- Bewußtsein
Bewußtsein, im Gegensatze zum bloßen Sein die hinzukommende, nicht näher zu definierende Fähigkeit eines Wesens, sich des Wechsels seiner Zustände und dadurch auch seiner Beziehungen zur Außenwelt »inne zu werden«. Ob ein von keinem B. begleitetes und getragenes Sein überhaupt denkbar ist, das ist eine Frage, die vom transzendentalen Realismus (s. d.) ebenso entschieden bejaht wie vom transzendentalen Idealismus verneint wird. Letzterer betont, daß alles Seiende Objekt des es vorstellenden Bewußtseins ist, ersterer, daß das B., d. h. die Fähigkeit des Empfindens und Wahrnehmens, auf einen kleinen Bruchteil alles Seienden eingeschränkt ist. Die empirische Psychologie stellt sich im allgemeinen auf den realistischen Standpunkt und betrachtet das individuelle B. als gebunden an ein einzelnes körperliches Individuum. Unmittelbar gegeben ist uns streng genommen sogar nur die Sphäre des eignen Bewußtseins, wir nehmen aber nach Analogie an, daß auch die Mitmenschen und die höhern Tiere B. besitzen, wogegen die leblosen Gegenstände allgemein für bewußtlos gehalten werden. Eine scharfe Grenze läßt sich aber der Natur der Sache nach nicht ziehen, und die Hypothese, daß auch die niedern Tiere, die Pflanzen, die einzelnen Organe und Zellen des zusammengesetzten Organismus, ja selbst die Atome B. besitzen, ist nicht zu widerlegen. Das charakteristische Merkmal des Bewußtseins ist seine Einheitlichkeit und Kontinuität. Stets umfaßt das B. eine Mehrheit unterscheidbarer Inhalte (Eindrücke, Vorstellungen), und wenn auch die Zahl derselben eine beschränkte ist (nach experimentellen Bestimmungen bilden 16–40 das Maximum, Enge des Bewußtseins), so wirkt doch der Bewußtseinsinhalt des jetzigen Augenblicks auch in den folgenden Augenblicken noch nach, so daß sich die sukzessiven Bewußtseinslagen zu einer Einheit zusammenschließen; ein nur durch einen Eindruck erfülltes, bloß momentanes B. wäre überhaupt kein B. mehr. Kant definiert daher das B. als eine zu der Vielheit der Eindrücke hinzutretende, sie zusammenfassende Tätigkeit, wogegen der Sensualismus (s. d.) umgekehrt die Einheit des Bewußtseins aus der von selbst sich vollziehenden Verbindung der Eindrücke (Bewußtseinsinhalte) abzuleiten sucht. Ersterer hat darin recht, daß das erst nachträgliche Zustandekommen der Bewußtseinseinheit ganz unbegreiflich, letzterer darin, daß die Verbindung der Bewußtseinsinhalte unerläßliche Bedingung jener Einheit ist. Je inniger und vielseitiger die Beziehungen der Inhalte, desto vollkommener ist daher auch die Einheit des Bewußtseins, dagegen erscheint sie aufgehoben oder unterbrochen, wenn (wie im Traum, in Zuständen des Irreseins) jene Beziehungen locker sind oder ganz fehlen. Dementsprechend kann man (bei den höhern Tieren) die Großhirnrinde, deren Leitungsbahnen die Verbindung der Empfindungen und sonstigen elementaren Bestandteile des Seelenlebens untereinander ermöglichen, als das körperliche Organ des Bewußtseins betrachten und nach dem Grade der Ausbildung dieses Organs die Höhe der Bewußtseinsentwickelung beurteilen. Das individuelle B. zeigt aber auch in sich selbst noch mannigfache Abstufungen oder Klarheitsgrade. Der höchsten Klarheit erfreuen sich die Inhalte, denen jeweilig die Aufmerksamkeit zugewendet ist (vgl. Apperzeption), einer geringern die mehr oder minder unbeachtet nebenher laufenden, der geringsten endlich jene, von denen wir direkt nichts wissen, die aber (wie die Obertöne eines Klanges, die elementaren Bestandteile des Gemeingefühls) als vorhanden vorausgesetzt werden müssen, um die Erscheinungen des bewußten Seelenlebens vollständig erklären zu können. Wenn diese Inhalte häufig unbewußte genannt werden, so bezeichnet doch dieser Begriff hier nicht einen Gegensatz zum B., sondern nur den geringsten Grad des Bewußtseins. Die Annahme absolut unbewußter seelischer Zustände und Tätigkeiten führt aus dem Gebiete der Psychologie in das der Metaphysik hinüber.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.