- Idealismus
Idealismus (neulat.), ein sehr vieldeutiger philosophischer Kunstausdruck. Zu unterscheiden ist vor allem zwischen dem praktischen und dem theoretischen I. Der praktische oder ethische I. bezeichnet die charakteristische Richtung und Färbung des gesamten geistigen Lebens und Strebens eines Menschen, der von Idealen erfüllt ist und durch Ideale sich leiten läßt. Der (praktische) Realist nimmt die Dinge, wie sie sind, er richtet sich mit seinen Anschauungen und Zielen nach der Wirklichkeit, die für ihn die höchste Instanz bildet, und läßt sich demnach an dem Gegebenen oder sicher Erreichbaren genügen; der Idealist legt umgekehrt an das Wirkliche den Maßstab seiner Ideale an, die für ihn die höhere Geltung besitzen, er fragt nicht, wie die Dinge sind, sondern wie sie sein sollten, das Gegebene genügt ihm daher selten, vielmehr verlangt er nach einem seinem Vollkommenheitsbegriff. entsprechenden Zustande der Dinge, nach der bessern und schönern Welt, in der er geistig bereits lebt. Verbindet sich mit dem praktischen I. eine strenge Selbstkritik, die zwischen den wahrhaften, allgemein gültigen Idealen und den nur in subjektiven Wünschen begründeten unterscheidet, und die Erkenntnis, daß eine Verwirklichung derselben nur unter Berücksichtigung der gegebenen Natur der Dinge und Menschen möglich ist, so ist dieser I. gesund, lebensfähig und für den Fortschritt des Einzelnen wie der Menschheit im ganzen unentbehrlich. Anders der schwärmerische I. (I. im übeln Sinne), den man bei unausgereiften oder überspannten Naturen trifft. Diese hält die gegebene Welt nur deshalb für unvollkommen, weil sie seinen (oft ganz egoistischen) Wünschen und Erwartungen nicht entspricht, und malt sich eine phantastische Idealwelt aus, ohne zu fragen, ob sie überhaupt im Bereiche des Möglichen liegt. Er führt entweder zum Pessimismus (s. d.) und zu tatloser Träumerei, oder er läßt das Individuum im Konflikt mit der Wirklichkeit zugrunde gehen. – Der theoretische I. kann ein erkenntnistheoretischer oder ein metaphysischer sein. Jener besteht in der Behauptung, daß unser Erkennen niemals unmittelbar mit den Dingen selbst, sondern nur mit unsern Vorstellungen zu tun hat. Er wurde begründet durch Descartes, der die Frage, mit welchem Recht wir annehmen, daß unsern Vorstellungen Gegenstände entsprechen, und somit den wenigstens vorläufigen Zweifel an der Realität der letztern zum Ausgangspunkt seiner Philosophie machte (skeptischer I.). In verschärfter Form tritt der I. in Leibniz' Lehre auf, daß die »Monaden keine Fenster haben«, d. h. keinerlei Vorstellungen von außen empfangen, sondern sich alle aus sich selbst entwickeln. Der Zweifel an der Realität von Körpern und Geistern außerhalb des Subjekts ist jedoch bei den genannten Denkern nur eine Durchgangsstufe, denn auf Grund der Wahrhaftigkeit Gottes, der nach Descartes der Urheber unsrer Vorstellungen ist, bez. auf Grund der »prästabilierten Harmonie« zwischen Innen- und Außenwelt, die Leibniz annimmt, seien wir berechtigt, an unsern Vorstellungen entsprechende reale Außendinge zu glauben. Im Anschluß an Locke gingen jedoch Berkeley und Hume weiter, indem der erstere nur die Realität Gottes (als des Urhebers unsrer Vorstellungen) und andrer Geister zugab, die der körperlichen Außendinge aber bestritt, letzterer überhaupt jedes reale Sein außerhalb der Vorstellungen leugnete (subjektiver I.). Kant endlich suchte mit seinem kritischen oder transzendentalen I. einen Mittelweg einzuschlagen, indem er zwar behauptet, daß der Raum nur eine Form unsrer Sinnlichkeit und die Dinge im Raume deswegen nicht Dinge an sich, sondern bloß Erscheinungen seien, aber dabei die empirische Realität der Dinge, ihre Existenz außerhalb der individuellen Persönlichkeit (die selbst bloß Erscheinung im transzendentalen Sinne ist) für unbezweifelbar erklärt. Fraglich bleibt bei ihm, ob den Erscheinungen (den empirischen Objekten) überhaupt Dinge an sich (transzendentale Objekte) entsprechen, die für unser Erkennen nur unzugänglich sind, oder ob der Begriff der letztern überhaupt sinnlos ist. Der erkenntnistheoretische I. hat übrigens auch durch die moderne Physiologie und Psychologie seine Bestätigung gefunden, insofern diese lehren, daß die Vorstellung der räumlichen Außenwelt erst in der Seele entsteht, und daß bei ihrem Zustandekommen subjektive Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. – Der metaphysische I. besteht in der Lehre, daß nicht der tote Stoff und die blinden Naturkräfte, sondern geistige Prinzipien (»Ideen«) das wahrhaft Wirkliche seien; die körperliche Natur ist demzufolge lediglich Darstellungsform eines idealen, geistigen Inhalts, ähnlich wie das Kunstwerk nur das Mittel der Versinnlichung der künstlerischen Idee bildet. Der metaphysische I. spricht demnach dem Ideellen die Priorität vor dem sinnlich Reellen zu, der kausalen Erklärungsweise ordnet er die teleologische über, und die Erforschung der Stoffe und Kräfte gilt ihm zwar nicht für völlig wertlos, aber doch nur für eine niedere Stufe der Naturerkenntnis, die ihre Vollendung erst durch die Einsicht in den »Plan« und »Zweck« der Schöpfung findet. Diese Lehre wurde im Altertum begründet durch Platon und durch die Neuplatoniker weiter entwickelt. In der Neuzeit brachte Kant sie wieder zur Geltung (vgl. Idee), und im Anschluß an ihn führten Fichte, Schelling und Hegel glänzende idealistische Systeme aus, indem sie zugleich den erkenntnistheoretischen I. Kants in einen metaphysischen umdeuteten. Wenn nämlich Kant behauptet hatte, daß die äußern Dinge nur Erscheinungen für das Subjekt seien, so lehrte Fichte, daß sie durch das Ich gesetzt würden, und faßte den Weltprozeß auf als eine fortschreitende Realisierung sittlicher Ideen. Schelling erweiterte den Begriff des produktiven Ich zu dem einer universellen schöpferischen Tätigkeit, durch die das Ich und alle Einzelwesen erst ihre Realität erhalten, und die, soweit sie ihrer selbst unbewußt ist, die Natur, soweit sie ihrer selbst bewußt wird, das geistige Leben ausmacht (objektiver I.). Hegel endlich ging zum absoluten I. über, indem er erklärt: »Das Denken, der Begriff, die Idee oder vielmehr der Prozeß, das immanente Werden des Begriffs ist das allein Wirkliche und Wahre. Die Natur ist die Idee in der Form des Andersseins.« Doch vermochten auch diese großen Denker die mit der Frage nach dem Verhältnis des Ideellen zum Reellen (letzteres läßt sich nicht restlos in ein Ideelles auflösen, die Wirkung und Gegenwirkung der Kräfte sich nicht auf die rein logische Entwickelung der Begriffe zurückführen), der Kausalität zur Teleologie (s. d.) verbundenen Schwierigkeiten nicht wegzuschaffen, und so wurden ihre Systeme durch die realistische naturwissenschaftliche Weltansicht, an die sich Schopenhauer und Herbart mehr anzulehnen suchten, gänzlich verdrängt. In der neuesten Zeit haben Lotze und E. v. Hartmann in seiner »Philosophie des Unbewußten« den metaphysischen I. wieder zu erneuern und mit dem Realismus zu versöhnen gesucht. Vgl. Realismus. – Über den I. in der Kunst s. Idealistisch. Vgl. Willmann, Geschichte des I. (Braunschw. 1894–97, 3 Bde.); Laas, I. und Positivismus (Leipz. 1879–84, 3 Tle.); Bergmann, System des objektiven I. (Marburg 1903).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.