- Norwegische Literatur
Norwegische Literatur. Bis zum Anfang des 19. Jahrh. ist Norwegen im wesentlichen eine literarische Provinz gewesen, abhängig zuerst von seiner entlegenen Kolonie Island und, nach dem stillen Absterben der altnordischen Literatur und Sprache im 13. Jahrh., von der gemeinsamen norwegisch-dänischen Universitäts- und Residenzstadt Kopenhagen. Vor der Kolonisation Islands (872) traten norwegische Skalden hervor, wie der kunstfertige Thjodolf von Hwin, Torbjörn Hornklove, Guttorm Sindre aus dem Gefolge Harald Haarfagres (860 bis 930). Haralds Sieg über die Fylkeskönige (872) und seine Alleinherrschaft im Lande bildet die untere Grenze für ein Gedicht, in dem diese Großtat besungen wird. Eyvindr Skaldaspillir (etwa 910–990) ist der Dichter des »Hákonarmál«, das König Haakon den Guten (935–961), und des »Háleygjatal« (nach 986), das Haakon Jarl feiert. Olaf der Heilige (1016–30), sein Sohn Magnus der Gute (1034 bis 1047), Harald Haardraade (1047–66) und Magnus Barfod (1093–1103) werden alle als selbsttätige Gönner der Skaldenkunst bezeichnet. Es waren aber die Isländer, die etwa 100 Jahre nach Harald Haarfagres Sieg und der ihm folgenden Auswanderung nach Island den in Norwegen bereits verstummten Skaldengesang zu seiner höchsten Blüte brachten. Sie waren und blieben das ganze Mittelalter hindurch die Literaten Norwegens. An den Höfen der norwegischen Könige besangen die jungen isländischen Dichter in »Draper« und »Flokke« die Taten der Helden, zeichneten die Königssagen auf und legten so den Grund zu der Geschichtschreibung (»Fagrskinna«, Snorre Sturlasons »Heimskringla« u.a.).
Das Christentum machte die lateinische Sprache und die Schriftkunst ein heimisch. Das älteste in Mönchsschrift aufbewahrte norwegische Denkmal ist König Sverres (1177–1202) »Rede gegen die Bischöfe«, die dem gemeinen Volke vorgelesen werden sollte. Sonst waren die Originalwerke alle von Geistlichen lateinisch abgefaßt, so die Legenden vom heiligen Olaf, Sunniva, Halvard, die Geschichtswerke des Mönchs Theodricus (1180), die Bergenser »Historia Norvegiae« u.a. Aus der Übersetzungsliteratur sind nennenswert die Predigten im »Norwegischen Homilienbuch« und die »Geschichte Israels« (1220) in dem großen Bibelkodex »Stjórn«.
Das 13. Jahrh. zeigt einen gewissen Fortschritt insofern, als die Ritterromane und der Troubadourgesang erst in Norwegen und von da aus in Island will ige Aufnahme fanden. König Haakon Haakonson (1204–63, geschildert in Ibsens »Thronprätendenten«) ließ die Sagen von Parzival, Tristan, Flore und Blancheflur, die Karlssage u.a. in norwegische Prosa übersetzen. Haakon der Junge übertrug, wie die Tradition berichtet, persönlich »Barlaam und Josaphat«. Die Balladendichtung wird um das 13. Jahrh. ihre Blüte erreicht haben. Die hervorragendsten Leistungen, die uns erhalten sind, waren Magnus Haakonson Lagaböters (1263–80) Gesetzbuch »Landsloven« und der »Königsspiegel« (Dialoge zwischen Vater und Sohn).
Die geschichtlichen Ereignisse der folgenden zwei Jahrhunderte (1300–1500) waren wenig geeignet, die literarischen Interessen zu fördern. Die Union der drei nordischen Reiche (1389–1448) verlegte den Hof nach Stockholm oder Kopenhagen, die Pest verheerte das Land (1349), nach der Vereinigung mit Dänemark wurden die Eingebornen unterdrückt und verschmolzen schließlich mit den Dänen. Erst führten sich die Birgittiner mit ihren schwedischen Übersetzungen ein; dann, im 16. Jahrh., wußten sich die Dänen die norwegische Apathie zunutze zu machen. Die nationale Sprache wurde mit den alten Sitten, mit den Märchen und Liedern in die abgelegenen Bergtäler verdrängt. Zur Zeit der Reformation verstand keiner mehr das Altnorwegische, und so bilden denn Magnus Saebjörnsons dänische Übersetzung von König Magnus' »Landslov« (1520–30) und die dänische Bibelversion den Ausgangspunkt der neuen norwegisch-dänischen Gesamtliteratur (s. Dänische Literatur). Aus dem 16. Jahrh. sind endlich ein paar bedeutendere nationale Prosawerke zu verzeichnen, die anschauliche »Beschreibung Norwegens« von Absalon Pederssön (1530–74) und die »Chronik der norwegischen Könige« von Peder Claussön (1545–1614), beide lutherische Geistliche. In Christiania wurde 1643 eine Druckerei eingerichtet, ihre Leistungen scheinen aber die einheimische Dichtung wenig gefördert zu haben, denn die im besten Sinne volkstümlichen Lieder des Pfarrers Petter Daß (1647–1708) blieben dem großen Publikum nur in Abschriften zugänglich, bis sie endlich in Kopenhagen lange nach dem Tode des Verfassers gedruckt wurden. Überhaupt war Kopenhagen das Zentrum jeder geistigen Regsamkeit. Die gebornen Norweger Holberg, Wessel, Tullin, Bredal, Bruun, Fasting (s. Dänische Literatur) empfingen dort ihre Universitätsbildung und ihren literarischen Schliff. Im 17. und 18. Jahrh. gehörten die Norweger mit zu den Hauptträgern der dänischen Nationalliteratur. Wenn bei ihnen etwas speziell Norwegisches zu bemerken ist, so wäre es ein humoristisch-satirischer Wirklichkeitssinn, ein nüchternes, aber gesundes Naturgefühl, das der damaligen Überschwenglichkeit der Verehrer Klopstocks und Ewalds entgegentrat. Diese Richtung erhielt einen Sammelpunkt in der Norwegischen Gesellschaft (gestiftet 1772), die einen reinigenden und weckenden Einfluß ausüben sollte. Man dachte noch nicht an eine besondere n. L., aber immerhin mehrten sich die Bestrebungen, auch in Norwegen ein literarisches Leben wachzurufen. Claus Friman (1746–1829), der in Kopenhagen preisgekrönte Modepoet, wurde unter den Bauern seiner Gemeinde ein Volksdichter, dessen Lieder noch heute gesungen werden; die Lyriker Jonas Rein (1760–1821) und Jens Zetlitz (1761–1821, »der Freude muntrer Sänger«) zogen wie er als Pfarrer nach Norwegen; der Kritiker Fasting (1746–91) begründete in Bergen die erste literarische Zeitschrift; Enevold de Falsen (1755–1808) förderte in Christiania die erste freie Bühne; Edward Storm (gest. 1794) und Th. Stockfleth (1743–1808) griffen aus nationalem Gefühl heraus zur Volkssprache und wurden somit Vorläufer der heutigen »Maalsträver«. Als endlich nach langem Widerstreben die dänische Regierung die Einrichtung einer Universität in Christiania (1811) hatte zugestehen müssen und bald darauf die fadenscheinigen politischen Bande durch die Union mit Schweden (1814) brachen, begann die Zeit der nationalen Selbständigkeit. Norwegen suchte und fand seinen geistigen Mittelpunkt in sich selbst.
Zunächst wurden alle Kräfte von dem politischen Leben in Anspruch genommen, das in Norwegen (wie sonst nur in England) eng mit dem literarischen zusammenhängt. Und so ist die einzige große Leistung während der ersten Jahrzehnte die Konstitution und das Grundgesetz (»Grundloven«). Sie geben einen beredten Ausdruck von der neuen Denkweise, die, von England ausgehend, in Frankreich die allehrwürdige Gesellschaftsordnung über den Haufen gestürzt hatte und in Norwegen den grundbesitzenden Bauernstand als ausschlaggebenden Faktor heranzog. Was sonst in literarischer Beziehung hervorgebracht wurde, waren die alten Verherrlichungen von »Norwegens Bergen und Wasserfällen«, von seinen »freien Bauern« und seinem Nationalgefühl, dem sogen. »Norskhed«. Zu den Vertretern jener rhetorischen Lyrik oder empfindsamen Novelle gehören Lyder Sagen (1777–1850), Conrad Nicolai Schwach (1793–1860), J. St. Munch (1778–1832), S. O. Wolff (1796–1859) und die von der deutschen Romantik beeinflußten Mauritz Hansen (1794–1842), dessen überaus zahlreiche Novellen einheimische bürgerliche Stoffe behandeln, und Henrik Anker Bjerregaard (1792–1842), der ein heimische aktuelle Stoffe in dem Singspiel »Fjeldeventyret« mit dauerndem Erfolg auf die Bühne brachte.
Zum eigentlichen Bewußtsein seiner Eigenart kam das norwegische Literaturleben erst in der folgenden Sturm- und Drangperiode, die von dem feurigen Genius Henrik Wergelands (1808–45) ihr Gepräge erhielt. Er verkündete in Lyrik, Epos und Drama die Grundsätze der französischen Revolution, die Ideen, die zur selben Zeit einen Byron und Shelley begeisterten, die Ideale des freien Menschentums und der republikanischen Staatsform, fand aber einen scharfen Kritiker in dem ersten Vorkämpfer des Konservativismus und des Formprinzips, Johann Sebastian Cammermeyer Welhaven (1807–73). Dessen Schriften. »Henrik Wergelands Dichtkunst und Polemik« (1832) und »Norges Daemrin« (1834) entfachten eine überaus lebhafte literarische Fehde und spalteten sogar die Studentenwelt in zwei Parteien: »Samfundet«, in der die Wergelandschen Tendenzen herrschend wurden, und »Förbundet«, welche die dänische Tradition aufrecht erhalten wollte und ein eignes Organ, »Vidar«, herausgab. Die erbitterten Gegner lieferten sich schlief;sich mit Fäusten und Stöcken die »Campbellerschlacht« im neueröffneten Nationaltheater (s. Wergeland). Aber die eignen Parteigenossen kehrten Wergeland, dem populärsten Mann Norwegens, den Rücken, als er, durch die Schwindsucht aufs Krankenlager geworfen, eine Pension des Königs Karl Johann angenommen hatte. Unter seelischen und körperlichen Leiden entstanden nun jene Meisterwerke: »Jan van Huysums Blumenstück« (1840), »Die Schwalbe« (1841), »Der Jude« (1842), »Der englische Lotse« (1844), neben denen alle andern Erzeugnisse der Zeit verblassen. Nach Wergelands Tode tritt Welhaven in den Vordergrund. In seinen Gedichten (5. Sammlung, 1839–60) tritt das Pathos und die richtige Auffassung des Nationalen, das Wergelands Erbe an sein Volk war, immer wohltuender hervor, namentlich in den Balladen (1845). Den dritten Rang nahm in dieser Periode »der Sänger des frommen Gefühls«, Andreas Munch (1811–84), ein. Bedeutenderes schuf aber die Schwester Wergelands, Camilla Collett (1813–95), mit ihrem Roman »Die Töchter des Präsidenten« (»Amtmandens Dötre«, 1855), dem ersten modernen Familienroman. In ihrer spätern Produktion trat sie für jene norwegische Art der Frauenbewegung ein, die weniger auf äußere Reformen als auf eine andre Gesellschaftsauffassung der Frau Gewicht legt.
In der dritten Periode (1845–60) herrscht in der Literatur zunächst größere Ruhe. Es kam ein Nachwuchs von Talenten, die meist schon während jener Kampfzeit ihr Gepräge erhalten hatten, wie P. A. Jensen (1812–67), Silvester Sivertson (1809–47), Chr. Monsen (1815–52) u.a. Die deutsche Romantik, die im Gegensatz zu dem übrigen Norden nur geringe Wirkung auf Norwegen ausgeübt hatte, machte in dieser Periode ihren Einfluß in dem gesteigerten Interesse an der Volksdichtung und Volkskunde geltend. Besonders erfolgreich wirkte Peter Chr. Asbjörnsen (1812–85), der im Verein mit dem Bischof Jörgen Moe (1813-)(2) Volksmärchen und Sagen sammelte und herausgab. Moe rahmte seine Märchen »Huldreäventyr« (1845) in frische Natur- und Volksbilder ein und schuf durch die vorbildliche Kraft seiner Sprache einen neuen norwegischen Prosastil. Die Volksliedersammlung von Magnus B. Landstad (1802–80) und dem Sprachforscher Sophus Bugge (geb. 1833) lieferte Beiträge zur Begründung einer volkstümlichen Literatur. Wie Welhavens Balladen wurzeln in der Volksdichtung die Naturschilderungen und Skizzen aus dem Volksleben seiner Zeitgenossen Nicolai Östgaard (1812–73; »En Fjeldbygd«), Bernhard Herre (1812–49; »En Jägers Erindringer«), Harald Meltzer (1814–62; »Smaabilleder af Folkelivet«), Hans Schultze (1823–73; »Fra Lofoten og Solör«). Der Autodidakt Ivar Aasen (1813–96, s. d.) war der wissenschaftliche Gesetzgeber der durch Wergelands und seiner Anhänger Bemühungen (Maalstraev) neugeschaffenen volkstümlichen Sprache (»Landsmaal«), die außerordentlich ursprünglich anmutet; der Bauernsohn Aasmund Olafsen Vinje (1818–70) war ihr erster glänzender Lyriker und Polemiker (s. Norwegische Volkssprache). Unter den »Dialektstrebern« dieser Periode muß auch Kristoffer Janson (geb. 1841) mit seinen Erzählungen und lyrischen und dramatischen Dichtungen genannt werden.
Eine neue Ära der ganzen norwegischen Entwickelung bezeichnet das in die 1860er Jahre fallende Auftreten der beiden weltliterarischen Größen: Henrik Ibsen (geb. 1828, s. d.) und Björnstjerne Björnson (geb. 1832, s. d.). 1854 war in Bergen die erste national-norwegische Bühne eröffnet worden, zu dessen Leitern nacheinander Ibsen und Björnson berufen wurden. Die Stücke, die sie für diese Bühne lieferten, wurzeln noch in der vaterländischen Panegyrik der vorhergehenden Periode. Erst als Ibsen 1864 auf 27 Jahre sein Vaterland verließ, beginnt jene kritisch niederreißende und realistisch aufbauende Tätigkeit, durch die er von der Bühne aus die gesamtgermanische Literatur neubeleben sollte. In diametralem Gegensatz zu Ibsen hat sich Björnson in allen Dichtarten versucht und, ein geborner Parteiführer, kein Gebiet der heimatlichen Entwickelung unberührt gelassen. Immer war sein Name ein Weckruf zu Kampf und Fortschritt. Auch Jonas Lie (geb. 1833) und der satirische Sittenschilderer Alexander L. Kielland (1849–1906) gehören zu den Dichtern, die dem modernen norwegischen Roman den Weg brachen. Lie hat sich mit seinem Humor und seiner Fabulierfreude der Problemliteratur ferngehalten; seine Seeromane und Familienschilderungen haben ihn zu einem der beliebtesten Deuter nordischer Gemütsart gemacht.
Die schöpferische Tätigkeit der 1880er Jahre steht vollends im Zeichen des unter dem Einfluß des Dänen Georg Brandes entwickelten Naturalismus oder der Problemdichtung. Unter ihren Adepten traten besonders hervor: John Paulsen (geb. 1851), Hans Jaeger (geb. 1854), der Maler, Dichter und Publizist Christian Krohg (geb. 1852), Amalie Skram (1847–1905), Arne Garborg (geb. 1851, s. d.). Garborgs Werdegang veranschaulicht in sich ein Stück norwegischer Entwickelungsgeschichte. Wie er trat der Lyriker Nils Collett Vogt (geb. 1864) in den 1880er Jahren als Umstürzler und »lebensberauschter Heide« auf, um sich später als beschaulich sehnsuchtsvoller, stiller Schwärmer zu geben. Theodor Madsen (geb. 1858) vergrub sich und seine Novellen in hoffnungslosem Fatalismus; Gabriel Finne (1866–99) ist nie dem unerbittlichen Naturalismus untreu geworden. Arne Dybfest (1868–92) ist noch als Jüngling an seinem kranken Einsamkeitsgefühl zugrunde gegangen. Die Brüder Krag zeigen ein lebensfreundlicheres Naturell; die Lyrik Wilhelm Krags (geb. 1871) bringt in Versen und in Prosa eigenartig neue, wehmütige oder wilde Harmonien hervor. Wie sein Bruder, der Novellist Thomas P. Krag, sucht er in der abgelegenen Ruhe der heimatlichen Natur die stillen Existenzen mit den schweren Schicksalen auf. Hinter den Werken aller dieser jungen Dichter steht das Gefühl der Empörung gegen das Bestehende, vereint mit dem Bedürfnis, der eignen Persönlichkeit zu huldigen. Technisch sind ihre Werke oft mustergültig; inhaltlich durchweht sie eine gewisse Dekadenzlust, aus der die jüngste Generation hinausstrebt. An ihrer Spitze steht Knut Hamsun (geb. 1860), der von der qualvollen Selbstanalyse seines ersten Romans »Hunger« zu einer impressionistisch schillernden Fabulierkunst gelangt ist. Ihm zunächst stehen Hans E. Kinck (geb. 1865), der wildeste Phantast der norwegischen Literatur, Johan Bojer (geb. 1872), Sigurd Mathiesen (geb. 1871) und Andreas Haukland (geb. 1873). Gunnar Heiberg (geb. 1857) ist wie Hamsun ein interessanter Neuerer im Drama, das auch von den meisten hier als Novellisten angeführten Schriftstellern gepflegt wurde. Sigbjörn Obstfelder (1866–1900) steht außerhalb der Richtungen und Einflüsse. Ein mystischer Grübler, ist er durch seine suggestive Prosalyrik vorbildlich geworden. Einen großen Aufschwung hat in jüngster Zeit die Dichtung in der Volkssprache, das vorerwähnte »Maalsträv«, genommen. Um Arne Garborg als Leiter scharen sich bedeutende Kräfte, wie die Dramatiker und Prosalyriker Ivar Mortenson (geb. 1857) und Vetle Vislie (geb. 1858), die Volksdichter Per Sivle (1857 bis 1905) und Anders Hovden (geb. 1860), der Humorist Hans Aanrud (geb. 1863) und die aus ihrer heimischen Umgebung frisch schöpfenden Volksschilderer Jens Tvedt (geb. 1857), Rasmus Löland (geb. 1861) und Hans Seland (geb. 1867). Überhaupt wendet sich die norwegische Novelle mit Vorliebe der Schilderung des Volkslebens zu. Unter ihren Vertretern sind noch zu nennen Magdalene Thoresen (1819–1904), Peter Egge (geb. 1869), Jakob B. Bull (geb. 1853), Mons Lie (geb. 1864), Bernt Lie (geb. 1868) und Jakob Hilditch (geb. 1864). Kulturhistorische Bilder lieferte Tryggve Andersen.
Unter den Schriftstellerinnen aus der ältern Generation sind neben den bereits Erwähnten die auch ins Deutsche vielfach übersetzten Novellisten Elise Aubert und Antoinette Meyn (»Marie«; geb. 1827) zu nennen, die in ihren Kunstidealen an englische Schriftstellerinnen erinnern, ebenso wie Marie Colban (geb. 1814) und Elisabeth Schöyen, die Fürstin d'Este Gonzaga (geb. 1852), an französische Sittenschilderer der ältern Schule. Von den jüngern Schriftstellerinnen schreibt Amalie Skram in ausgeprägt naturalistischem Stil, scharf, düster und leidenschaftlich. Alvilde Prydz (geb. 1848) und Anna Munch (geb. 1856) nähern sich der Idealität Camilla Colletts.
Wissenschaftliche Literatur.
Auch auf dem Gebiete der Wissenschaft hat die junge n. L. gediegene Leistungen aufzuweisen. Zwei Daten bezeichnen die Ausgangspunkte einer zielbewußten Arbeit: 1767 die Gründung der spätern Königlichen norwegischen Gesellschaft der Wissenschaften durch den Polyhistor Bischof Gunnerus (1718–73) und die Historiker Gerh. Schöning (1722–80) und P. Fr. Suhm (1728–98) und die Eröffnung der Universität in Christiania (1811). Bezeichnend für die praktische Veranlagung des Volkes ist, daß Mathematik und Naturwissenschaften sich bald selbständig entwickelten. Der erste Professor der Mathematik an der jungen Hochschule, Chr. Hansteen (1784–1873), brachte völlig Neues auf dem Gebiete des Erdmagnetismus. Sein Schüler Niels Henrik Abel (1802–1828), der, gegen Armut und Mißgeschick kämpfend, 26 Jahre alt starb, gilt nebst Gauß und Cauchy als der Begründer der neuern Mathematik. Ole Broch (1818–89) hat sich als Lehrer und Organisator ausgezeichnet; von seinen direkten oder indirekten Schülern machten sich viele einen europäischen Namen: so C. A. Bjerknes (geb. 1825) in der Hydrodynamik, Sylow (geb. 1832) in der reinen Mathematik und Sophus Lie (s. d., 1842–99) durch seine Theorie der Transformationsgruppen. Als Botaniker haben die Blytt, Vater (1789–1862) und Sohn (geb. 1843), mit dem großen Werke »Flora Norwegens« (1861–74) grundlegend gewirkt. Die Seefauna wurde von Michael Sars (1805–69; »Fauna littoralis Norvegiae«, 1849–56) untersucht. Sein Sohn Georg Ossian Sars (geb. 1837) arbeitete speziell über Krustazeen, Robert Collett (geb. 1842) über Fische und Vögel, der Polarreisende Fridtjof Nansen (geb. 1861) über die Nordseefauna. In der Geologie schrieb Keilhau (1797–1858) ein klassisches Werk über Lappland (1831) und leitete die Ausarbeitung des »Gea Norvegica« (1838–44), Th. Kjerulf (1825–88) besorgte eine geologisch-geographische Kartographie des Landes. Unter den Geologen ist fernerhin W. C. Brögger (geb. 1831) hervorzuheben. Weder in der Theologien och in der Philosophie haben die Norweger eine originelle Schule gebildet. Die hervorragendsten Persönlichkeiten waren: der Bauernapostel Hans Nielsen Hauge (1771–1824), V. A. Wexels (1797–1866), der Vertreter des norwegisierten Grundtvigianismus, ferner die Theologen Gisle Johnson (1822–94) und C. P. Caspari (1814–92). Unter den Philosophen hat Niels Treschow (1751–1833) durch das vielgelesene Werk »Der Geist des Christentums« (1828) das Kant-Schlegelsche System auf die Religion übertragen. M. J. Monrad (1816–97) vertrat den reinen Hegelianismus. Neben dieser spekulativ-aprioristischen Richtung ist neuerdings auch in der Philosophie eine mehr empirische Richtung eingetreten, die äußerlich auf den Positivismus Comtes zurückgeht.
Die Arbeit an den historisch-philologischen Wissenschaften setzte zwar in Norwegen später als in den Nachbarländern ein, brachte aber desto rascher bedeutungsvolle Früchte. Keyser (1803–65) bearbeitete die Kultur-, Kirchen- und Literaturgeschichte, sein Schüler P. A. Munch (1810–63), der ihn durch seine geniale Vielseitigkeit bald überragte, schrieb die monumentale »Geschichte des norwegischen Volkes« (bis 1397; 1851–63, 8 Bde.). Mit dem Reichsarchivar Chr. Lange (1810–61) und dem Philologen Carl R. Unger (1817–97) gaben sie die Schätze der Archive heraus. Energische Kritiker entstanden der sogen. norwegischen historischen Schule in Ludwig Kr. Daa (1807–74), dem Reichsarchivar M. Birkeland (1830–96) und Eilert Sundt (1817 bis 1875). Überhaupt hat die jüngere Generation ihre Aufmerksamkeit der dänischen Geschichtsperiode zugewendet, in der Erkenntnis, daß in ihr die Begründung der Gegenwart zu suchen sei. Durch die Fortschritte der Archäologie ist der Standpunkt von Keyser und Munch vielfach überwunden worden. Olaf Rygh (1833–99), sein Schüler Ingvald Undset (1853–93) und Gustav Storm (1845–1903) haben die altnordische Zeit und das Mittelalter vielfach neu beleuchtet. M. A. Schweigaard (1808–1870) hatte eine selbständige norwegische Rechtswissenschaft geschaffen, Fr. Stang (1808–84) die norwegische Verfassung exegetisch beleuchtet, T. H. Aschehoug (geb. 1822), Fr. Brandt (1825–91), L. M. Aubert (geb. 1838), Ebbe Hertzberg und A. Taranger (geb. 1858) behandelten die Verfassungs-, Rechts- und Rechtsquellengeschichte. Wie die Geschichtschreibung, so wuchs auch die Sprachforschung aus dem Nationalgefühl heraus. Die kritische Philologie fand in Sophus Bugge (geb. 1833) einen glänzenden Vertreter, dessen Studien beinahe alle Zweige der indoeuropäischen Sprachforschung berühren. P. Chr. Asbjörnsen (1812–1885), sein Freund Bischof Jörgen Moe (1813–82), dessen Sohn Moltke Moe (geb. 1859), K. Janson (geb. 1841) u.a. sammelten die Volksüberlieferungen; Gustav Storm veröffentlichte kritische Arbeiten zur Sagenforschung; Johan Fritzner (1812–93) arbeitete ein »Wörterbuch der altnordischen Sprache« aus, das von Unger zu Ende geführt wurde (1886–1896). Kr. Knudsen (1812–95) drang auf eine phonetische Reform der Schriftsprache, die dänisch geblieben war, während die norwegische Aussprache sich stark verändert hatte. Der Missionar Stockfleth (1787–1866) und sein Schüler J. A. Friis (1821–1896) untersuchten das Lappische. Der Phonetiker und Anglist J. Storm (geb. 1836), Als. Torp (geb. 1853), Amund Larsen (geb. 1849), Hj. Falk (geb. 1859) u.a. beleuchteten auf verschiedenen Gebieten die norwegische Sprache.
Die Literaturgeschichte ist besonders in letzter Zeit mit Originalität und Verständnis gepflegt worden. Von der ältern Generation hielt Hartwig Lassen (1824–97) die Heiberg-Welhavensche Tradition aufrecht. Paul Botten-Hansen (1824–69), der Jugendfreund Ibsens, trat für die neuere Literatur ein; er veröffentlichte ein »Norsk Bogfortegnelse« (Christ. 1848–65) und für die Pariser Weltausstellung 1867 den »Catalogue précis d'histoire et de la presse périodique«. Der Kunsthistoriker L. Dietrichson (geb. 1834) schrieb unter anderm: »Omrids av den norske poesies historie« (1869), Nordahl Rolfsen »Norske digtere fra Dass til vore Dage« (2. Aufl. 1894–96), Arne Löchen (geb. 1850) »Norske Klassiker« (1899). Von Henrik Jaeger (1854–95) stammt die von Otto Andersen fortgesetzte wertvolle Literaturgeschichte »Illustreret Norsk Literaturhistoria« (1896, 3 Bde.), die Carl Naerup (»Den moderne norske Litteratur 1890–4904«, 1905) bis zum Jahr 1904 weitergeführt hat. Ganz vorzüglich ist die »Norsk Litteraturhistorie« (1901) von Just Bing (geb. 1866). Interessante Essays über die Literatur der 1890er Jahre lieferten Hj. Christensen (geb. 1869; »Unge Nordmaend«, 1893; »Vore Dages Digtere«, 1902) und Carl Naerup (geb. 1864; »Skildringer og Staemninger fra den yngre norske Literatur«, 1897). Über Kunstgeschichte schrieben Dahl (»Det nye Norges Malerkunst 1814 til 1900«, 1904) und Jens Thiis (»Norske Malere og Billedhuggere«, 1904). Als Quellenwerk ist auch T. Blancs (geb. 1838) »Christiania Theaters Historia 1827–1877« (Christ. 1899) anzuführen. – Die Hauptwerke über die altnordische Literatur s. im Artikel »Nordische Sprache und Literatur«. Vgl. ferner Horn, Geschichte der Literatur des skandinavischen Nordens (deutsch, Leipz. 1880); Ph. Schweitzer, Geschichte der skandinavischen Literatur (das. 1886–1889, 3 Bde.).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.