Lyrik

Lyrik

Lyrik (lyrische Poesie) ist diejenige Gattung der Poesie, in der das lyrische Element die Herrschaft besitzt; das lyrische Element liegt aber dort vor, wo nicht sowohl bestimmte (auf unser Gefühl wirkende) Vorstellungsgebilde die Seele des schaffenden Dichters zur Darstellung anregen, sondern wo lebhafte Gefühle und Affekte den Hauptinhalt seiner innern Erregung ausmachen und von ihm in zulänglicher Weise poetisch verkörpert werden; das lyrische Element macht sich mit andern Worten immer in dem subjektiven Gemütsanteil, der das Vorstellungsleben begleitet, geltend. Da Gefühle niemals isoliert in unserm Geistesleben vorkommen, sondern stets mit Vorstellungen verbunden sind, so können sie im lyrischen Element auch nicht allein obwalten, sondern nur als dessen herrschender Bestandteil erscheinen. Solches Übergewicht des Gefühls macht sich bereits in gewissen Grundformen der Sätze unsrer Sprache geltend, die denn auch gleichsam als die Urzellen der L. angesehen werden können: in den sogen. Ausrufungssätzen, denen (mit überwiegendem Vorstellungsgehalt) die erzählenden und beschreibenden Aussagesätze gegenüberstehen. Die Ausrufungssätze treten aber wiederum in zwei Formen hervor, die beide zur Erläuterung des lyrischen Elements heranzuziehen sind: als eigentliche Gefühlssätze und als Befehls- und Wunschsätze. Die eigentlichen Gefühlssätze liegen z. B. vor in Wendungen, wie: »Welch ein Wunder!« oder: »O herrliches Bild!« Für Wunsch- und Befehlssätze gibt es unzählige Beispiele. Den Ausrufungssätzen stehen durch lebhaften Gefühlswert nahe die Fragesätze, bei deren Äußerung der Sprechende in der Regel von einem kräftig hervortretenden Gefühl des Zweifels und der Spannung beherrscht ist. Diese Gefühls-, Wunsch-, Befehls- und Fragesätze bilden die eigentliche Grundlage des lyrischen Elements, und solche Erzeugnisse, in denen dies lyrische Element rein und unmittelbar in die Erscheinung tritt, sind die der reinen oder unmittelbaren L. So ergeht sich z. B. Goethes »Mailied« (»Wie herrlich leuchtet mir die Natur«) vorwiegend in Gefühlssätzen, in dem Volkslied »Wenn ich ein Vöglein wär'« ist der Wunsch, in Schubarts »Kaplied« (»Auf, auf! ihr Brüder! und seid stark!«) ist der Befehl und in Goethes zweitem »Mailied« (»Zwischen Weizen und Korn«) ist die Frage der dominierende Bestandteil der seelischen Äußerung. Neben solch reiner oder unmittelbarer L. hat die mittelbare L. ein großes Geltungsgebiet gewonnen: sie liegt dort vor, wo sich das lyrische Element an eines der andern poetischen Elemente (das erzählende, das beschreibende, das reflektierende oder das dramatische) anschließt und mittelbar durch diese zum Ausdruck kommt.

Alle L. feiert die ästhetischen Reize des Lebens, und es ist entweder das Schöne oder das Erhabene, was die Seele des Dichters in Schwingung versetzt. Wenn sich in dem Schönen (s. d.) die normale und ungehemmte Entwickelung des Lebens offenbart, so betätigt sich in dem Erhabenen (s. d.) die über das Normale hinausgehende Kraft der schaffenden Natur; während die Affekte, mit denen wir das erstere begleiten, eine mittlere Intensität nicht überschreiten, erhebt sich unsre Seele bei der Vergegenwärtigung des Erhabenen zu stürmischer Bewegung. Diesem Gegensatz milderer und starker lyrischer Affekte entsprechen die lyrischen Hauptgattungen des Liedes und der Ode. Bildet das Wohlgefühl des Schönen das eigentliche Ziel, nach dem der Dichter verlangt, so wird er zum Liede hinneigen, dagegen wenn ihn die Kraft des Erhabenen fesselt, zur Ode. Lebt er in Zeiten primitiv volkstümlicher Kultur, so wird sich ihm das Schöne in der Form des Idyllischen (s. Idyll) und das Erhabene in der Form des Heroischen darstellen. Aber verhältnismäßig selten verkünden die Dichter die Freude des ungetrübten Besitzes: weit häufiger ist das Schöne und Erhabene Gegenstand der Sehnsucht, die Entbehrung des Glückes Inhalt der lyrischen Klage. Der derart sein Ideal vermissende Dichter wird, je nach seiner besondern psychischen Disposition, den Stimmungen elegischer Trauer, der Satire, der Ironie oder auch des versöhnenden Humors (s. die betreffenden Artikel) Ausdruck verleihen, Stimmungen, deren ausgeprägter Charakter zur Unterscheidung lyrischer Untergattungen (der Satire, Elegie etc.) verwertet worden ist. Weiterhin dienen die Lebenssphären, auf die sich die lyrischen Bekenntnisse beziehen, zu ihrer bequemen Gruppierung: so werden sich etwa die individuellen Kämpfe in ihnen spiegeln, die Schicksals-, Willens- und Zustandsgefühle des ringenden Ichs; oder die mannigfachen Formen der Sympathiegefühle: die Gefühle der Neigung, Freundschaft, Verehrung und die vielfach abgestuften Gefühle der Liebe; oder die Gefühle, die durch unser Verhältnis zu der nationalen, sozialen und politischen Gemeinschaft, oder weiterhin diejenigen, die durch die Eindrücke der Natur sowie durch unsre Beziehungen zu den Vorstellungen vom Jenseits erweckt werden. Mit dieser Scheidung der Lebenssphären, der lyrischen Inhalte hängt diejenige der chorischen L. und der Einzellyrik, die in der Geschichte dieser Dichtungsgattung eine große Rolle spielt, innerlich zusammen. Gedichte sozialen, nationalen und namentlich religiösen Gehalts sind ihrem Charakter nach zu gemeinschaftlichem Vortrag geeignet, während solche voll individueller Stimmung ebenso selbstverständlich davon ausgeschlossen sind. Die chorische L. ist regelmäßig mit dem Gesang und in Zeiten primitiver Kultur zumeist auch mit dem Tanz vereinigt. Die Einzellyrik steht dagegen bei ihrem individuellen Charakter zunächst als isoliertes poetisches Kunstwerk da, wenn sie auch häufig die auch ihr naturgemäße Verbindung mit der Musik findet. In dieser Hinsicht macht sich aber ein erheblicher Unterschied zwischen der reinen und der mittelbaren L. geltend, auch dann, wenn die reine L. den Charakter der individuellen Einzellyrik besitzt: die reine L. kann der Vertonung nur schwer entraten, während die mittelbare zur Verbindung mit der Musik oft genug ganz ungeeignet ist.

Unter den Verbindungen, die das lyrische Element in der mittelbaren L. mit andern poetischen Elementen eingehen kann, steht diejenige mit der Reflexion in erster Linie: die reflektierende L. hat von jeher eine bevorzugte Stellung eingenommen. Zumeist ergießt sich hier die Gedankenbildung in breitem Strome, der logische und organische Vorstellungsverlauf unterscheidet sich in der Regel nicht unerheblich von den »Sprüngen und Würfen«, den Auslassungen von Mittelgliedern der Gedanken, die wir so oft bei der reinen L. beobachten. Aber neben dieser breit flutenden Reflexionslyrik hat sich noch eine Sondergattung mit knapp pointiertem Gedankenbau entwickelt: das Epigramm. Der für das Epigramm charakteristische Gedankenbau besteht darin, daß in dem ersten Teil des Gedichts ein Gefühl der Spannung erweckt wird, das in dem zweiten durch eine geistreiche Wendung eine überraschende Lösung findet. Diese epigrammatische Pointe ist dann nicht selten auch auf andre lyrische Gattungen, namentlich das Lied, übertragen worden, z. B. in der sogen. petite poésie der Franzosen, aber auch etwa in der deutschen Anakreontik, bei Heine etc. – Sehr fruchtbar erweist sich in der mittelbaren L. die Verbindung des lyrischen Elements mit dem beschreibenden: eine nicht auffallende Erscheinung, wenn wir bedenken, daß sich die Beschreibung ganz insbesondere auch der Zustände, der innern wie der äußern, bemächtigt, und daß sich unser Gefühl am ungestörtesten und reinsten in der innigen Erfassung der Zustände geltend machen kann. So hat sich neben dem rein lyrischen Lied als wichtige Nebenform das Zustandslied entwickelt, dessen Wesen in der bloßen Schilderung eines an sich ergreifenden Zustandes besteht, dergestalt, daß der lyrische Affekt entweder gar nicht oder nur andeutungsweise hinzugefügt zu werden braucht. Ein derartiges Zustandslied ist z. B. Goethes »Meeresstille« (»Tiefe Stille herrscht im Wasser«); auch in »Wanderers Nachtlied« (»Über allen Gipfeln ist Ruh'«) ist die Zustandsschilderung die Hauptsache, und nur am Schluß bricht der Affekt durch. Ganz besonders reich ist an solchen Zustandsliedern Heines »Buch der Lieder«. Neben dieser in gedrängtester Form sich geltend machenden Beschreibung erscheint in andern lyrischen Gattungen die breit ausladende; sie vereinigt sich in der Regel mit den obenerwähnten Grundstimmungen des Elegischen, Satirischen, Idyllischen und des Humoristischen und läßt nicht selten auch eine nicht unerhebliche Beimischung des reflektierenden Elements zu. Immerhin bleiben die Elegie, Satire, Idylle etc. wegen ihres reichen Gehaltes an Gefühlen und Affekten noch Formen der lyrischen Kunst. Dagegen führt die Verbindung des lyrischen mit dem erzählenden Element zu einer charakteristischen Mischgattung lyrischer und epischer Poesie, von der vor allem die lyrische Ballade zu nennen ist, wie z. B. Goethes »Heidenröslein«, »Veilchen«, »Fischer« etc. (in andern Formen der Ballade überwiegt das dramatische und reflektierende Element, wie z. B. bei Schiller, oder das beschreibende, wie z. B. häufig bei Uhland, oder das erzählende, wie z. B. häufig bei Bürger). Endlich ist auch die Verbindung des lyrischen und dramatischen Elements begreiflicherweise nicht selten zu beobachten; sie liegt deshalb so nahe, weil der Kern des lyrischen Elements, das Gefühl, und der Kern des dramatischen, die Willensbewegung, nur zwei verschiedene Stadien eines einheitlichen psychologischen Vorganges bilden. So enthalten alle diejenigen Gedichte, die zu einer entschiedenen Willensbetätigung auffordern, wie z. B. die Schelt- und Streitlieder, zugleich auch einen dramatischen Zug. Dasselbe gilt aber auch dann, wenn die L. an dem insbesondere dem Drama zukommenden Dialog teilnimmt, mehrere Personen sprechend einführt; so ist z. B. Goethes »Erlkönig« trotz des intensiven lyrischen Gefühlsgehaltes durchaus dramatisch bewegt: ein glänzendes Beispiel der lyrisch-dramatischen Ballade.

Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.

Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das »Gelegenheitsgedicht«; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmische Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im »Schi-King« gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende vor Christo zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist die Poesie der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Gott Israels und seine Weltleitung; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist nach den Forschungen Robert Lowths (gest. 1787 als Bischof in London) u. a. im allgemeinen Parallelismus der einzelnen Versglieder. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Israels Triumphlied am Schilfmeer, Siegeslied der Deborah). Die L. der Inder ist in der ältesten Zeit ausschließlich religiöse Liederdichtung (Hymnen des Rigweda); unter den später entwickelten Gattungen ist hervorzuheben die didaktische Spruchdichtung, die auch in das Epos und das Drama in ausgedehnter Weise Eingang gefunden hat, und eine stark sinnliche Erotik, die besonders in der »Gitagowinda« des Dschajadewa einen typischen Ausdruck erhalten hat. Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge des »Avesta« des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen gelangen die seit alten Zeiten vorhandenen Elemente der L., wie naturgemäß, erst nach dem Zeitalter des Epos zu selbständiger Entwickelung, zunächst in der Form der den mannigfaltigsten Zwecken dienenden Elegie (s. d.) und der iambischen Dichtung. Mit dem Fortschreiten der namentlich durch Terpandros (um 670 v. Chr.) begründeten Entwickelung der besonders durch die Äoler und Dorer geübten Musik erhielt dann die eigentliche sogen. melische L. (von melos, Lied), das unter Musikbegleitung gesungene Lied, seine von den einfachsten, an die epische sich anschließenden Formen zur größten rhythmischen Mannigfaltigkeit führende Ausbildung in zwei Hauptgattungen, der äolischen L., dem in wiederkehrenden Strophen gefaßten, zum Einzelvortrag bestimmten Lied, und der dorischen oder chorischen L., dem meist nach Strophe und Antistrophe gegliederten, von einem Chor vorgetragenen Gesang, mit zahlreichen Gattungen (s. die Artikel »Dithyrambos, Epinikion, Epithalamion, Hymnos, Hyporchema, Päan, Prosodion, Threnos« u. a.). Als Muster der erstern galten Alkäos, Sappho, Anakreon, der letztern Alkman, Stesichoros, Ibykos, Simonides, Pindar, Bakchylides. Seit der alexandrinischen Zeit diente wieder die Form der Elegie vorwiegend zum Ausdruck des lyrischen Empfindens. Bei den Römern sind die vorhandenen einheimischen Keime eigentlich lyrischer Dichtung unter dem Einfluß des Griechentums unentwickelt geblieben. Original ist ihnen nur die reflektierende Dichtungsart der durch Lucilius begründeten, von Horaz, Persius und Juvenal weitergebildeten Satire. Zu hoher Ausbildung gelangte bei ihnen als lyrische Form die den Griechen entlehnte Elegie durch Catull, Tibull, Properz und Ovid und das Epigramm durch Martial. Die Formen der äolischen Liederdichtung bürgerte Horaz ein, ohne jedoch das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses in den meisten Fällen zu erreichen. Die dorische L. hat bei den Römern keinen Boden gefunden.

Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche L., die bei jenen mit Totenklagen, Schilderungen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Mutanabbi) entfaltete, in Sizilien und Spanien insbes. als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelal ud Dîn Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlerischer lyrischer Formen schuf. Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheiten des Volksgesanges (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern entwickelten auch eine sowohl weltliche als geistliche L., die von der dem ganzen christlichen Europa gemeinsamen Kultur abhängig war. So stand die weltliche L. unter dem Einfluß des Rittertums sowie der während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführten Bekanntschaft mit der arabischen L.; sie erblühte zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa. Zu ihr gesellte sich die durch die Institution der katholischen Kirche getragene geistliche L., die doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig mit jener verwandt war. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesinger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist; Walter von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des WeltgerichtsDies irae«, Thomas von Celano). Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur das klassische weltliche Lied; dieser, der Humanismus, legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit sich erhalten hat, und der die römischen Lyriker (insbes. Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben ihr haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, I. B. Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt. Seit der Revolution gelten der »Vater der Chanson«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Luise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«), die formvollendeten Parnassiens: Th. Gautier, Th. de Banville, Leconte de Lisle, Sully-Prudhomme, Coppée, ferner Aicard, Theuriet, Hérédia, Baudelaire, Richepin, Verlaine u. a. als Frankreichs bedeutendste Lyriker. Unter den Italienern haben sich Metastasio, V. Monti, U. Foscolo, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti, Prati, Carducci u. a. ausgezeichnet. Auf die reflektierenden englischen Lyriker des 18. Jahrh., die aus französischer Schule entsprossen waren (Pope, Gay, Thomson u. a.), folgte zunächst die sentimentale Richtung des Gray, Collins, Akenside, worauf sich auf nationaler Basis neue, volkstümliche Liederdichter erhoben: zuerst Burns in Schottland, dann Coleridge, Wordsworth und Southey (die sogen. Seedichter, weil sie sich mit Vorliebe an den Seen Nordwestenglands aufhielten) in England, endlich Th. Moore in Irland. Nachahmer und zugleich politische Gegner dieser Männer waren die Kosmopoliten Byron und Shelley, denen dafür Southey den Namen »satanische Schule« aufbrachte. Als Epigonen sind dann in England Tennyson, Browning und Swinburne zu betrachten und in Amerika E. Poe, Longfellow, Bryant u. a. Originelle Töne fanden in moderner Zeit wieder Bret Harte in Kalifornien und Gordon in Australien. In Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, Uz, Göz), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund, Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgetan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. als Sänger der Liebe und des Frühlings, Bodenstedt (»Lieder des Mirza Schaffy«) u. a. durch anmutige Reflexion und kunstvolle orientalische Formen sich auszeichneten. Unter dem Einfluß Lord Byrons sowie des Volksliedes und Goethes steht die pikante und anmutige L. Heines, unter dem Einfluß der Julirevolution die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.), während E. Geibel bei manchen epigonenhaften Zügen norddeutsche Gemütsinnerlichkeit und kernigen Patriotismus verrät, V. Scheffel mit Heineschen Formen einen gesunden Lebensmut verbindet und R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des »fahrenden Spielmanns« zurückrufen. Einen bedeutenden Aufschwung nahm die deutsche L. seit den 1880er Jahren, namentlich durch D. v. Liliencrons lebensvolle Gesänge, daneben durch G. Falke, R. Dehmel, St. George u. a., die freilich zum Teil einem dekadenten Symbolismus verfielen. Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, dem Norweger Ibsen, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Čelakovsky, Kollár und Macha, die Südslawen in Gaj, die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, R. Zimmermann; ferner R. M. Werner, L. und Lyriker (Hamb. 1890); Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–86, 5 Bde.); E. Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der L. (Halle 1905).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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