Neutralität

Neutralität

Neutralität (neulat.), das Verhältnis desjenigen, der an dem Streit andrer nicht teilnimmt; insbes. im Völkerrechte die Nichtbeteiligung eines Staates an einem Kriege zwischen andern Staaten, Unterstützung keines der sich befehdenden Staaten. Neutral ist ein Staat, der für keinen der Kriegführenden Partei nimmt. Die N. kann darum stets nur eine unbedingte, unbeschränkte, vollständige sein; der zuweilen aufgestellte Begriff einer bedingten, beschränkten, unvollständigen N., bei der mit Rücksicht auf Verträge oder ähnliche Verhältnisse einem der Kriegführenden in irgend welcher Weise Hilfe gewährt werden dürfe, enthält ebenso wie jener einer wohlwollenden N. (neutralité bienveillante), die naturgemäß eine Begünstigung des einen der Streitsteile mit sich bringen müßte, einen innern Widerspruch. Ihrem Ursprunge nach ist die N. entweder eine freiwillige oder eine vertragsmäßige. Zur letztern Art gehört auch die N. jener Staatsgebiete, denen ganz oder teilweise (daher totale oder partielle N.) in dauernder und allgemein verbindlicher Weise durch Staatsverträge die N. auferlegt oder zugesichert wird, um im Interesse der Gesamtheit der Staaten sie unversehrt zu erhalten oder ihre Benutzung als Angriffsbasis hintanzuhalten (Neutralisierung, Neutralisation). In diesem Sinn ist die Schweiz durch die Pariser Akte der Alliierten vom 20. Nov. 1815, ebenso Belgien (Londoner Vertrag vom 15. Nov. 1831, Art. 7), die Ionischen Inseln bei ihrer Vereinigung mit Griechenland (Vertrag vom 14. Nov. 1863), Luxemburg (Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867) und der Kongostaat (Berliner Akte vom 26. Febr. 1885, tz 3) neutralisiert, ferner die savoyischen, zu Frankreich gehörigen Bezirke Chablais und Faucigny am Südufer des Genfer Sees auf Grund der Wiener Kongreßakte sowie der Suezkanal (Vertrag von Konstantinopel vom 29. Okt. 1888). Die in den Parlamenten von Schweden, Norwegen und Dänemark wiederholt gestellten Anträge auf Neutralisation dieser Länder hat bisher zu keinem Ergebnis geführt. Für Deutschland wäre dies jedoch von größtem Nutzen, weil dadurch die Sicherheit des strategisch wichtigen Nordostseekanals gegen Angriffe von Norden gewährleistet wäre. Bewaffnet heißt die N., wenn der neutrale Staat zur Wahrung dieser seiner Stellung Truppen aufstellt oder sonst seine Absicht kundgibt, dieselbe nötigenfalls mit Waffengewalt zu schützen; geschichtlich bekannt und bedeutend ist besonders die »bewaffnete N.« von 1780, zu der sich Rußland, Preußen, Dänemark, Schweden und Portugal während des nordamerikanischen Krieges zur Verteidigung des friedlichen Handelsverkehrs gegen die Übergriffe der kriegführenden Seemächte, namentlich Englands, verbunden haben (vgl. Frei Schiff, frei Gut). Nicht sowohl eine N. im eigentlichen Sinn als vielmehr eine besondere Befriedung und Unverletzlichkeit ist, was die Genfer Konvention (s. d.) vom 22. Aug. 1864 nebst spätern Zusatzartikeln vom 20. Okt. 1868 gewährleistet. Dagegen sind die Anregungen, die zur Neutralisation von submarinen Telegraphenkabeln gegeben wurden, bisher ohne Erfolg gewesen, jedoch gilt jetzt allgemein, daß die Zerstörung von Kabelverbindungen zwischen zwei neutralen Staaten gegen das Kriegsrecht verstößt.

Eine Feststellung der Pflichten und Rechte der Neutralen durch ein internationales Übereinkommen ist bis heute noch nicht zustande gekommen. Immerhin enthält die Landkriegskonvention der Haager Friedenskonferenz (s. d.) von 1899 einige diesbezügliche Bestimmungen, die unter Ziffer 2 angegeben sind. Durch stillschweigendes Übereinkommen und auf Grund bisheriger Übung kann man, außer dem obersten Grundsatz, daß kein neutraler Staat die Kriegführenden in bezug auf die Kriegführung unterstützen darf, als Pflichten und Rechte der Neutralen nachstehende annehmen.

Pflichten der Neutralen: 1) Der Neutrale darf keine der kriegführenden Parteien unterstützen und was er der einen erlaubt, der andern nicht versagen. 2) Der neutrale Staat hat den Kriegführenden sein Gebiet zum Zweck der Kriegführung zu verschließen. Das in neutrales Gebiet durch Unwetter oder Haverei getriebene feindliche Kriegsschiff darf seine Havereien ausbessern sowie den ihm unumgänglich nötigen Proviant, nicht aber Kriegsmunition, einnehmen; treffen solchenfalls Schiffe beider Kriegsparteien in demselben neutralen Hafen zusammen, so muß zwischen deren Auslaufen ein Zwischenraum von wenigstens 24 Stunden beobachtet werden. Nach den Bestimmungen der Haager Friedenskonferenz sind Truppen der kriegführenden Mächte, die auf neutrales Gebiet übertreten, zu entwaffnen und möglichst weit vom Kriegsschauplatz unterzubringen. Die Verwahrung in Lagern, ihre Einschließung in Festungen oder andern geeigneten Orten ist zulässig. Hiervon können Offiziere, die sich ehrenwörtlich verpflichten, ohne Erlaubnis das neutrale Gebiet nicht zu verlassen, ausgenommen werden. Für die notwendige Verpflegung etc. muß der neutrale Staat sorgen, seine Auslagen sind ihm nach dem Friedensschluß zu ersetzen. Den Durchzug von Verwundeten kann der neutrale Staat gestatten, muß aber dafür sorgen, daß bei dieser Gelegenheit weder Kriegspersonal noch Kriegsmaterial mitgeführt wird. Verwundete oder Kranke, die auf seinem Gebiet untergebracht werden, muß er derart bewachen, daß sie nicht wieder die Waffen ergreifen oder sonst an den Kriegsoperationen teilnehmen können. In ähnlicher Weise wurde auf der Friedenskonferenz auch die Behandlung der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen durch Neutrale im Seekriege geregelt. Weiter gilt als allgemein anerkannte Pflicht der Neutralen, daß die Ausrüstung von Kriegsschiffen in neutralen Häfen nicht gestattet werden darf, daß Truppen der Kriegführenden nicht durch neutrales Gebiet hindurchmarschieren dürfen, auch nicht kraft eines schon längst vor Beginn des Krieges begründeten Verhältnisses. Endlich dürfen Truppen für eine kriegführende Macht auf neutralem Gebiet nicht angeworben werden. 3) Der neutrale Staat darf nicht einem der Kriegführenden Gelddarlehen machen oder gar Geldunterstützungen (Subsidien) gewähren, noch auch unmittelbare Kriegsbedürfnisse zuführen (s. Konterbande). 4) Der neutrale Staat ist auch für das verantwortlich, was in dieser Richtung auf seinem Gebiete geschieht; doch sind bloße Äußerungen der Sympathie für eine Kriegspartei sowie Akte der Wohltätigkeit erlaubt. 5) Er hat sich dem rechtmäßig geübten Durchsuchungsrecht (s. d.) zu unterwerfen und muß eine effektive Blockade (s. d.) respektieren. 6) Er darf den kriegführenden Mächten auf neutralem Gebiet keine Ausübung des Prisenrechts gestatten (s. Prise). 7) Er darf nicht dulden, daß auf seinem Gebiete Verschwörungen gebildet werden, die sich gegen die Sicherheiten andrer Staaten richten.

Rechte der Neutralen: 1) Bei Beobachtung ihrer Pflichten können die Neutralen von den Kriegführenden beanspruchen, daß diese die N. der erstern und insbes. das Gebiet des neutralen Staates als solches achten. Sie dürfen daher keine Truppen auf demselben anwerben, in neutralen Gewässern keine Prise und auf neutralem Gebiet keine Beute machen; überhaupt dürfen sie das Gebiet des neutralen Staates in keiner Weise in die kriegerische Operation hineinziehen. 2) Störungen des Handels und des Verkehrs sind den Neutralen gegenüber möglichst zu vermeiden. 3) Die durch besondere Abmachungen einzelnen Personen und gewissen Kategorien von Personen gewährte N., insbes. nach Maßgabe der Genfer Konvention (s. oben), ist zu respektieren, auch wenn dieselben Angehörige der kriegführenden Macht sind, und selbst wenn sie zu der mobilen Armee gehören. 4) Das neutrale Staats- und Privateigentum bleibt unangetastet. Kriegsschiffe und Handelsschiffe, die unter dem Geleit (Convoi) von neutralen Kriegsschiffen segeln, sind dem Durchsuchungsrecht nicht unterworfen. Nach dem Grundsatz »Frei Schiff, frei Gut« (s. d.) deckt die neutrale Flagge auch feindliches Gut mit Ausnahme der Kriegskonterbande. Auf feindlichen Schiffen ist neutrales Gut gleichfalls zu respektieren (»Unfrei Schiff, frei Gut«).

Verletzungen der N. durch die Neutralen haben die fernere Nichtachtung ihrer N. durch die Kriegführenden zur Folge. Sie berechtigen dieselben zu Repressalien und können zur Kriegserklärung, jedenfalls aber zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen führen, wie dies durch das Genfer Schiedsgericht in der Alabamafrage (s. d.) ausgesprochen worden ist. Insbesondere treten bei Verletzung der Blockade, Zuführung von Kriegskonterbande, Beförderung feindlicher Mannschaften oder bei sonstigem Transportdienst für die Kriegführenden Beschlagnahme und Wegnahme von Schiff und Ladung ein (s. Prise). Auf der andern Seite sind die Neutralen bei Verletzung ihrer N. durch die Kriegführenden durch ihre N. nicht so weit gebunden, daß sie nicht auch ihrerseits zu Repressalien und nötigenfalls selbst zur kriegerischen Selbsthilfe schreiten könnten. Vgl. außer den Lehrbüchern des Völkerrechts (von Heffter, Holtzendorff, Bulmerincq, Martens, Rivier, Ullmann, Perels, Bonfils u.a.) Geßner, Kriegführende und neutrale Mächte (Berl. 1877) und Droit des neutres sur mer (2. Aufl. das. 1876); Haute feuille, Des droits et des devoirs des nations neutres (3. Aufl., Par. 1869, 3 Bde.); Schiattarella, Diritto della neutralità nelle guerre marittime (2. Aufl., Flor. 1881); di Marco, La neutralità nelle guerre marittime (Palermo 1882); Bergbohm, Die bewaffnete N. 1780–1783 (Berl. 1884); Schweizer, Geschichte der schweizerischen N. (Frauenfeld 1893–1895, 3 Bde.); Schopfer, Le principe juridique de la neutralité et son évolution dans l'histoire du droit de la guerre (Lausanne 1894); Ullmann, Der deutsche Seehandel und das Seekriegs- und Neutralitätsrecht (1900); Kleen, Lois et usages de la neutralité d'après le droit international conventionnel et coutumier des États civilisés (Par. 1898–1900, 2 Bde.); Kraemer, Die unterseeischen Telegraphenkabel in Kriegszeiten (Rostock 1903); »Kriegsgebrauch im Landkrieg«, herausgegeben vom Großen Generalstab (Berl. 1902).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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