheben: Hirths »Kulturgeschichtliches Bilderbuch« (2. Aufl., Münch. 1895–1901, 6 Bde.), Eyes »Atlas der K.« (Leipz. 1875), Essenweins »Kulturhistorischer Bilderatlas, Mittelalter« (das. 1885). Vgl. Jodl, Die Kulturgeschichtschreibung (Halle 1878); Lamprecht, Die kulturhistorische Methode (Berl. 1900) und Moderne Geschichtswissenschaft (Freiburg i. Br. 1905); Breysig, Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte (Berl. 1905); »Zeitschrift für K.« (4. Folge der »Zeitschrift für deutsche K.«, hrsg. von Steinhaufen, Berl. 1893–1902); »Archiv für K.« (hrsg. von demselben, das. 1903 ff.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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