Rationalismus

Rationalismus

Rationalismus (v. lat. ratio, »die Vernunft«), in der Theologie die Denkweise, die in der menschlichen Vernunft die Quelle oder wenigstens den Maßstab der Religion und im sittlichen, zur Glückseligkeit führenden Handeln ihren eigentlichen Inhalt erblickt. Als innerhalb der Kirche anerkannte Denkweise konnte sich der theologische R. erst auf dem Boden des Protestantismus ausbilden, besonders seitdem in England die sogen. Freidenker (s. Deismus) nicht nur einzelne christliche Dogmen, sondern den Begriff der Offenbarung selbst einer strengen Kritik unterzogen, während die Freigeister (esprits forts) in Frankreich vollends als die wahre Philosophie einen platten Naturalismus zu begründen gesucht hatten. Anders gestalteten sich die Dinge in Deutschland, wo im sogen. Zeitalter der Aufklärung (s. d.) der ursprüngliche Supernaturalismus (s. d.) der protestantischen Theologie, der nur einen formalen, d. h. auf die systematische Darstellung der Dogmen gerichteten, Vernunftgebrauch gestattete, angeregt durch die dogmengeschichtlichen Studien, wie sie Semler (s. d.), die exegetischen, wie sie Ernesti (s. Hermeneutik) und J. D. Michaelis (s. d. 1) anbahnten, und die allgemein kulturhistorischen Impulse, wie sie von Lessing (s. d.) und Herder (s. d. 1) ausgingen, zu einer vorurteilslosern Prüfung des Bibelinhalts fortschritt. Vollendet erscheint dieser theologische R. erst in Kants Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793) mit ihrer Abzielung auf den reinen moralischen Vernunftglauben. In der Folge ward nun die positive Religion mehr und mehr bloß als äußere Handhabe der Moral betrachtet und das eigentlich Religiöse auf wenige abstrakte Sätze zurückgebracht. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit waren die Lieblingsideen, um die sich der rationalistische Religionsunterricht und die rationalistische Predigt bewegten. Der R. hat ein Verstandeschristentum aufgestellt, dem, so ehrlich und treu es gemeint war, doch das Frische, Kräftige, Lebensvolle und Poetische des biblischen Christentums gänzlich abging. Diesen ins Platte und Triviale ausartenden R. pflegt man als R. vulgaris, d. h. ordinären R., zu bezeichnen. Über dem Eifer in seiner Verurteilung hat man vielfach vergessen, daß der Emanzipation der weltlichen Kultur von der kirchlichen Führung, wie sie sich im Zeitalter des R. vollzog, auf protestantischem Boden Notwendigkeit zukam, wie denn auch der R. ein wesentliches Moment der reformatorischen Frömmigkeit, das sittliche Ideal der Pflichtübung, bewahrt und nach der Seite einer universellen Humanität erweitert hat. Als die vorzüglichsten Vertreter des wissenschaftlichen R. sind die Dogmatiker Wegscheider (s. d.) und Bretschneider (s. d. 2), der durch seine natürliche Wundererklärung epochemachende Exeget H. E. G. Paulus (s. d.) und der Kanzelredner Röhr (s. d.) hervorzuheben. Schleiermacher hat in seiner »Glaubenslehre« den Gegensatz zwischen R. und Supernaturalismus vor allem durch eine tiefere Erfassung des Begriffs der Religion überwunden. Vgl. Stäudlin, Geschichte des R. (Götting. 1826); Hase, Theologische Streitschriften (Jena 1834 bis 1837, 3 Hefte; wieder abgedruckt in den »Gesammelten Werken«, Bd. 8, Leipz. 1892); Rückert, Der R. (das. 1859); Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik, Bd. 3 und 4 (Berl. 1862 und 1868); G. Frank, Geschichte der protestantischen Theologie, Bd. 3 und 4 (Leipz. 1875 und 1905); Landerer, Neueste Dogmengeschichte (hrsg. von P. Zeller, Heilbronn 1881); Rönning, Rationalismens Tidsalter (Kopenh. 1886–99, 3 Tle.); Benn, History of rationalism in the 19. century (Lond. 1906, 2 Bde.). – In der Philosophie versteht man unter R. im weitern Sinne die Annahme, daß die Welt überhaupt für uns begreiflich sei, daß das Gegebene sich in eine umfassende logische Ordnung bringen, in feste Begriffe fassen lasse; im engern Sinne die Voraussetzung, daß es möglich sei, alle Wahrheiten, mögen sie nun bloß formaler Art sein oder sich auf Tatsachen beziehen, unabhängig von aller Erfahrung aus den Grundbegriffen des Denkens heraus zu entwickeln. Im erstern Sinn ist jede Wissenschaft, als denkende Bearbeitung des Erfahrungsinhaltes, selbstverständlich rationalistisch, dagegen ist der R. im engern Sinne, der folgerecht durchgedacht sich zum Panlogismus (s. d.) entwickeln muß, ein bestrittenes Dogma einzelner philosophischer Schulen. Der Keim dazu liegt schon in der Ideenlehre des Platon; in der Neuzeit stellten Descartes, Spinoza, Leibniz, die Hauptvertreter des R., die Forderung auf, daß nach dem Vorbilde der Mathematik auch die Philosophie versuchen müsse, alle besondern Wahrheiten aus allgemeinen Axiomen und Definitionen abzuleiten, und betrachteten demgemäß die Erfahrungserkenntnis als eine nur unvollkommene Vorstufe der reinen Vernunfterkenntnis. Kant suchte zwar die Unmöglichkeit der letztern nachzuweisen, zeigt sich aber selbst noch stark vom Geiste des R. beherrscht, der bei Hegel wieder sich zu voller Blüte entfaltete. Als Gegensätze vgl. Positivismus und Empirismus.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Rationalismus — (lat. ratio: Vernunft) bezeichnet philosophische Strömungen und Projekte, die rationales Denken beim Erwerb und bei der Begründung von Wissen für vorrangig oder sogar für allein hinreichend halten. Damit verbunden ist eine Abwertung anderer… …   Deutsch Wikipedia

  • Rationalismus — (vom lat. Ratio, die Vernunft), 1) im Allgemeinen die Maxime des Denkens, nur das für wahr zu halten, was man entweder aus nothwendigen od. aus überwiegend wahrscheinlichen Gründen für gültig halten muß, also die Denkart, welche sich überall das… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Rationalismus — (vom lat. ratĭo, d.i. Vernunft), im philos. Sinne die Richtung, welche die Quelle der Erkenntnis nicht in der sinnlichen Erfahrung, sondern im gesetzmäßigen Denken der Vernunft sieht; im theol. Sinne die Denkweise, welche die religiöse Erkenntnis …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Rationalismus — Rationalismus, Vernunftglaube. In wissenschaftlicher Beziehung ist das Rationelle dem Empirischen entgegengesetzt. Der R. verwirft alle Gesetze und Bedingungen der Erfahrung und läßt nur das für wahr und richtig gelten, was auf die tiefste… …   Damen Conversations Lexikon

  • Rationalismus — (vom vieldeutigen lat. ratio), die Anerkennung u. Durchführung des Grundsatzes, nichts Gegebenes od. Erfahrungsmäßiges als wahr hinzunehmen, ohne dasselbe geprüft, begriffen und vernunftgemäß gefunden zu haben. Insofern die Grundvoraussetzung des …   Herders Conversations-Lexikon

  • Rationalismus — Ra|ti|o|na|lịs|mus 〈m.; ; unz.〉 1. Auffassung, dass die Welt von vernünftiger, d. h. logischer, logisch berechenbarer Beschaffenheit sei 2. jede Lehre, die die Vernunft, das log. Denken in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt; Ggs Empirismus 3 …   Universal-Lexikon

  • Rationalismus — Ra|ti|o|na|lis|mus der; <zu ↑...ismus>: 1. erkenntnistheoretische Richtung, die das rationale Denken als einzige Erkenntnisquelle ansieht. 2. vom Rationalismus (1) geprägte Geisteshaltung …   Das große Fremdwörterbuch

  • Rationalismus — rational, rationalisieren, Rationalismus, Rationalist, rationalistisch, Rationalität, rationell ↑ Ratio …   Das Herkunftswörterbuch

  • Rationalismus (Architektur) — Der Rationalismus ist eine architektonische Stilbewegung der späten 1920er Jahre, der sich durch eine Rationalisierung im Sinne einer Abstraktion durch Reduktion von architektonischen Grundelementen sowie dem bewussten Einsatz, damals… …   Deutsch Wikipedia

  • Rationalismus in der Pädagogik — racionalistinė pedagogika statusas T sritis švietimas apibrėžtis Pedagogikos kryptis sprendžiant ugdymo problemas pabrėžianti proto vaidmenį. Racionalizmo terminas pradėtas vartoti XIX a., nors jau graikų filosofas Parmenidas protą laikė tiesos… …   Enciklopedinis edukologijos žodynas

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”