Krankheit

Krankheit

Krankheit (lat. Morbus, in zusammengesetzten Wörtern oft griech. nosos, pathos), die Abweichung einzelner oder aller Organe des Körpers von dem normalen Verhalten, wie es zur Erhaltung des Organismus und seiner vollkommenen Leistungsfähigkeit erforderlich ist. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, eine scharfe Definition von K. zu geben, weil in den Lebensäußerungen eines Organismus eine bestimmte Grenze zwischen dem gesunden und dem kranken Zustand nicht gezogen werden kann, und weil die krankhaften Prozesse nach denselben Gesetzen verlaufen, die auch für die normalen Vorgänge im Körper gültig sind. Kleine Abweichungen von der vollkommenen Gesundheit zeigt auch der anscheinend Gesündeste, und auch der Sprachgebrauch unterscheidet daher Unwohlsein von K.-Die Lehre von den Krankheiten, die Pathologie, unterscheidet äußerliche (traumatische [v. griech. trauma, Verletzung], chirurgische) Krankheiten, zu denen Verletzungen aller Art, Quetschungen, offene Wunden, Knochenbrüche, Verbrennungen, aber auch Geschwüre, Abszesse, Eingeweidebrüche gehören, und innere Krankheiten; außerdem unterscheidet man nach den befallenen Geweben oder Organen Haut-, Knochen-, Augen-, Ohren-, Lungen-, Magenkrankheiten etc., denen dann die Konstitutionskrankheiten, bei denen der ganze Organismus ergriffen ist, gegenüberstehen. Schnell eintretende und schnell verlaufende Krankheiten heißen akute im Gegensatz zu den chronischen mit schleichendem Verlauf. Je nachdem Fieber vorhanden ist oder nicht, unterscheidet man fieberhafte (entzündliche, hitzige) und fieberlose Krankheiten, ferner nach der Art des Verlaufes rhythmische (zyklische, periodische) Krankheiten mit deutlicher Aufeinanderfolge regelmäßig begrenzter und charakteristischer Perioden, wie die Infektionskrankheiten, und arhythmische (atypische), bei denen dergleichen nicht zu beobachten ist. Bei den intermittierenden (aussetzenden) Krankheiten sind einzelne Anfälle, Paroxysmen, durch Perioden verhältnismäßigen Wohlbefindens voneinander getrennt. Der regelmäßige Verlauf einer K. wird oft unterbrochen durch eine plötzliche (akute) Verschlimmerung (Exazerbation), eine Verbreitung des Krankheitsprozesses auf noch gesunde Teile eines Organs (Nachschub) oder durch einen Rückfall (Rezidiv), der im Stadium der Genesung (Rekonvaleszenz) oder später auftritt. Die Krankheiten enden mit dem Tod oder mit völliger, oft aber auch nur mit teilweiser Genesung. Bisweilen nimmt die K. rasch eine Wendung zum Bessern, es tritt eine Krisis ein, und der Patient erholt sich auffallend schnell, in andern Fällen kann eine akute K. chronisch werden, die Genesung kann sehr langsam erfolgen, oder es bleiben bestimmte krankhafte Zustände (Nachkrankheiten) oder eine ausgesprochene Disposition zu neuen Erkrankungen zurück. Innerhalb einer Bevölkerungsgruppe tritt eine K. entweder vereinzelt, sporadisch, auf, oder die Fälle häufen sich, und es kommt zur Seuche, Epidemie. Gewisse Krankheiten finden sich beständig, oder fast nur in bestimmten Gegenden, wie Wechselfieber in Sumpfgegenden, und heißen dann endemische. Krankheiten, bei denen in offensichtlicher Weise von außen einwirkende Einflüsse, z. B. das Eindringen von krankmachenden Mikroorganismen, beteiligt sind, bezeichnet man als exogene im Gegensatz zu solchen, bei denen im Organismus vorhandene Verhältnisse, z. B. angeborne oder erworbene Schwäche gewisser Organe oder Verrichtungen, die hauptsächlichste Ursache ist, letztere nennt man auch endogene.

Die ältere Medizin betrachtete die K. als etwas dem Organismus Fremdes, ihm Aufgedrungenes (ontologische Auffassung) und versuchte selbst eine Personifizierung der K. Die Lehre vom Archeus (s. d.) und die spätere vom Animismus (s. d.) gehören noch in diesen Kreis. Unter der Herrschaft naturwissenschaftlicher Anschauungen suchte man den Ursprung der Krankheiten in den Säften (humores) des Körpers, besonders im Blut (Humoralpathologie), oder in den festen Teilen (solida) des Körpers, besonders in den Nerven (Solidarpathologie), und der Streit zwischen beiden Parteien dauerte bis in die Mitte des 19. Jahrh., wo Virchow zeigte, daß der Sitz, der Ausgangspunkt der K., die jetzt nicht mehr als etwas Fremdes, das den Körper befällt, sondern als eine Abweichung höhern Grades vom normalen Lebensprozeß betrachtet wurde, in den Zellen zu suchen sei (Zellularpathologie). Nach dieser Lehre beruht das Wesen der K. in einer Störung des normalen Zustandes der Gewebszellen und der gestörten Wechselwirkung dieser Zellen untereinander. Die Störung betrifft entweder die Funktion, oder die Ernährung, oder beide zusammen. Funktion und Ernährung können aber in zwei Richtungen gestört werden, sie können eine krankhafte Steigerung und eine krankhafte Herabsetzung erfahren. Die Ursachen, die eine K., d. h. eine allzu große Schwankung der Lebenstätigkeit nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig, bedingen, sind zweierlei Art. Die eine Reihe umfaßt die auf den Organismus einwirkenden schädlichen Reize, von denen Virchow je nach ihrer Wirkungsweise auf die Gewebe mechanische, chemische, elektrische und thermische (Wärme, Kälte) Reize unterscheidet. Eine fernere Möglichkeit, wie eine Schädlichkeit ihre Einwirkung auf organische Teile geltend machen könnte, ist zurzeit nicht denkbar, und wenn wir auch bei vielen Krankheiten die nächsten Ursachen nicht kennen, so müssen sich unsre Mutmaßungen doch immer auf diesem engen Gebiete bewegen. Als bestimmend für den einzelnen Fall tritt noch die Heftigkeit, die Intensität des Reizes hinzu. Da aber erfahrungsgemäß gleichstarke Reize bei dem einen Individuum K. verursachen, bei dem andern nicht, so ergibt sich, daß eine zweite Art von Krankheitsursachen, eine gewisse individuell verschiedene Disposition zur Erkrankung vorhanden sein muß, die man auch als Reaktionsfähigkeit der Gewebe, als Widerstandskraft des ganzen Körpers oder als die Konstitution bezeichnen kann. Besitzt ein Individuum vermöge seiner Konstitution einer bestimmten Krankheitsursache (Reiz) gegenüber eine geringe Disposition, so kommt keine K. zustande, während bei krankhafter Konstitution geringe Reize, unter Umständen schon die physiologischen Reize des normalen Lebens zur Entwickelung der K. hinreichen. Die Disposition kann eine allgemeine Widerstandsunfähigkeit des Körpers gegenüber vielen Krankheitsursachen darstellen oder eine spezifische nur einer bestimmten K. günstige sein.

Nach den Ursachen der Krankheiten (welche die Ätiologie erforscht) unterscheidet man ererbte und erworbene Krankheiten. Angeborne Krankheiten sind alle, die entwickelt oder im Keim vom Kind auf die Welt mitgebracht sind, ererbt sind sie nur dann, wenn sie durch die Keimzellen (Same oder Ei) der gleichartig erkrankten Eltern auf das Kind übertragen sind; im andern Falle sind sie im Mutterleib erworben. In welcher Weise Krankheiten erworben werden, ist meist noch unbekannt. So werden viele Krankheiten auf Vorgänge zurückgeführt, die bestenfalls oft nur die Gelegenheitsursache (z. B. Erkältung) bildet, während die K. selbst durch angeborne Eigentümlichkeiten des Organismus und durch sehr verschiedene Schicksale desselben längst vorbereitet war. Solche Gelegenheitsursachen erzeugen oft eine vorübergehende, sogen. zeitliche Disposition, die besonders für die Erkrankung an Infektionskrankheiten (ansteckenden, kontagiösen Krankheiten), die auf Übertragung eines Keimes auf den gesunden Organismus beruhen, bedeutungsvoll ist. Es ist nachgewiesen, daß der hungernde, schlecht genährte oder überangestrengte Organismus bei sonst gleich starken Ansteckungsbedingungen leichter von ansteckenden Krankheiten befallen wird als der kräftige, gut ernährte. Eine häufige, in ihrem Wesen noch nicht völlig aufgeklärte zeitliche Disposition für Infektionskrankheiten schafft eben die Erkältung (s. d.). Eine im Gegensatz zu der angebornen Disposition, der Konstitution im engern Sinn, erworbene, mehr oder weniger dauernde Änderung der Disposition in der Weise, daß Unempfänglichkeit gegen bestimmte Infektionskrankheiten besteht, stellt die durch einmaliges Überstehen derselben K. erzeugte Immunität dar. Es bleiben hierbei bestimmte chemische Änderungen in der lebenden Zelle zurück, die sie giftfest gegenüber neuen Infektionen macht. Auf teils angeborner, teils erworbener Immunität oder Nichtdisposition beruht es, daß bei einer Seuche stets nur ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung erkrankt, während man annehmen muß, daß ein sehr viel größerer Teil derselben ebenfalls den Krankheitsüberträger aufgenommen hat. Von den kontagiösen Krankheiten, bei denen der Krankheitskeim von Person zu Person übertragen wird, kann man die miasmatischen Krankheiten unterscheiden, bei denen die krank machende Substanz außerhalb des Organismus heranreifen muß. Max v. Pettenkofer unterschied dann noch kontagiös-miasmatische Krankheiten, bei denen der Kranke den Keim hergibt, der sich im Boden weiter entwickelt und von diesem aus auf andre Personen übertragen wird, eine Theorie, die heute nicht mehr haltbar ist, wenn man auch zugeben muß, daß bei der Verbreitung einer Epidemie gewisse uns bisher noch unbekannte örtliche Verhältnisse mitsprechen.

Hinsichtlich der sogen. Entwickelungskrankheiten ist zu bemerken, daß die Entwickelung, in welcher Periode sie auch begriffen sein möge, keine eigentümlichen Krankheitsformen erzeugt, also keine solchen, die man nur vor oder nach Entwickelungsperioden und außer Zusammenhang mit diesen Perioden nicht beobachtete, daß aber Krankheiten, die in Entwickelungsperioden fallen, und zu deren Ausbruch die Entwickelung oft den letzten Anstoß gibt, großenteils sich eigentümlich gestalten und daher auch eine besondere, im allgemeinen eine abwartende (exspektative) Behandlung nötig machen.

Die Krankheiten geben sich durch Symptome zu erkennen, und zwar sind diese zum Teil nur den Patienten allein erkennbar (subjektive Symptome), wie Schmerz u. dgl., oder sie können auch von andern Personen erkannt werden (objektive Symptome), wie das Fieber, gewisse Veränderungen in der Lunge und in andern Organen. Über die bis zum Hinzukommen des Arztes ausgetretenen Symptome belehrt den Arzt ein Bericht, die Anamnese, sodann stellt er die Symptome fest durch die Untersuchung des Kranken selbst, die durch die Erfindung der Auskultation und Perkussion, durch Anwendung des Thermometers, gewisser Spiegel und Beleuchtungsapparate, durch chemische und mikroskopische Untersuchung von Krankheitsprodukten außerordentlich gefördert worden ist. Auf Grund dieser Untersuchung stellt der Arzt die Diagnose, die ihm nebst der weitern Beobachtung die Maßregeln zur Bekämpfung der Krankheiten, die Behandlung (Therapie), vorschreibt und ihn zu einem Urteil über den vermutlichen Ausgang der K. (Prognose) befähigt. Stirbt der Kranke, so kann durch die Leichenöffnung (Sektion, Autopsie) die Richtigkeit der Diagnose und Therapie nachgeprüft werden. Die Darstellung des ganzen Krankheitsverlaufs bildet die Krankengeschichte. – Nächst der Heilung (s. d.) der K. hat der Arzt die noch wichtigere Aufgabe, den Ausbruch einer K. zu verhüten. Diese Prophylaxe basiert wesentlich auf den Lehren der Gesundheitspflege (Hygiene), der es zu verdanken ist, daß bei allen hochentwickelten Kulturvölkern der Gegenwart sowohl die Erkrankungshäufigkeit als auch die Zahl der Sterbefälle ab-, die durchschnittliche Lebensdauer dementsprechend zugenommen hat. Dies gelang hauptsächlich durch zielbewußte Bekämpfung der Seuchen nach wissenschaftlichen Grundsätzen, durch Anbahnung besserer Wohnungsverhältnisse, Einrichtung von guten Wasserleitungen und Kanalisationen und durch sonstige von der Medizinalgesetzgebung getroffene Vorkehrungen. Nicht weniger bedeutungsvoll ist hierfür die Schutzimpfung (s. d.), die, angebahnt durch Jenners großartige Entdeckung der Schutzpockenimpfung, eine immer weitere Ausbildung erfährt. Durch sie konnten die Pocken, die früher ganze Länder in mörderischen Epidemien heimsuchten, fast ausgerottet werden, Diphtherie, Starrkrampf und andre Krankheiten mit einer gewissen Sicherheit verhütet oder gemildert werden. Die Schutzimpfung beruht auf der Tatsache, daß in einem Organismus, der künstlich mit abgeschwächtem Krankheitsgift infiziert wurde, Gegengifte bildet, die ihn für starke Infektionen mit dem gleichen Gift kurze Zeit oder viele Jahre lang unempfänglich machen. Blut von künstlich giftfest gemachten Tieren vermag deshalb Menschen einen Schutz gegen die gleiche Erkrankung zu verleihen, wenn es ihnen in geeigneter Weise eingespritzt wird.

Krankheitsverbreitung

(Vgl. hierzu die Karte: »Verbreitung einiger Krankheiten in Deutschland« bei S. 592.)

Die Lehre von der geographischen und klimatischen Verbreitung der Krankheiten (Nosogeographie) ist ein von der Medizinalstatistik unzertrennlicher Zweig der Medizin, der lehrt, welche Krankheiten in den verschiedenen Ländern vorkommen, durch welcherlei geographische und klimatische Einflüsse ihre Häufigkeit gegenüber andern Krankheiten bedingt wird, wie sich die Widerstandsfähigkeit der Eingebornen gegenüber der von fremden Einwanderern verhält, bis zu welchem Grad eine Akklimatisation stattfinden kann, und wovon diese abhängig ist. Jedes Land hat seine eigne Nosogeographie, und wiederum sind innerhalb jedes Landes oft recht bedeutende Verschiedenheiten im Auftreten und Verlauf von Krankheiten festzustellen. So sind die Höhen des Kamerungebirges völlig frei von den gefährlichen Fiebern, denen in der Ebene und an den Flußmündungen viele Forschungsreisende erlegen sind. Die ungesunde Zone erstreckt sich in der Ebene noch eine Strecke weit ins Meer hinaus, über diese Grenze weg hört der krankmachende Einfluß auf; die Eingebornen sind ihm überhaupt nicht unterworfen. In manchen Küstenstädten sind nur die tiefgelegenen Stadtteile dem Gelbfieber ausgesetzt, während die Straßen auf den Anhöhen frei bleiben. In Italien war die Schädlichkeit der Pontinischen Sümpfe schon im Altertum bekannt und gefürchtet, und die Nosogeographie hat gelehrt, wie segensreich, abgesehen von dem wirtschaftlichen Nutzen, die Trockenlegung des Netze- und Warthebruchs und der Schutz der Weichselniederungen durch Dämme auch für die Gesundheit der Anwohner gewirkt hat. Diese aus der Erfahrung hergenommenen Kenntnisse sind vorangegangen, bevor die genaue Erforschung der einzelnen Krankheitsursachen begann, und so hat z. B. die Nosogeographie seit langem gelehrt, daß der Brutherd der Cholera in den Gangesniederungen Indiens, in Kalkutta und Bombay zu suchen sei, bevor der Kommabazillus durch die dorthin gesandte Cholerakommission 1883 entdeckt wurde.

Einen besondern Zweig der medizinischen Wissenschaft, der den Verlauf der Krankheiten unter ganzen Bevölkerungsklassen verfolgt und die Art und Weise der Krankheitsverbreitung kennen zu lernen sucht, um drohenden Seuchen wirksam begegnen zu können, hat man, da es sich dabei vorwiegend um epidemische Krankheiten handelt, Epidemiologie oder Lehre von den Volkskrankheiten genannt. Ihre erste Aufgabe ist, ein möglichst umfassendes, auf zuverlässigen Beobachtungen beruhendes statistisches Material herbeizuschaffen, das den Gang dieser Volkskrankheiten nach Zeit und Ort übersehen und damit die Bedingungen möglichst erkennen läßt, die deren Verbreitung hemmen oder fördern, günstig oder ungünstig beeinflussen. Solange man sich mit mehr oder weniger willkürlichen, unsichern Vorstellungen über die Beschaffenheit des von Person zu Person oder von der Außenwelt in das Individuum gelangenden Krankheitskeims trug, war bei der Verwertung des statistischen Materials der Spekulation Tür und Tor geöffnet, und wir sehen demgemäß zu Beginn der epidemiologischen Forschungen mannigfache, bald mehr, bald minder scharfsinnige Kombinationen zur Erklärung der Art der Krankheitsverbreitung auftauchen. Erst die neueste Zeit, die uns den Ansteckungskeim zahlreicher Krankheitsformen in Gestalt kleinster Organismen unmittelbar vor das Auge führte und deren Lebens- und Entwickelungsbedingungen verfolgen ließ, hat die Forschung auf dem Gebiete der Epidemiologie von dem Wege der Spekulation zu dem der exakten Naturbeobachtung teilweise zurückgeführt. Diese neuere Erkenntnis von dem wahren Wesen der Infektionsträger hat indessen die statistischen Grundlagen der Epidemiologie, umfassende Massenbeobachtungen, nicht entbehrlich gemacht; vielmehr gilt es, nach wie vor die Ergebnisse zuverlässiger Beobachtungen über das Auftreten der vermeidbaren Krankheiten zu sammeln und zum übersichtlichen Bilde zusammenzustellen. Erst wenn dies geschehen, kann man daran gehen, den Gang der K. mit den biologischen Eigenschaften des Krankheitserregers in Einklang zu bringen und so wissenschaftliche Klarheit in die ursachlichen Bedingungen der Verbreitung gemeingefährlicher Krankheiten zu bringen.

Das statistische Material über die den Epidemiologen interessierenden Krankheiten wird auf sehr verschiedene Weise gewonnen. In vielen Fällen, wenn es nicht möglich ist, brauchbare Angaben über die Zahl der Erkrankungen zu erlangen, muß man sich mit der Zahl der Todesfälle begnügen, was auch für gewisse, besonders gefürchtete, weil relativ häufig zum Tode führende Krankheiten ausreicht. So gewinnt man beispielsweise über die Verbreitung der asiatischen Cholera, der echten Pocken, des Kindbettfiebers aus den registrierten Todesfällen ein meist zutreffendes Bild, ja oft ein richtigeres als aus der Erkrankungsstatistik. Bei der asiatischen Cholera werden zur Zeit einer herrschenden Epidemie die Todesfälle ziemlich richtig eingetragen, da sie unter sehr auffälligen, auch dem Nichtarzt erkennbaren Erscheinungen auftreten, während es bei den Erkrankungen an Cholera häufig vorkommt, daß entweder Fälle verheimlicht werden, oder umgekehrt von ängstlichen Personen jede Magenverstimmung, jede mit Durchfall und Erbrechen auftretende Störung der Verdauungsorgane als Cholera angezeigt wird. Unsre epidemiologischen Erfahrungen über das Vorkommen der Cholera, namentlich in ihrem Heimatsgebiet Ostindien, fußen daher mit Recht vorwiegend auf den hierher gelangten Mitteilungen über die Choleratodesfälle, und auch bei den Einbrüchen der Cholera auf europäisches Gebiet tut man gut, den Betrachtungen über den Verlauf der Epidemie in erster Reihe die gemeldeten Todesfälle zugrunde zu legen.

Für die Pocken ist im Deutschen Reiche seit 1886 eine sehr genaue ärztliche Pockentodesfallstatistik eingeführt, die ein klares, verläßliches Bild von dem Auftreten dieser vor Einführung der Schutzpockenimpfung mit Recht sehr gefürchteten K. gibt. Mit aller Bestimmtheit ist dadurch unter anderm die Tatsache festgestellt worden, daß Pockentodesfälle in den östlichen Grenzbezirken des Reiches achtmal häufiger vorkommen als in den mehr zentral und westlich gelegenen Gegenden. Der Verkehr der östlichen Grenzbezirke mit den dauernd pockenverseuchten Nachbargebieten Österreichs und Rußlands führt nämlich unaufhörlich zur Einschleppung der K. in das deutsche Gebiet, hier aber faßt sie, dank den Erfolgen des deutschen Reichsimpfgesetzes, nicht mehr festen Fuß, sondern erlischt meistens bald. Während der 15 Jahre von 1886–1900 starben in den an der östlichen Grenze des Reiches gelegenen 8 preußischen, 4 bayrischen und 3 sächsischen Regierungsbezirken insgesamt 957 Personen an den Pocken, im ganzen übrigen Deutschen Reich 301, d. h. auf 1 Mill. Einwohner: in den östlichen Grenzbezirken 67, im übrigen Reich nur 8,6, und von den 301 außerhalb der östlichen Grenzbezirke festgestellten Pockentodesfällen entfiel ein großer Teil auf Orte an der Westgrenze oder an der Seeküste. Jenseit der deutschen Grenze, in den russischen Weichselprovinzen, in Böhmen, Mähren etc., starben aber Jahr für Jahr 50–100mal mehr Personen an den Pocken als selbst in den östlichen Grenzbezirken des Deutschen Reiches.

Zieht man statt der Todesfälle die Pockenerkrankungen in Betracht, über die seit 1886 ebenfalls ärztliche Meldekarten aus fast allen Staaten des Deutschen Reiches vorliegen, so ergibt sich die Notwendigkeit, die schwer verlaufenden Fälle der echten Pocken von den meist leicht ablaufenden sogen. modifizierten Pocken zu trennen. Erstere kommen hauptsächlich bei ungeimpften oder bei den vor langer Zeit einmal geimpften Personen vor, letztere dagegen treten auch (obgleich relativ selten) innerhalb der durch die Impfung gewährten Schutzfrist auf. Tödlich endende Pockenerkrankungen betreffen, wie die neuere Pockenstatistik gezeigt hat, fast ausschließlich ungeimpfte Personen oder solche Leute, bei denen die Schutzkraft der in früher Kindheit einmal vollzogenen Impfung erloschen ist. Die Häufigkeit der Pocken in einigen außerdeutschen Ländern ist, da es dort mehr Ungeimpfte, bez. nur einmal Geimpfte gibt, seit Jahren sehr viel hoher als im Deutschen Reiche. Nach einer u. d. T. »Blattern und Schutzpockenimpfung« veröffentlichten Denkschrift des kaiserlichen Gesundheitsamtes (3. Aufl. 1900) starben (1893–97) an den Pocken auf je eine Million Einwohner jährlich:

Tabelle

Die außerordentlich günstige Stellung, die hinsichtlich der Pockentodesfälle die Staaten mit gesetzlich geregelter Impfpflicht, wie Schweden und das Deutsche Reich, einnehmen, wird am deutlichsten durch das folgende Diagramm versinnbildlicht:

Ein schwarzes Quadrat der Figur entspricht jährlich einem Pockentodesfall auf 200,000 Einwohner.
Ein schwarzes Quadrat der Figur entspricht jährlich einem Pockentodesfall auf 200,000 Einwohner.

Die Häufigkeit einiger andrer Volkskrankheiten hat nach den Ergebnissen der deutschen Sterblichkeitsstatistik seit einigen Jahren ebenfalls abgenommen. In den größern Orten des Deutschen Reiches (d. h. solchen mit 15,000 und mehr Einwohnern), für die seit 1877 eine zuverlässige Statistik der Todesursachen vorliegt, starben jährlich von je einer Million Bewohner:

Tabelle

Wir ersehen hieraus, wie von Jahrfünft zu Jahrfünft mehrere der gefürchtetsten Krankheiten abgenommen, bez. seltener zum Tode geführt haben, und wir dürfen hiermit die hygienischen Verbesserungen in den größern Ortschaften des Deutschen Reiches unzweifelhaft in ursachlichen Zusammenhang bringen; hat sich doch auch die jährliche Sterbeziffer der in Rede stehenden deutschen Orte von jährlich 26,7 pro Mille (im Jahrfünft 1877–81) auf jährlich 20,5 pro Mille im letztabgelaufenen Jahrfünft stetig verringert.

Für eine Reihe von Volkskrankheiten muß man sich mit den Ergebnissen der allgemeinen Erkrankungsstatistik begnügen. Diese aber beruht einerseits auf der für gewisse gemeingefährliche Krankheiten in vielen Staaten eingeführten Anzeigepflicht, anderseits auf den aus ärztlich geleiteten Heilanstalten (namentlich den allgemeinen Krankenhäusern) vorliegenden Ausweisen. Die erstere Art der Erkrankungsstatistik ist nach Lage der Verhältnisse sehr unvollständig, da der Anzeigepflicht nur für einen (je nach der Energie der überwachenden Behörden wechselnden) Bruchteil der Erkrankten genügt wird. Die letztere, die Heilanstaltsstatistik, umfaßt zwar ebenfalls nur einen Teil der erkrankten Bevölkerung, ist aber in sich vollständig and eher für epidemiologische Schlüsse verwertbar. Die Ergebnisse der Heilanstaltsstatistik werden für das Deutsche Reich, ferner für Österreich, Italien. Schweden und andre Staaten ziemlich regelmäßig veröffentlicht und gewähren schon jetzt ein sehr beachtenswertes Bild von der Häufigkeit der in den Krankenhäusern zur Behandlung kommenden Leiden. Im Deutschen Reiche, wie auch z. B. in Österreich und Italien, werden alljährlich von je 1000 Einwohnern 11--12 in den Heilanstalten verpflegt; aus einem Vergleich der in den Heilanstalten beobachteten Krankheiten darf man daher Rückschlüsse auf die Morbidität (Erkrankungshäufigkeit) der Bevölkerung der drei Länder machen, und diese Heilanstaltsstatistik hat schon wertvolle Anhaltspunkte über die Verbreitung einiger wichtiger Krankheiten geliefert. Die Berechtigung, aus dem Heilanstaltsmaterial beachtenswerte Schlüsse auf die Erkrankungsverhältnisse der Bevölkerung zu ziehen, ist nicht wohl zu bestreiten, da allein die allgemeinen Krankenhäuser im Deutschen Reiche jährlich einen Zugang von fast einer Million (1897: 991,367) Krankheitsfällen haben, deren ärztlicherseits gestellte Diagnose als zuverlässig gelten kann. Mindestens von den Erkrankungsverhältnissen der in den Krankenhäusern vorwiegend vertretenen Altersklassen, d. h. des im erwerbstätigen Alter von 15–60 Jahren stehenden Teiles der Bevölkerung, dürfte die Heilanstaltsstatistik ein annähernd zutreffendes Bild gewähren.

Einen wesentlich andern und in mancher Hinsicht höhern Wert als jede auf den Jahresausweisen der Heilanstalten beruhende Übersicht über die Verbreitung der Krankheiten hat diejenige Krankheitsstatistik, die sich auf die Ausweise über die Ursachen der Sterbefälle stützt. Der höhere Wert liegt darin, daß die Todesursachenstatistik die Gesamtheit der Bevölkerung eines Gebietes umfaßt, also auf alle Altersstufen und namentlich auch auf diejenigen Klassen der Bevölkerung sich erstreckt, die Heilanstalten nicht oder nur ausnahmsweise aufsuchen; ein geringerer Wert muß ihr insofern beigelegt werden, als die Bezeichnung der K. vielfach von nicht sachverständiger Seite erfolgt und oft, selbst wo ärztliche Leichenschau eingeführt ist, nur auf Vermutungen sich gründet. Zwar kann, wie bereits betont, diese Art der Krankheitsstatistik nur über die Verbreitung derjenigen Krankheiten uns unterrichten, die häufig zum Tode führen, indessen sind das im allgemeinen auch diejenigen, die das meiste Interesse für Fragen der Volkswohlfahrt bieten.

Will man ein Urteil darüber gewinnen, wo (abgesehen von Cholera und Pocken) z. B. Typhus, Diphtherie, Tuberkulose, Krebsleiden, Brechdurchfälle im Laufe der Jahre am meisten verbreitet waren, so empfiehlt es sich in erster Linie, die Ergebnisse der Todesursachenstatistik in Betracht zu ziehen, will man dagegen erfahren, wo z. B. Malariafieber, ansteckende Augenleiden, venerische Leiden, Geisteskrankheiten, gewisse Verletzungen (Knochenbrüche u. dgl.) am häufigsten vorgekommen sind, so muß man die Ausweise aus den Heilanstalten benutzen, denn die Todesursachenstatistik kann für alle letztgenannten Krankheiten kein oder doch nur ein sehr unvollkommenes Bild der Verbreitung liefern. Namentlich gilt dies auch für die zu den venerischen Krankheiten gehörige Syphilis, weil hier die zum Tode führenden Krankheitsfälle erfahrungsgemäß und aus naheliegenden Gründen nur selten als Syphilisfälle eingetragen werden. Aus gleichem Grunde wäre es verfehlt, Schlüsse über die Verbreitung des Alkoholismus aus der Todesursachenstatistik zu ziehen, hierüber kann vielmehr nur die Heilanstaltsstatistik in Verbindung mit der Statistik der Irrenanstalten Aufschlüsse geben. Ebenso wäre z. B. aus den Ergebnissen der Todesursachenstatistik nicht zu ersehen, welche unheilvolle Zunahme in neuester Zeit die progressive Paralyse der Irren, jene mit Recht sehr gefürchtete, meist mit Größenwahn einhergehende (fälschlich oft »Gehirnerweichung« genannte) Seelenstörung, namentlich auch beim weiblichen Geschlecht gezeigt hat, dagegen geht diese Zunahme unzweideutig aus folgendem Ergebnis der Heilanstaltsstatistik hervor: An Kranken mit paralytischer Seelenstörung wurden in die Irrenanstalten des Deutschen Reiches aufgenommen:

Tabelle

Im Anschluß an diese Erörterungen über die beiden zu allgemeinen Schlußfolgerungen gewöhnlich benutzten Arten der Krankheitsstatistik sei auf die sehr zuverlässige, in vieler Hinsicht musterhafte Krankheitsstatistik verwiesen, die seitens der Verwaltung des Heeres und der Flotte geliefert wird. Da im Heeres- und Marinedienst alle Erkrankungsfälle, leichte und schwere, auf Grund ärztlicher Diagnosen eingetragen und statistisch verwertet werden, gewähren die im Deutschen Reiche wie in den meisten andern europäischen Staaten regelmäßig veröffentlichten Sanitätsberichte des Heeres und der Marine treffliche Bilder von der Verbreitung gewisser Krankheiten. Es ist z. B. auch für die Zivilbevölkerung des Deutschen Reiches von hohem Wert, aus den Sanitätsberichten, welche die Medizinalabteilung des preußischen Kriegsministeriums alljährlich herausgibt, zu ersehen, in welchen Gebietsteilen des Reiches der Zugang an venerischen Krankheiten beträchtlich oder nur gering gewesen ist, wo er im Laufe der Jahre zugenommen oder sich vermindert hat, und es erhöht noch den Wert dieser Sanitätsberichte, daß sie auch die Verbreitung einiger Krankheiten in andern Heeren europäischer Staaten, namentlich in der österreichischen, italienischen, französischen und englischen Armee zu Vergleichen heranziehen. Nicht nur zu Schlußfolgerungen über die Verbreitung der venerischen Krankheiten in allen Garnisonen des Deutschen Reiches und in den seitens unsrer Seeleute vielbesuchten Häfen des Auslandes sind diese Sanitätsberichte zu benutzen, sie bieten auch sehr wertvolle Unterlagen zu Schlüssen auf die örtliche Verbreitung der Malaria und der ansteckenden Augenleiden, ja auch des Typhus, der Tuberkulose sowie mancher Herz- und Lungenleiden. Vielleicht wird demnächst die Krankheitsstatistik einzeln er beruflicher Krankheitskassen ähnlich wertvolle Ergebnisse über die Verbreitung einiger Krankheiten liefern; seitens der Knappschaftskassen und der Kassenärzte der Eisenbahnbeamten wurden hierauf bezügliche Jahresberichte bereits veröffentlicht.

Beifolgende Karte zeigt einige kartographische Darstellungen, welche die Verbreitung gewisser für das Volkswohl bedeutsamer Krankheiten im Deutschen Reiche leicht übersehen lassen. Das Material hierzu lieferten die seit 1892 nach einheitlich erlassenen Vorschriften stattfindenden Erhebungen über die Ursachen der Sterbefälle, die seinerzeit vom Reichskanzler angeregt, von der Mehrzahl der Bundesregierungen allmählich angeordnet und vom kaiserlichen Gesundheitsamte bearbeitet worden sind (vgl. »Medizinalstatistische Mitteilungen aus dem kaiserlichen Gesundheitsamte«, Bd. 1–9). Auf vier Kartogrammen ist die Häufigkeit der Todesfälle an Tuberkulose, Typhus, Diphtherie und Krebs, bez. krebsartigen GeschwülstenNeubildungen«) in jedem einzelnen Bundesstaat und in Elsaß-Lothringen, auch in jedem größern Verwaltungsbezirk (Regierungsbezirk etc.) der sieben umfangreichsten Staatsgebiete durch verschiedene Schraffierung farbig dargestellt. Die der Darstellung zugrunde gelegten Verhältnisziffern sind aus der Zahl der von 1898–1902 vorgekommenen betreffenden Todesfälle auf je 10,000 am Tage der letzten Volkszählung (1900) ermittelte lebende Bewohner des Bezirks etc. errechnet. Da in den Jahren 1898–1902 die Staaten Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Schwarzburg-Rudolstadt, Reuß j. L. an der gemeinsamen Statistik noch nicht beteiligt waren, konnte die Krankheitsverbreitung in diesen Staaten nicht zur Anschauung gebracht werden, aus Mecklenburg-Schwerin fehlten die Ausweise über die Todesfälle an Tuberkulose und Krebs, so daß auf den beiden betreffenden Kartogrammen auch das Gebiet von Mecklenburg-Schwerin unbezeichnet geblieben ist.

Besonders zu beachten ist ferner, daß für die kartographische Darstellung nicht die unter Personen aller Altersklassen vorgekommenen Todesfälle, sondern nur die in einem gewissen Lebensalter eingetretenen Todesfälle berücksichtigt worden sind. Offenbar darf nicht jedem menschlichen Leben, das nach den Sterbelisten geendet hat, die gleiche Bedeutung für die Gesamtheit des Volkes zugeschrieben werden, der Tod eines eben zum Leben erwachten Säuglings oder eines lebensmüden Greises hat vielmehr in dieser Hinsicht eine wesentlich andre Bedeutung als der Tod eines lebenskräftigen, arbeitsfähigen Mitgliedes der Gesellschaft oder als der Tod eines heranwachsenden, zu schönen Hoffnungen fürs Leben berechtigenden Kindes von 1–15 Jahren. Von diesem Gesichtspunkt aus werden bei den Erhebungen zur Todesursachenstatistik im Deutschen Reich alle Gestorbenen zunächst in vier Altersklassen gesondert. Es hat sich dabei unter anderm herausgestellt, daß die Verbreitung der Tuberkulose, soweit Fragen der öffentlichen Wohlfahrtspflege in Betracht kommen, am besten aus der Zahl der Sterbefälle an Tuberkulose unter Personen von 15–60 Jahren ersehen werden kann, desgleichen die Verbreitung der Diphtherie aus der Zahl der Sterbefälle unter Personen von 1–15 Jahren, die Verbreitung des Typhus aus der Zahl der Typhussterbefälle unter Personen von 1–60 Jahren, die Verbreitung der krebsartigen Leiden (oder der zum Tode führenden Neubildungen) aus der Zahl der betreffenden Sterbefälle unter Personen von 15 und mehr Jahren. Dementsprechend sind nur die im bezeichneten Lebensalter eingetretenen Sterbefälle für die Darstellung benutzt, nachdem die jährliche Durchschnittszahl auf je 10,000 Lebende der betreffenden Altersklasse umgerechnet worden ist.

Die beigegebenen vier Kartogramme, bez. die zu deren Herstellung benutzten Tabellen ergeben unter anderm folgendes:

I. Tuberkulose war am häufigsten (verursachte im Jahresdurchschnitt mehr als 35 Sterbefälle unter Personen von 15–60 Jahren auf je 10,000 Lebende dieses Alters) im oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld (52,8), in der bayrischen Pfalz (37,8) und Oberpfalz (37,6), in Unterfranken (36,8) nebst dem benachbarten Herzogtum Koburg (35,4) und im preußischen Regbez. Münster (35,3). Demgegenüber war Tuberkulose am seltensten in den preußischen Regierungsbezirken Marienwerder (17,4), Gumbinnen (17,5), Königsberg (17,7), im Gebiete der Freien Stadt Lübeck (18,9) und im angrenzenden, zu Oldenburg gehörigen Fürstentum Lübeck (19,6), ferner im Fürstentum Schaumburg-Lippe (18,3) und in den preußischen Regierungsbezirken Merseburg (18,8), Danzig (19,1) und Köslin (19,8). Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß der niedrigen Tuberkulosesterbeziffer im Osten des preußischen Staates eine sehr hohe Sterbeziffer an »entzündlichen Krankheiten der Atmungsorgane« gegenübersteht, und umgekehrt in Bayern der hohen Tuberkulosesterbeziffer eine sehr niedrige Sterbeziffer an entzündlichen Krankheiten der Atmungsorgane; man darf hiernach vermuten, daß viele chronische Lungenleiden, die von den Standesbeamten des einen Staatsgebiets als »entzündliche Lungenkrankheit« bezeichnet werden, von den Standesbeamten des andern Staatsgebiets als »Lungenschwindsucht« bezeichnet, hier also in die Spalte für Lungentuberkulose eingetragen werden. Hierdurch wird zugleich eine wesentliche Fehlerquelle, die bei Verwertung solcher Erhebungen zur Krankheitsstatistik im Auge behalten werden muß, angedeutet.

II. Diphtherie war am häufigsten (verursachte im Jahresmittel mindestens 15 Sterbefälle unter je 10,000 Lebenden von 1–15 Jahren) in den preußischen Regierungsbezirken Gumbinnen, Königsberg, Bromberg, Danzig, Marienwerder, Köslin, demgegenüber am seltensten in Mecklenburg-Schwerin (2,9), den preußischen Regierungsbezirken Schleswig (3,6) und Aurich (3,8), in Rheinhessen (4,1), dem Herzogtum Oldenburg (4,8) nebst dem angrenzenden Staatsgebiet von Bremen (4,8), endlich in Lothringen (4,7) und dem badischen Landeskommissarbezirk Karlsruhe (4,9). In den östlichen Bezirken des preußischen Staates, in denen nach vorstehendem die Diphtherie scheinbar am meisten verbreitet ist, bez. Verheerungen anrichtet, wird aber infolge der gemischten Sprachverhältnisse (litauisch-deutsch und polnisch-deutsch) vielfach jeder bei Kindern zum Tode führende Katarrh der Luftwege als »Bräune« bezeichnet und eingetragen, solche Todesfälle werden demgemäß hier als Diphtherietodesfälle geführt, während anderwärts Todesfälle aus gleicher Ursache als durch Luftröhrenkatarrh bedingt gelten. So ergibt sich auch hier eine bedeutsame Fehlerquelle.

III. Typhus war nach dem Kartogramm während der Berichtsjahre (Ausweise aus dem Großherzogtum Oldenburg einschließlich der Fürstentümer Birkenfeld und Lübeck liegen nicht für alle fünf Berichtsjahre, sondern nur für die Jahre 1901 und 1902 vor) am häufigsten (verursachte im Jahresmittel mindestens 15 Sterbefälle unter je 10,000 Lebenden von 1–60 Jahren) im oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld (33,6) nebst dem angrenzenden Regbez. Trier (20,8), in Lothringen (21,2), den preußischen Regierungsbezirken Arnsberg (20,6), Marienwerder (20,4), Danzig (19,0), Bromberg (18,4), Königsberg (17,7), Erfurt (17,0), Stettin (16,1), Gumbinnen (15,2), im Oberelsaß (17,4) und im Herzogtum Koburg (15,0); demgegenüber war Typhus während der Berichtsjahre am seltensten im oldenburgischen Fürstentum Lübeck (3,1), in Oberfranken (3,4), Oberbayern (3,9) sowie im preußischen Regbez. Aurich (3,7), im badischen Landeskommissarbezirk Konstanz (3,7), in den drei hessischen Provinzen Starkenburg (3,6), Oberhessen (3,9) und Rheinhessen (4,5), ferner im württembergischen Neckarkreis (4,1) und Schwarzwaldkreis (4,9), in der Oberpfalz (4,2), Mittelfranken (4,5), Schwaben (4,7) mit Hohenzollern (4,8), endlich im Staatsgebiet von Hamburg (4,7).

IV. Krebs und krebsartige Leiden oder, wie es in dem für die Erhebungen vorgeschriebenen Formular heißt, Neubildungen waren am häufigsten Ursache des Todes (bei mindestens jährlich 16 von je 10,000 im Alter von 15 Jahren und darüber lebenden Personen) in Schwaben (19,7) und dem angrenzenden badischen Landeskommissarbezirk Konstanz (19,3), im württembergischen Donaukreis (17,7), in Oberbayern (17,5) und dem Landeskommissarbezirk Freiburg (16,6), endlich im Gebiete der Freien Städte Lübeck (17,1) und Hamburg (16,6); demgegenüber waren diese Leiden am seltensten Ursache des Todes in den preußischen Regierungsbezirken Trier (5,4), Münster (5,5), Koblenz (6,2), Marienwerder (6,4), Oppeln (6,6) und dem im Regbez. Trier eingeschlossen liegenden oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld (6,7).

Über die Verbreitung von einigen weitern, für die öffentliche Gesundheitspflege bedeutsamen Krankheiten, unter andern pou Scharlach, Masern, Keuchhusten, Kindbettfieber, von Lungenentzündung und sonstigen entzündlichen Krankheiten der Atmungsorgane, auch von gewissen bei uns seltenen gemeingefährlichen Krankheiten, wie Pocken, Aussatz, Fleckfieber, Ruhr, Trichinose und Tollwut, lassen sich aus den Ergebnissen der deutschen Todesursachenstatistik leicht ähnliche kartographische Darstellungen entwerfen.

Krankheiten bei verschiedenen Menschenrassen.

Während die Eingebornen der Tropenländer dem Sumpf- und Wechselfieber und dem gelben Fieber größere Widerstandsfähigkeit entgegensetzen als die in den Tropen lebenden Europäer, werden erstere von Lungentuberkulose, Blattern, Masern und Grippe häufiger und in gefährlicherer Weise heimgesucht als letztere. Die geringere Empfänglichkeit der Farbigen gegen Wechsel- und Sumpffieber beruht auf allgemeiner Anpassung der tropischen Bevölkerung an ihr Klima, vielleicht auch darauf, daß im Gegensatz zu den in den Tropen lebenden Europäern die Eingebornen meistens keine Spirituosen genießen. Bei den in Tropenländern stationierten englischen und holländischen Truppen ist die Sterblichkeit zwar anfangs beträchtlich, nimmt aber mit der Beschaffung von gutem Trinkwasser, Herstellung gesunder Wohnungen, Trockenlegung von Sümpfen etc. von Jahr zu Jahr ab. Bei der verschiedenen Widerstandsfähigkeit der Völker kommt auch die Ernährung in Betracht, wie denn z. B. in Japan und Ostindien die vorwiegend von Vegetabilien lebenden Eingebornen von der Beriberi (s. d.) weit häufiger und heftiger befallen werden als die daselbst lebenden Europäer, die viel Fleisch essen. Daß die Widerstandsfähigkeit gegen K., bez. die größere oder geringere Sterblichkeit bis zu gewissem Grade durch die Rasse bedingt wird, dafür spricht der Umstand, daß in den Vereinigten Staaten Nordamerikas von 1000 Negern und Negermischlingen jährlich 17,3 Sterbefälle, von den Indianern 23,6, von der weißen Bevölkerung nur 14,7 sterben. Bei der weißen Rasse scheint der brünette Typus dem blonden in gesundheitlicher Hinsicht überlegen zu sein. Bei 600,000 Konskriptionspflichtigen in Nordamerika wurden von blonden Individuen durchschnittlich 385 auf 1000, von brünetten Personen nur 332 Personen auf 1000 wegen körperlicher Mängel oder K. militäruntauglich befunden. Bemerkenswert ist die Widerstandsfähigkeit der Naturvölker gegen Verletzungen, operative Eingriffe u. dgl.; Verwundungen, die das Leben des Europäers in Gefahr bringen, werden von der Mehrzahl der Farbigen verhältnismäßig leicht überstanden. Vgl. Art. »Tropenkrankheiten« und Buchner, Über die Disposition verschiedener Menschenrassen gegenüber den Infektionskrankheiten und über Akklimatisation (Hamburg 1887); Stokvis, Über vergleichende Rassenpathologie und die Widerstandsfähigkeit des Europäers in den Tropen (Berl. 1890); Heimann, Sterblichkeit der farbigen Bevölkerung im Verhältnis zur Sterblichkeit der weißen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten Nordamerikas (in der »Zeitschrift für Ethnologie«, 1888); Bartels, Kulturelle und Rassenunterschiede in bezug auf die Wundkrankheiten (ebenda, 1888); Davidson, Geographical pathology (Edinb. 1892); Clemow, Geography of disease (Lond. 1903).

Von der wirtschaftlichen Bedeutung der Krankheiten für den Volkswohlstand gewinnt man ein Bild, wenn man sich die Höhe der Kosten vergegenwärtigt, die dem Einzelnen, eventuell der Gesamtheit durch jede Erkrankung verursacht werden. Dem einzelnen Menschen erwächst aus der K. nicht nur Unbehagen, Sorge und Qual, sondern, soweit es sich um erwerbstätige Personen handelt, auch eine Schädigung des Vermögens, einerseits durch Störung der Erwerbstätigkeit, anderseits durch Aufwendung außergewöhnlicher Kosten zur Wiederherstellung der Gesundheit. Welchen Wert Schmerzen und Sorgen haben, läßt sich zahlenmäßig nicht ausdrücken, wohl aber kann man den Verlust an Geldeswert da übersehen, wo die Krankheitskosten von einer Gemeinschaft getragen werden und öffentlich Rechnung über dieselbe gelegt wird. Dies geschieht für große Gruppen der erwerbstätigen Bevölkerung des Deutschen Reiches seit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Gesamtzahl der in diese Krankenversicherung einbezogenen Personen belief sich 1890 auf mehr als 61/2 Mitt. An diese Versicherten (ungerechnet die ca. 460,000 in Knappschaftskassen versicherten Personen) wurden 1890 für rund 40 Mill. Krankheitstage Krankengeld bezahlt, und die Gesamtausgaben der Kassen für die Krankenpflege bezifferten sich auf mehr als 80 Mill. Mk., nämlich:

Tabelle

Erwägt man, daß hierbei der Verlust an Arbeitsverdienst, der hinter dem gezahlten Krankengeld kaum zurückbleiben wird, nicht berücksichtigt ist, daß obige Zahlen sich nur auf etwa den siebenten Teil der Gesamtbevölkerung des Reiches beziehen, und daß es sich dabei um Personen gehandelt hat, die in einem verhältnismäßig wenig für Erkrankungen empfänglichen Alter stehen, so gewinnt man ein ungefähres Bild von der Größe der Summen, die der Allgemeinwirtschaft durch K. verloren gehen. Insofern die Annahme gerechtfertigt ist, daß unter den 44 Mill. Einwohnern des Deutschen Reiches im J. 1890, die den Krankenkassen nicht angehören, die Erkrankungen nicht seltener und nicht von kürzerer Dauer als unter den Kassenmitgliedern waren, ist die Ausgabe für K., die das (übrigens ziemlich seuchenfreie) Jahr 1891 im Deutschen Reiche verursacht hat, mit 500 Mill. Mk. nicht zu hoch veranschlagt. Hierbei ist der Verlust durch Ausfall an Arbeitsleistung nicht mitberechnet.

In rechtlicher Beziehung kommt K. verschiedentlich in Betracht. Sie berechtigt zur Ablehnung einer Vormundschaft, Gegenvormundschaft und Pflegschaft, verleiht bei dauerndem Dienstverhältnis, d. h. wenn es nicht durch tägliche, wöchentliche oder sonst kurz gegriffene Lohnzahlung gelöst werden kann, dem in die häusliche Gemeinschaft Aufgenommenen einen Anspruch auf die erforderliche Verpflegung und ärztliche Behandlung bis zur Dauer von sechs Wochen, jedoch nicht über die Beendigung des Dienstverhältnisses hinaus, es sei denn, daß der Erkrankte seine K vorsätzlich oder grobfahrlässig herbeigeführt hat. Statt Ersatz hierfür ist auch Unterbringung in einer Krankenanstalt gestattet, ebenso gilt als Ersatz stattgefundene Einzahlung in eine private oder öffentliche Krankenversicherung. Die Kosten der Krankenbehandlung darf der Dienstherr auf den für die Zeit der Erkrankung geschuldeten Lohn in Anrechnung bringen. Ebenso kann er sofort nach Erkrankung außerordentlich, d. h. ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist, kündigen, muß aber trotzdem für eine sechswöchige Behandlung und Verpflegung sorgen (§ 617 des Bürgerlichen Gesetzbuches). K. während der Ehe ist natürlich ohne Einfluß auf deren Bestand, es sei denn, daß es sich um eine ekelerregende oder unheilbare, selbstverschuldete K. handelt, in welchem Falle nach § 1568 auf Scheidung geklagt werden kann. Bezüglich der Geisteskrankheit bestimmt das Bürgerliche Gesetzbuch in § 1569 ausdrücklich, daß sie ein Scheidungsgrund ist, auch wenn sie erst in der Ehe und auch unverschuldet ausbricht. Sie muß jedoch mindestens 3 Jahre gedauert haben und unheilbar sein. Bestanden derartige Krankheiten bereits vor der Ehe und wurde dem andern Eheteil hiervon nicht Mitteilung gemacht, so ist dies nach § 1333 ein Ehe-Anfechtungsgrund. Außerdem ist die Frau, wenn Gefahr im Verzug ist, bei Erkrankung ihres Mannes berechtigt, ohne seine Zustimmung über ihr eingebrachtes Gut (s. Ehegüterrecht, S. 402 f.) zu verfügen und in bezug auf das Gesamtgut (s. Ehegüterrecht, S. 402 f.) Rechtsgeschäfte vorzunehmen und Rechtsstreite zu führen. Bedürfen die Frau oder der Mann zu Rechtsgeschäften der Zustimmung des andern Eheteils, so wird diese bei Gefahr in Verzug und Erkrankung desjenigen, der die Zustimmung zu erteilen hat, durch das Vormundschaftsgericht ersetzt. Außerdem entbindet nachgewiesene K. vom Erscheinen vor Gericht, sei es als Kläger oder Beklagter, als Angeklagter, Zeuge, Schöffe oder Geschworner. Ebenso kann Aufschub des Antrittes einer Freiheitsstrafe und sogar deren Unterbrechung wegen K. gewährt werden, wie auch an einem Schwerkranken die Todesstrafe nicht vollzogen wird. Über den Einfluß der in einem Ort ausgebrochenen ansteckenden K. auf die Errichtung eines Testaments s. d., und über den Einfluß der Geisteskrankheit in rechtlicher Beziehung s. Geisteskrankheit, S. 502.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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