Vernunft

Vernunft

Vernunft (Ratio), im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauches die den Menschen vom Tier unterscheidende höhere geistige Kraft, also das Vermögen der den kenden Verarbeitung äußerer Eindrücke, der Bildung von Begriffen und Schlüssen. Sofern die V. ihr Gesetz in sich selbst trägt, läßt sie den Menschen nicht nur den Naturmächten als geistig freies (autonomes) Wesen gegenübertreten, sondern sie ermöglicht es ihm auch, sich von den geistigen Einflüssen der Umgebung unabhängig zu machen. Daher besteht zwischen der V. einerseits, der Sitte, Tradition, Autorität, Offenbarung anderseits ein natürlicher Gegensatz, und die Geschichte des geistigen Lebens zeigt einen beständigen Kampf zwischen Richtungen, die eine Unterordnung des Einzelnen unter diese Mächte verlangen, und solchen, welche die V. (die eigne Überzeugung, die Einsicht in das Wesen der Sache) zur obersten Richtschnur machen. Im philosophischen Sinn ist V. im Unterschied vom Verstand (s. d.) die Fähigkeit, vom Besondern, Untergeordneten zu den allgemeinsten Gründen sich zu erheben, die Gesamtheit unsrer Gedanken durch Unterordnung unter allgemeinste Prinzipien in einen umfassenden Zusammenhang zu bringen. Während der Verstand sich an den gegebenen Inhalt der Anschauung und Erfahrung hält, um daraus Begriffe und Gesetze zu abstrahieren, sucht die V. diese Begriffe und Gesetze zu einem in sich abgeschlossenen, systematisch geordneten Ganzen der Erkenntnis zu verknüpfen. Dies wird ihr aber nur dadurch möglich, daß sie über die Erfahrung hinausgreift, sie durch selbstgeschaffene Begriffe und Annahmen ergänzt. So werden wir durch den stetigen Fortgang des Raumes und der Zeit dazu getrieben, die Welt jenseit der für unser Wahrnehmen erreichbaren Grenzen des Raumes und der Zeit noch weiter fortgesetzt zu denken, der Wechsel der Erscheinungen veranlaßt uns, nicht erscheinende »Dinge an sich« vorauszusetzen, von denen jene bestimmt worden etc. Hinter den Verstandsbegriffen stehen freilich diese Erzeugnisse der V., die sogen. Vernunftideen, insofern zurück, als ihre Realität nicht direkt erweisbar ist, ja nach Kant sind sie geradezu mit innern Widersprüchen behaftet, und die vermeintliche reine Vernunfterkenntnis ist nichts als Blendwerk (»dialektischer Schein«). Trotzdem drängt unser Denken unaufhaltsam vom Einzelnen. Bedingten, zum Umfassenden, Unbedingten, und nicht in der grundsätzlichen Ausschließung der Vernunftideen, sondern in der klaren Erkenntnis ihrer Bedeutung (als in dem Einheitsbedürfnis der V. begründeter Hypo thesen, bez. [nach Kant] regulativer Prinzipien) und ihrem entsprechenden richtigen Gebrauch besteht das Wesen des wissenschaftlichen Standpunktes. Wie die theoretische V. Ideen, so entwickelt die praktische V. Ideale, d. h. sie gestaltet, ausgehend von den sittlichen Forderungen (die nach Kant selbst Gebote derselben sind), das Bild einer Ordnung der Dinge, in der alles das ist, was jenen gemäß sein sollte, und die, wenn sie auch niemals ganz verwirklicht werden kann, doch das Ziel bezeichnet, dem wir beständig zustreben müssen. Vgl. auch Idealismus.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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