- Geistliche
Geistliche. Alle christlichen Kirchenparteien, ausgenommen die Wiedertäufer, Quäker und Darbysten (s.d.), stimmen darin überein, daß die Kirche, um ihre Tätigkeiten zum Besten der Kirchenglieder entfalten zu können, besonderer, aus der Gesamtheit der Christen ausgewählter Organe (ministri ecclesiae) oder eines geordneten geistlichen Standes bedürfe. Nach katholischer Lehre ist der geistliche Stand oder Klerus (s.d.) der von Christus eingesetzte, durch eine in ununterbrochener Erbfolge erteilte Weihe mit eigentümlicher Gnadengabe ausgerüstete Stand zur ausschließlichen Verwaltung der Sakramente und zur Regierung der Kirche und vermittelt alle Gemeinschaft zwischen Christus und dem christlichen Volk (Laien). Der Protestantismus achtet dagegen den geistlichen Stand für ein aus der Gemeinde hervorgehendes Amt, nach Christi Vorgang eingesetzt um der Ordnung willen zur Verwaltung der Lehre, der Sakramente und der Seelsorge. Seine Rang- und Funktionsverschiedenheiten, Pfarrer (Prediger, Pastoren), Superintendenten (Dekane), Kirchenräte und Mitglieder der Konsistorien und Oberkirchenräte, bestehen nur nach menschlicher Ordnung (jure humano); nur die englische Episkopalkirche nähert sich in dieser Hinsicht der katholischen Kirchenverfassung, indem dort drei verschiedene Ordines clericorum (Diakonat, Presbyteriat und Episkopat) bestehen und für jeden Stand eine besondere Weihe eingeführt und ein abgeschlossener Kreis amtlicher Handlungen bestimmt ist. Geht nach katholischer Anschauung die Berufung vom Episkopat, d. h. in letzter Instanz vom Oberhaupt der Kirche, aus, und erhält der G. durch die Ordination einen Character indelebilis, der ihn für immer über den Laien erhebt, so fordert die protestantische Kirche die Berufung durch die Gemeinde und sieht in der Ordination lediglich eine Feierlichkeit, mittels welcher der zu einer geistlichen Stelle Berufene zur treuen Erfüllung seiner Amtspflichten aufgefordert wird. Nach kirchlichen (kanonischen) Satzungen beanspruchten die Geistlichen früher Vorrechte verschiedener Art, von denen die meisten jetzt geschwunden sind. Das wichtigste Vorrecht ist zurzeit das der Zeugnisverweigerung im Zivil- und Strafprozeß über alles das, was ihnen bei der Ausübung der Seelsorge anvertraut worden ist. Die Feststellung der Befugnisse der Geistlichkeit und die Abgrenzung des Gebietes ihrer Wirksamkeit war früh schon Gegenstand der staatlichen Gesetzgebung. Wiederholt sah sich die Staatsgewalt in der Lage, gegen Übergriffe der Kirche auf das Gebiet der staatlichen Hoheitsrechte vorgehen zu müssen, namentlich um das Recht des Staates auf Oberaufsicht und seine Autorität in Ansehung der richterlichen Gewalt zu wahren (s. Geistliche Gerichtsbarkeit). Aus neuerer Zeit ist hier besonders anzuführen: Das Reichsgesetz vom 10. Dez. 1871, durch das zusätzlich zum Art. 130 des Strafgesetzbuches der sogen. Kanzelparagraph geschaffen wurde (s. Kanzelmißbrauch). Außerdem muß der Staat berücksichtigen, daß die Beamten der anerkannten Kirchen eine ähnliche Stellung wie die Staatsbeamten haben, und daß es deshalb und bei der regen und notwendigen Wechselbeziehung zwischen Staat und Kirche nicht nur in seinem Interesse, sondern in seinem Oberaufsichtsrecht liegt, dafür zu sorgen, daß auch in-der katholischen Kirche keine Geistlichen zu kirchlichen Ämtern gelangen, deren Anstellung bedenklich erscheint. Deshalb haben die meisten Staaten die Voraussetzungen für Erlangung eines kirchlichen Amtes bestimmt und Vorschriften über die Ausbildung zum geistlichen Stand erlassen. Vgl. außer den Lehrbüchern des Kirchenrechts die Ausgaben der preußischen Kirchengesetze von Hinschius (Berl. 1873–86, 4 Bde.); Gautsch v. Frankenthurn, Die konfessionellen Gesetze Österreichs vom 7. und 20. Mai 1874 (Wien 1874); Mejer, Zur Geschichte der römisch-deutschen Frage (Freib. i. Br. 1871–85, 3 Tle.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.