Genie [1]

Genie [1]

Genie (franz., spr. schenī, v. lat. genius) bezeichnet (im abstrakten Sinne) den höchsten Grad allgemeiner oder spezieller geistiger Begabung, dann auch (im konkreten Sinne) den so Begabten selbst (ein G.). Die geniale Beanlagung für alle oder auch nur für sehr viele Arten geistiger Tätigkeit (ein wirkliches Universalgenie) scheint mit der menschlichen Natur unvereinbar zu sein; wenigen ist es gegeben, auch nur, wie z. B. Michelangelo und Leonardo da Vinci, in allen Zweigen der bildenden Kunst sich als G. zu offenbaren, und noch seltener ist diese Erscheinung in der Wissenschaft und im praktischen Leben, vielmehr ist jedes G. mehr oder minder einseitig, ja sehr häufig zeigt es sich außerhalb seiner Sphäre nur mittelmäßig befähigt oder gar beschränkt. Man unterscheidet daher das theoretische G., das sich in wissenschaftlichen Leistungen zeigt und wieder spezieller ein philosophisches, mathematisches, historisches etc. sein kann, das künstlerische G., das sich in künstlerischer Produktion, und das praktische G., das sich entweder als technisches in der Beherrschung der äußern Naturkräfte oder als staatsmännisches, reformatorisches etc. in der Fähigkeit zur Umgestaltung und Organisation der menschlichen Lebensverhältnisse bekundet. Obwohl man in vielen Fällen im Zweifel sein kann, ob man einem Menschen bloß Talent (s.d.) oder G. zuschreiben soll, so weicht doch das ausgeprägte G. von jenem sehr wesentlich ab. Vor allem ist es stets originell in seinen Leistungen (der Ausdruck Originalgenie daher ein Pleonasmus), es schafft völlig Neues, löst Probleme, die für unlösbar galten, gibt dem Gedankenkreise und den Bestrebungen seines Zeitalters einen ganz neuen Inhalt oder neue Ziele und leitet so neue Epochen ein, während das Talent sich in hergebrachten Bahnen bewegt, nach vorhandenen Mustern und Methoden arbeitet. Ein einziges G. gibt zahlreichen Talenten Anregung und Stoff (»Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun«). Sodann ist für das G. die Art seines Schaffens charakteristisch. Das Talent ist sich seiner selbst bewußt, es weiß, wie und warum es zu gewissen Schlüssen gelangt, mit sorgfältigem Fleiß berechnet es die Mittel zum Zweck und kombiniert die Einzelheiten zum Ganzen; das G. schafft unwillkürlich und unbewußt, es kämpft zwar oft lange unter den Geburtswehen der neuen Ideen, schließlich aber treten diese Ideen unvermittelt, ungesucht und wie zufällig fertig vor die Seele. »Die Ausübung dieser Dichtergabe«, sagt Goethe von sich, »konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden, aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor«; bekannt ist, wie Newton durch den Anblick eines fallenden Apfels, Galilei durch den einer schwingenden Hängelampe auf das Gravitations-, bez. das Pendelgesetz kamen. Daher kommt es auch, daß das Talent sich durch Fleiß und Übung entwickeln und verstärken läßt, während das G. zwar durch ungünstige Umstände verkümmern, niemals aber methodisch großgezogen werden kann, sondern mit der Gewalt eines Triebes oder Instinkts erwacht (vgl. die Geschichte des jungen Pascal). Infolge seiner über den Anschauungskreis der Zeitgenossen weit hinausgreifenden Ideen und der ungewöhnlichen Art seiner Produktion wird aber das G. nicht selten von der Umgebung verkannt, verfolgt oder gar für verrückt erklärt (Sokrates, Spinoza, Kolumbus, Papin, Stephenson, R. Mayer u. a.). Deshalb sagt Lessing: »bei Lebzeiten und ein halbes Jahrhundert nach dem Tode für einen großen Geist gehalten werden, ist ein schlechter Beweis, daß man es ist«. In neuester Zeit ist (durch Moreau de Tours, Hagen, Lombroso u. a.) ernstlich der Versuch gemacht worden, eine Verwandtschaft zwischen G. und Wahnsinn wissenschaftlich nachzuweisen, von der schon Platon (der »göttliche Wahnsinn« der Dichter), Aristoteles und neuere Schriftsteller (Schopenhauer) andeutungsweise sprechen. Auffällig ist in der Tat, daß eine ganze Menge genialer Menschen dem Wahnsinn verfielen (Tasso, Swift, Lenau, Donizetti, Schumann, Haller, Comte, Nietzsche), während andre durch ihre Absonderlichkeiten dessen Grenze streiften (Byron, Rousseau, der alternde Newton u. a.). Anderseits hat man beobachtet, daß bei Irren bisweilen geistreiche Gedankenblitze und poetische Fähigkeiten hervortreten. Das Gemeinsame dürfte in der gesteigerten Erregbarkeit des Nervensystems liegen, auf die wohl auch die beim G. wie beim Irrsinn häufig auftretende Disposition zu starken und plötzlichen Affekten, die für viele geniale Menschen eine Quelle innern Leidens wird, sowie die vielen Genies, besonders in der Jugend, ebenso aber auch Irrsinnigen eigne Neigung zu Ausschreitungen aller Art (vgl. die »Sturm- und Drangperiode« Goethes) zurückzuführen sind. Endlich hat auch die Unwillkürlichkeit der geistigen Tätigkeit, der das Individuum bisweilen überwältigende Produktionsdrang beim G. in den Zwangsvorstellungen des Irren sein Gegenstück. Bedenkt man aber die große Zahl physisch und geistig gesunder Genies (Platon, Goethe, Kepler, Leibniz, Darwin u. a.), so dürfte die extreme Auffassung des Genies als einer »Neurose« doch gewagt erscheinen. Vgl. Radestock, G. und Wahnsinn (Bresl. 1884); Lombroso, Der geniale Mensch (deutsch, Hamb. 1890; Ergänzungen 1894) und G. und Irrsinn (deutsch in Reclams Universal-Bibliothek); F. Brentano, Das G. (Leipz. 1892); Türck, Der geniale Mensch (6. Aufl., Berl. 1903); Gystrow, Soziologie des Genies (das. 1900).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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