Flandern

Flandern

Flandern (fläm. Vlaanderen, span. Flandes), ehemalige niederländische Grafschaft an der Nordsee, die an Zeeland, Brabant, Hennegau, die Pikardie und Artois grenzte und jetzt teils zu Belgien (nämlich das ehemalige österreichische F., gegenwärtig die zwei Provinzen Ostflandern und Westflandern bildend, s. unten), teils zu den Niederlanden (der südliche Teil der Provinz Zeeland, das sogen. Staatsflandern, mit den Städten Sluys, Hulst, Axel etc.), teils zu Frankreich gehört, wo es einen Teil des jetzigen Departements Nord bildet, und in Seeflandern, vom Meere bis zur Lys, und Wallonisch-F., von der Lys bis zur Scarpe, zerfiel. Die spätere französische Provinz F. umfaßte dazu noch die Landschaften Cambrésis und Hainaut.

Die belgische Provinz Ostflandern (s. Karte »Belgien«) begreift den östlichen Teil der ehemaligen österreichischen Grafschaft F., grenzt gegen N. an die niederländische Provinz Zeeland, gegen O. an Antwerpen und Brabant, gegen S. an Hennegau und gegen W. an Westflandern und umfaßt ein Areal von 3000 qkm (54,5 QM.). Die Zahl der Einwohner betrug Ende 1902: 1,056,513 (352 auf 1 qkm). Der Nationalität nach überwiegt das flämische Element. Die Provinz wird in sechs Arrondissements: Aalst (Alost), Oudenaarde (Audenarde), Eekloo, Gent, Sint-Nicolaas (St.-Nicolas) und Dendermonde (Termonde), eingeteilt. Die Hauptstadt ist Gent.

Die belgische Provinz Westflandern, die westlichste des Königreichs, enthält den westlichen Teil der ehemaligen österreichischen Grafschaft F., grenzt im N. und NW. an die Nordsee, im O. an die niederländische Provinz Zeeland und an Ostflandern, im SO. an Hennegau, im S., SW. und W. an Frankreich. Der Flächenraum beträgt 3234 qkm (58,7 QM.). Die Einwohner, deren Zahl Ende 1902: 828,152 (256 auf 1 qkm) betrug, sind meist Flamen. Westflandern zerfällt in die acht Arrondissements: Brügge, Kortrijk (Courtrai), Diksmude (Dixmude), Veurne (Furnes), Ostende, Rouselare (Roulers), Thielt und Ypern. Die Hauptstadt ist Brügge.

Geschichte. Die ursprünglich von keltischen Stämmen bewohnten, dann zur römischen Provinz Belgica secunda, bez. zum Frankenreich gehörigen Gebiete, aus denen das spätere F. bestand, wurden durch den Vertrag von Verdun (843) so geteilt, daß der größte, überwiegend von Friesen und Saliern germanisierte Teil an Frankreich fiel und nur der rechts von der Schelde gelegene wallonische Teil zum Deutschen Reich gehörte. Der Name F. (mit unbekannter Etymologie), der im 9. Jahrh. zuerst auftaucht, bezeichnete anfangs bloß das von erblichen französischen Kronvasallen, den sogen. Waldgrafen (forestarii), beherrschte Küstenland nördlich und westlich von Brügge. Einer derselben, Balduin I. Eisenarm (gest. um 878), Schwiegersohn Karls des Kahlen, gründete das flandrische Grafengeschlecht, das seit Arnulf I. (918–964), unter dem 932 die Eroberung von Artois (s.d.) vollendet ward, lange auch den Markgrafentitel führte und dessen Macht, dank der Schwäche seiner französischen und deutschen Oberlehnsherren, bis Anfang des 12. Jahrh. unablässig an innerer Stärke wie an äußerm Umfang zunahm. Ihm gehörten an: Balduin V. (1035–67), der 1056 vom Kaiser die Belehnung mit Reichsflandern (den zeeländischen Inseln, dem »Land der vier Ambachten« und der Grafschaft Alost) ertrotzte; Balduin VI. (1067–70), der durch seine Heirat (1051) F. und Hennegau (s.d.) vorübergehend vereinigte; Robert I., der Friese (1071–93), der, seit 1063 längere Zeit auch Regent von Holland (s.d.), sich durch Verlegung des politischen und wirtschaftlichen Schwerpunktes nach Norden um die industrielle und kommerzielle Entwickelung der flandrischen Städte sehr verdient machte; Robert II. (1093–1111), der während des Investiturstreits vorübergehend die Schirmvogtei über Cambrai und dessen Gebiet erhielt. Der Versuch König Ludwigs VI., nach der Ermordung Karls des Guten (1127), eines Enkels Roberts I., den vom flandrischen Adel unterstützten Wilhelm von der Normandie, einen Urenkel Balduins V., auf den Thron und dadurch F. wieder unter französischen Einfluß zu bringen, scheiterte an dem Widerstand der flandrischen Bürger und Bauern, deren Schützling Dietrich von Elsaß, ein Enkel Roberts I., 1128 Graf von F. ward und, wie sein Sohn Philipp (1168–91), die wirtschaftliche Entwickelung der Grafschaft nach Kräften zu fördern suchte. Erst unter König Philipp II. August (s.d.), dessen hennegauischer Schwiegervater Balduin VIII. (V.), als Schwager und Nachfolger Philipps von Elsaß, F. und Hennegau wiedervereinigte, ward der südliche Teil Flanderns (Artois) für Frankreich zurückgewonnen und, seit der Schlacht von Bouvines (1214), die französische Oberlehnsherrschaft über F. von neuem kräftig zur Geltung gebracht. Nach dem Tode Johannas (1241), der ältern Tochter Balduins IX. (VI.), brachen zwischen den Nachkommen ihrer Schwester Margarete Erb- und Thronstreitigkeiten aus, die der Vereinigung von F. und Hennegau ein Ende machten und das neue flandrische Grafengeschlecht Dampierre zunächst nicht nur zum engen Anschluß an Frankreich, sondern auch zu bedeutenden Zugeständnissen an die flandrischen Städte nötigten. Seitdem griffen die Städte Ypern, Gent und Brügge, bald im Bunde, bald im Kampfe mit dem Grafengeschlecht, entscheidend in das Geschick Flanderns ein. Durch ihren Sieg (1302) bei Courtrai (s.d.) und den spätern Verzicht (1320) auf Wallonisch-Flandern (Lille, Douai und Béthune) ward der Plan König Philipps IV., des Schönen (s.d.), F. in Frankreich einzuverleiben, vereitelt und F. zu einem rein germanischen Gebiet gemacht, durch ihr Verhalten dem platten Lande gegenüber der soziale Aufstand in Seeflandern (1323–28) hervorgerufen, durch ihre innern Parteikämpfe und gegenseitigen Eifersüchteleien endlich das Unternehmen der beiden Artevelde (s.d.) gegen Ludwig I. von Nevers (1322–46), bez. Ludwig II. von Maele (1346–84) zum Scheitern gebracht und die Vereinigung von F. mit Burgund (s.d.), dessen Los es fortan teilte, erheblich erleichtert (1385). Seit 1477 im Besitze des Hauses Habsburg, 1512 zum Burgundischen Kreis (s.d.) geschlagen, 1526 endgültig von der französischen Oberlehnshoheit befreit, kam F. 1555 an die spanische Linie, unter deren Herrschaft sein Gebiet 1648 durch die Abtretung Staatsflanderns (der Ufergebiete südlich der Schelde) an die niederländische Republik, später durch den Verlust von Dünkirchen, Douai, Lille, Gravelingen etc. an Ludwig XIV. eine beträchtliche Schmälerung erlitt. Seit 1714 ein Teil der österreichischen Niederlande, bildete F. 1794–1814 zwei französische Departements, die 1814 als Ostflandern und Westflandern dem Königreich der Vereinigten Niederlande zugeteilt wurden und durch die Revolution von 1830 an das neugebildete Königreich Belgien (s.d.) fielen. Vgl. »Corpus chronicorum Flandriae« (Brüss. 1837–65, 4 Bde.); Limburg-Stirum, Codex diplomaticus Flandriae (Brügge 1879 bis 1889, 2 Bde.); Kervyn de Lettenhove, Istore et croniques de Flandre (Brüss. 1879–80, 2 Bde.); Derselbe, Histoire de Flandre (5. Aufl., Brügge 1898, 4 Bde.); Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte (Tübing. 1835–42, 3 Bde.; französische Bearbeitung von Gheldolf, Brüss. 1835–64, 5 Bde.); Le Glay, Histoire des comtes de Flandre jusqu'à l'avènement de la maison de Bourgogne (das. 1853, 2 Bde.); Brosien, Der Streit um Reichsflandern (Berl. 1884); Funck-Brentano, Philippe le Belen Flandre (Par. 1897); Pirenne, Le soulèvement de la Flandre Maritime 1323–1328 (Brüss. 1900); Coussemaker, Troubles religieux du XVI. siecle dans la Flandre Maritime (Brügge 1877, 4 Bde.); Vanderkindere, Le siècle des Artevelde (Brüss. 1879); Pirenne, Geschichte Belgiens (deutsch von Arnheim, Gotha 1899–1902, 2 Bde., bis 1477 reichend).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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