Gudrun

Gudrun

Gudrun (mittelhochd. Kûtrûn), deutsches Epos, bildet gewissermaßen den versöhnenden Gegensatz zum Nibelungenlied, insofern darin die aufopfernde Treue, das demütige Dulden und der Adel einer deutschen Frauenseele dargestellt wird. Den Inhalt bildet die Sage von drei Generationen; von Hagen, dem König von Irland, und dessen Jugendgeschichte, von der Werbung des Hegelingenkönigs Hettel um dessen Tochter Hilde und endlich von G., der Tochter von Hettel und Hilde. In der Erzählung von Hettels Werbung um Hilde ist vor allem die Schilderung des Gesangs des Stormarnkönigs Horant als eine altberühmte, oft dargestellte Sage hervorzuheben. Die Abgesandten Hettels, seine Mannen Horant, Frnte u. Wate, kommen an den Hof des Königs von Irland, um seine von ihm gehütete Tochter Hilde für Hettel zu gewinnen. Horant erhebt seinen süßen Gesang an einem stillen Abend in der Königsburg am Seeufer und gewinnt dadurch die Jungfrau, ihm heimlich zu Hettel zu folgen, dessen Gemahlin sie wird. Ihre Kinder sind Ortwin und G. Um G. läßt Hartmut, ein Normannenkönigssohn, werben, aber stolz werden seine Boten von Hettel und Hilde abgewiesen; dagegen weiß sich Herwig, der König von Seeland, die Liebe der schönen G. zu erkämpfen. Als jedoch kurz nach dem Verlöbnis Vater und Verlobter einen Kriegszug in ein fernes Land machen, rückt Hartmut mit seinem Vater, König Ludwig, vor die Burg, erobert sie und entführt G. Hettel und Herwig mit ihren Helden, unter ihnen vor allen Wate, ereilen die Räuber auf dem Wülpensand oder Wülpenwerd, einer Nordseeinsel. Hier wird eine blutige Schlacht geschlagen, in welcher der geraubten G. Vater Hettel durch des Räubers Vater, den Normannenkönig Ludwig, fällt; während der Nacht entfliehen die Normannen mit ihrer Beute, und Wate fehlen die Streitkräfte zum Nachsetzen in Feindesland. Als Ludwig der G. freundlich zuredet, Hartmut zu minnen, und ihr Freude und Ehre an dessen Seite verheißt, zieht G. den Tod der Vermählung vor. Zornig schleudert der Normannenhäuptling die Jungfrau über Bord in die See, aber Hartmut rettet sie. Die Mutter Hartmuts, Gerlinde, empfängt G. anfangs freundlich; als aber auch sie umsonst wirbt, schreitet sie in ihrem »wölfischen« Sinn zu Mißhandlung: G. muß Dienste der niedrigsten Magd verrichten, Ofen heizen und Kleider am Meeresgestade waschen. Erst nach Jahren kann ihr Vaterland eine Heerfahrt zu ihrer Befreiung rüsten. Nach langer, gefahrvoller Reise gelangen die Helden an eine Insel, von deren hohen Bäumen aus sie die Normannenburgen aus der See heraufglänzen sehen. G. geht, wie seit Jahren täglich, zum Gestade, die Wäsche zu waschen; da wird ihr in Vogelgestalt ein Engel gesandt (in der ursprünglichen Sage jedenfalls eine der Zukunft kundige Schwanenjungfrau, une solche auch im Nibelungenlied erscheinen), sie zu trösten. Aber mit zornigem Schelten erwartet sie bei ihrer Heimkehr die arge Gerlinde, weil sie den ganzen Tag. mit Waschen zugebracht, und am nächsten Morgen muß sie, wiewohl nachts tiefer Schnee gefallen ist, barfuß am Meergestade ihre Wäsche vollenden. An ebendiesem Morgen kommen Ortwin und Herwig, um Kunde einzuziehen, in einer Barke in die Nähe. Die beiden Kriegsmänner, G. nicht erkennend, erkundigen sich bei ihr nach Land und Leuten und vernehmen, daß man wohlgerüstet sei und nur vor Einem Feinde, den Hegelingen, Besorgnis hege. Auf die Frage ihres Bruders Ortwin, ob nicht eine Jungfrau G. einst als Geraubte hierher gebracht worden sei, gibt sie sich für eine der mit G. geraubten Jungfrauen aus; G. selbst habe den Tod gefunden. Als aber der Seelandskönig ihr den Ring zeigt, mit dem ihm G. verlobt worden, gibt sie sich zu erkennen. Herwig will sie auf der Stelle mit sich nehmen. Aber auf Ortwins Mahnung, daß es sich nicht gezieme, das im Kampf Geraubte heimlich zu entwenden, fahren beide Fürsten zurück, um den Sturm auf die Normannenburg vorzubereiten; G. aber, im erwachten Selbstgefühl, wirft die Leinwand, statt sie zu waschen, in die See. Deshalb von Gerlinde mißhandelt, stellt sie sich, als wolle sie nun Hartmut heiraten. Unterdessen entbrennt der Kampf, in dem der Normannenkönig Ludwig unter Herwigs Streichen fällt; die erboste Gerlinde will dafür G. erschlagen lassen, und schon ist das Schwert über deren Haupt gezückt, als Hartmut edelmütig dem Verbrechen wehrt. Dieser wird gefangen, der zornige Wate dringt in das Frauengemach, um Gerlinde den verdienten Lohn zu geben. G. aber beweist gleichen Edelmut wie Hartmut und verleugnet sie; doch Wate findet sie und schlägt ihr das Haupt ab. Hierauf folgt die Heimfahrt, Sühne und dreifache Vermählung: zwischen Herwig und G., zwischen dem Normannenkönig Hartmut und Hildburg, einer von Gudruns Gefährtinnen, und zwischen Ortwin, Gudruns Bruder, und Ortrun, der normannischen Königstochter.

Das Gedicht, das in einer der Nibelungenstrophe nachgebildeten Strophenform abgefaßt ist und auch sonst den Einfluß des Nibelungenliedes verrät, ist von einem österreichischen oder bayrischen Dichter in der ersten Hälfte des 13. Jahrh. verfaßt. Überliefert ist es mit mancherlei Erweiterungen und Entstellungen des Textes in einer einzigen Handschrift, die auf Befehl Kaiser Maximilians I. angefertigt und auf Schloß Ambras in Tirol 1820 gefunden wurde. Die erste Ausgabe des Gedichts veranstaltete v. d. Hagen im 1. Band seines »Heldenbuches« (Berl. 1820). Die neuesten und besten Ausgaben sind die von erklärenden Anmerkungen begleiteten von Bartsch (Leipz. 1865, 4. Aufl. 1880; auch in Kürschners »Nationalliteratur«, Stuttg. 1885). von Martin (in Zachers »Germanistischer Handbibliothek«, 2. Aufl. Halle 1902) und von Symons (das. 1883); bloße Textausgaben besorgten Bartsch (Leipz. 1875) und Martin (Halle 1883). Übersetzungen des Gedichts liegen vor von San Marte (Berl. 1839) und Keller (Stuttg. 1840); besser von Simrock (das. 1843, 15. Aufl. 1884), Klee (Leipz. 1878), Weitbrecht (Stuttg. 1884), L. Freytag (Berl. 1888), Legerlotz (Bielefeld 1893) u. a. Drei Versuche sind gemacht worden, auch im Gudrunlied, wie im Nibelungenlied, die echten, auf alter Volkssage beruhenden Teile von den Zutaten späterer Kunstpoesie zu trennen: zuerst von Ettmüller in den »Gudrunliedern« (Zürich 1841), dann von Müllenhoff in »Kudrun, die echten Teile des Gedichts« (Kiel 1845) der vom überlieferten Text nur 415 Strophen übrigläßt, zuletzt von W. v. Plönnies in »Kudrun. Übersetzung und Urtext mit erläuternden Abhandlungen« (Leipz. 1853). Vgl. Wilmanns, Die Entwickelung der Kudrundichtung (Halle 1873); G. Klee, Zur Hildesage (Leipz. 1873); Fécamp, Le poème de G. (Par. 1892); F. Panzer, Hilde-Gudrun (Halle 1901). Dramatisch behandelt wurde die Gudrunsage unter andern von Jul. Grosse, in einer Oper (Text von K. Niemann) von A. Klughardt. – In der nordischen Sage ist G. Name der Kriemhild, der Gemahlin Siegfrieds.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Gudrun — bezeichnet: Gudrun (Name), einen weiblichen Vornamen ein mittelalterliches Heldenepos, siehe Kudrun Orkan Gudrun, Unwetter über Nordeuropa Januar 2005 (328) Gudrun, den Asteroid Nummer 328 Gudrun (Mythologie), Tochter Gjukis, Gemahlin Sigurds und …   Deutsch Wikipedia

  • Gudrun — Gudrun, Gutrun nordischer Ursprung, Bedeutungszusammensetzung aus. »Gott« und »Geheimnis«. In der nordischen Sage ist Gudrun die Entsprechung der Kriemhild im »Nibelungenlied«. Namensträgerin: Gudrun Landgrebe, deutsche Schauspielerin …   Deutsch namen

  • Gudrun — f Scandinavian: from an Old Norse female personal name composed of the elements guð god + rūn secret lore. In Norse legend this was the name borne by the heroine of the Volsungasaga, sister of Gunnar and wife of Sigurd, whose destruction she… …   First names dictionary

  • Gudrun — Gudrun, 1) (Guthrun), in der nordischen Heldensage Tochter Giuki s u. der Grimhild, wurde Gemahlin Sigurds (s.d.) u. floh nach dessen Ermordung durch ihren Bruder Guttorm nach Dänemark zum König Hjalfrek, wo sie in sieben Halbjahren ein großes… …   Pierer's Universal-Lexikon

  • Gudrun — (mittelhochdeutsch Kûtrûn), altdeutsches Heldengedicht, auf niederdeutschen und altnord. Sagen beruhend, Anfang des 13. Jahrh. wahrscheinlich in Österreich oder Bayern verfaßt, hg. von Bartsch (4. Aufl. 1880), Symons (1883), Martin (1902),… …   Kleines Konversations-Lexikon

  • Gudrun — Gudrun, Name eines Heldengedichtes, welches etwa im 13. Jahrh. aus uralten Volksliedern entstand, dem Sagenkreis der Nordsee mit ihren Seekönigen und Raubfahrten angehört, durch Kaiser Max I. im Schloß Ambras im Tyrol erhalten u. 1817 zum… …   Herders Conversations-Lexikon

  • Gudrun — est une Valkyrie, fille de Grimhild, la Reine des Niebelungen. Elle tomba amoureuse d’un mortel, Helgi. A la mort de celui ci, elle pleura tellement sur sa tombe que son cadavre lui demanda d’arrêter car ses lamentations lui rouvraient ses… …   Mythologie nordique

  • Gudrun — [good′ro͞on΄] n. [ON Guthrūn < guthr, war, battle + runa, close friend (secret sharer) < ON rūn: see RUNE] Norse Legend the daughter of the Nibelung king: she lures Sigurd away from the Valkyrie Brynhild and marries him …   English World dictionary

  • Gudrun — For other uses, see Gudrun (disambiguation). Kriemhild and Gunther, Johann Heinrich Füssli, 1807 Gudrun is a major figure in the early Germanic literature centered on the hero Sigurd, son of Sigmund. She appears as Kriemhild in the Nibelungenlied …   Wikipedia

  • Gudrun — Liste des personnages d Astérix le Gaulois Voici la liste des personnages de la bande dessinée Astérix le Gaulois par René Goscinny et Albert Uderzo, classés par ordre alphabétique. Sommaire 1 Personnages du village 1.1 Abraracourcix 1.2… …   Wikipédia en Français

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”