Tiersage

Tiersage

Tiersage, eine Gattung der Sage (s. d.), die von dem Leben und Treiben der Tiere und zwar vorzugsweise der ungezähmten Tiere des Waldes handelt, die man sich mit Sprache und Vernunft ausgestattet denkt. Die Wurzeln der T. liegen in der Natureinfalt der ältesten Geschlechter, die noch in unbefangenem, sei es freundlichem oder feindlichem, immer nahem Verkehr mit den Tieren standen; aus der harmlosen Freude des Naturmenschen an dem Treiben der Tiere, seiner Beobachtung ihrer besondern Art und »Heimlichkeit« entsprang die einfache Erzählung dessen, was er an und mit den Tieren erfuhr und erlebte, und sie eben bildet das charakteristische Merkmal dieser Art Naturpoesie, die zunächst als Tiermärchen bei den verschiedensten Nationen auftritt. Die Tiere werden hier in ihrem wirklichen Leben vorgeführt, aber sie werden mit Gedanken und Sprache ausgestattet und von Trieben geleitet, denen Absicht und Bedeutung geliehen sind. In dieser Verschmelzung des menschlichen und tierischen Elements liegt die Bedingung und zugleich der höchste Reiz aller Tierdichtung. Erhält das Tiermärchen eine ausdrückliche lehrhafte Beziehung auf das menschliche Leben, so entsteht die Tierfabel. Auch diese ist eine Gattung internationaler Naturpoesie; ihre literarische Ausbildung erhielt sie in Europa vor allem durch die Fabeln des Äsopus. Indem sich eine Reihe solcher Tiermärchen und Fabeln um eine der Hauptfiguren dieses Kreises kristallisiert oder sich unter einem leitenden Motiv verbindet, entwickelt sich die Tiersage. In Frankreich, den Niederlanden und Deutschland können wir diesen Vorgang an der allmählichen Ausbildung eines zyklischen Tierepos, dessen Grundmotiv die Feindschaft zwischen dem listigen Fuchs und dem ungeschlachten Wolf bildet, seit dem 8. Jahrh. literarisch verfolgen (vgl. Reineke Fuchs). Das Tierepos will ebenso wie das Heldenepos vor allem durch die Erzählung selbst interessieren; aber die von vornherein gegebene Parallele des Tierlebens zum Menschenleben und der historische Zusammenhang mit der Fabel führt hier zu satirischen Nebenbeziehungen. Die Annahme Jakob Grimms, daß die T. eine uralte Schöpfung germanischer Volksphantasie sei, läßt sich nicht aufrecht erhalten, aber anderseits ist auch der Einfluß mündlich überlieferter Tiermärchen bei der allmählichen Ausgestaltung des Tierepos neben den schriftlichen Quellen nicht abzulehnen. Vgl. Müllenhof in der »Zeitschrift für deutsches Altertum«, Bd. 18, I; K. Krohn, Bär und Fuchs (Helsingf. 1888).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Tiersage — Tiersage, der Kreis der Erzählungen, in denen Tiere als handelnde Personen mit menschlichem Denken, Empfinden und Sprechen auftreten, erscheint als Tiermärchen, Tierfabel, mit didaktischem Zweck, und als Tierepos, das mehrere Tiermärchen und… …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Reineke Fuchs — Reineke Fuchs, hochdeutsche Bezeichnung für den Haupthelden der deutschen Tiersage (s. d.). Das älteste Zeugnis für eine solche begegnet uns im 7. Jahrh. bei dem fränkischen Chronisten Fredegar. Die Ausbildung der Sage ist jedoch nicht auf… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Deutsche Literatur — Deutsche Literatur. Das älteste auf uns gekommene Schriftdenkmal ist die got. Bibelübersetzung des Bischofs Ulfilas aus der Mitte des 4. Jahrh. Von der mündlich fortgepflanzten Heldendichtung bildet das Ende des 8. Jahrh. aufgezeichnete… …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Новер — (Якоб Nover, род. в 1845 г.) немецкий филолог. Главные его труды: Ursprung und älteste Gestalt der Nibelungensagen (1880); Nordgermanische Gö tter und Heldensagen (1884, 3 е изд. в 1901 г.); Bilder von Niederrhein (1882); V ater Rhein in Sage und …   Энциклопедический словарь Ф.А. Брокгауза и И.А. Ефрона

  • Новер Якоб — (Nover, род. в 1845 г.) нем. филолог. Главные его труды: Ursprung und älteste Gestalt der Nibelungensagen (1880); Nordgermanische Götter und Heldensagen (1884, 3 е изд. в 1901 г.); Bilder von Niederrhein (1882); Vater Rhein in Sage und Dichtung… …   Энциклопедический словарь Ф.А. Брокгауза и И.А. Ефрона

  • Angelo De Gubernatis — (* 7. April 1840 in Turin; † 26. Februar 1913 in Rom) war ein italienischer Orientalist, Dichter und Literaturhistoriker aus adliger Familie. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • Angelo de Gubernatis — (* 7. April 1840 in Turin; † 26. Februar 1913) war ein italienischer Orientalist, Dichter und Literaturhistoriker aus adliger Familie. Inhaltsverzeichnis …   Deutsch Wikipedia

  • De Gubernātis — De Gubernātis, Angelo, ital. Polyhistor, geb. 7. April 1840 in Turin, betrieb philologische Studien, schrieb vom 17. Jahr an Dramen und arbeitete für Zeitschriften. 1862 ging er mit einem Staatsstipendium nach Berlin und studierte mit solchem… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Deutsche Literatur — Deutsche Literatur, im weitesten Sinn der Inbegriff der gesamten Schriftwerke des deutschen Volkes, insofern sie Geistesprodukte von bleibender und nachwirkender Bedeutung und dadurch Gegenstand fortgesetzten Anteils sind oder doch einen… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Grimm — Grimm, 1) Melchior, Freiherr von, geistreicher Literator, geb. 26. Dez. 1723 in Regensburg als Sohn eines Pfarrers, gest. 19. Dez. 1807 in Gotha, erhielt eine sorgfältige Erziehung, studierte in Leipzig, wohin er den jungen Grafen von Schönburg… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”