Individuum

Individuum

Individuum (lat.), eigentlich »ein Ding, das nicht geteilt werden kann«, ohne aufzuhören, das zu sein, was es vorher war, also entweder ein absolut einfaches oder ein organisiertes Wesen, an dem jeder einzelne Teil integrierend zum Ganzen gehört. In einem prägnantern Sinn ist das I. ein Wesen, dem eine eigentümliche geistige Beschaffenheit und Kraft zukommt, wodurch es sich von jedem andern Wesen seiner Gattung unterscheidet. Der Inbegriff der Merkmale, wodurch sich ein Wesen als I. zu erkennen gibt, ist die Individualität. Je vielfältigern Bestimmungen eine Klasse von Dingen zugänglich ist, desto reicher entfaltet sich innerhalb derselben die Individualität; am mannigfaltigsten tritt sie da auf, wo das geistige Leben einer selbständigen Entwickelung entgegengeführt wird, mehr unter den höhern als unter den niedern Tiergattungen und am meisten unter den Menschen, wo sie wieder in den höhern Lebenssphären vielgestalteter auftritt als unter der unkultivierten Menge. Mangel einer scharf hervortretenden Individualiät gilt daher als Zeichen mittelmäßiger oder gewöhnlicher (genereller) geistiger Befähigung. Das I. steht einerseits (in logischer Hinsicht) im Gegensatz zur Art, insofern diese immer eine Mehrheit von Individuen umfaßt, die nur in der Anschauung, nicht aber begrifflich unterschieden werden können, anderseits (in metaphysischer Hinsicht) im Gegensatz zur absoluten. das Dasein der vielen Individuen bedingenden Substanz. Die Frage nach dem, worauf das Wesen und der Unterschied der Individuen beruht (principium individuationis), hat daher sowohl die Logiker (hauptsächlich die Scholastiker, s. d.) als auch die Metaphysiker (besonders Schopenhauer und v. Hartmann) beschäftigt.

Besonders schwierig ist die Definition des Individuums im naturhistorischen Sinne. Da die auf ungeschlechtlichem Wege durch Pfropfen, Stecklinge etc. erzeugten jungen Pflanzen die Individualität der Stammpflanze völlig bewahren, so wollten Gallesio und später Coulay nur die auf geschlechtlichem Weg erzeugten Lebewesen als I. gelten lassen, und man kam zu der Absurdität, sämtliche durch Stecklinge von Einem Baum herleitbare Exemplare, wie z. B. alle Trauerweiden Europas, oder die Tausende der in mehreren Generationen ungeschlechtlich erzeugten Blattläuse zu einem einzigen geteilten I. (eine contradictio in adjecto) rechnen zu müssen. Haltbarer erscheint die Ansicht von de la Hire und dem ältern Darwin, daß die Pflanze in den meisten Fällen, einem Korallenstock gleich, als ein zusammengesetztes I. anzusehen sei und jeder letzte Sproß das eigentliche I. darstelle. Diese Schlußfolge führte weiter, und da jedes Internodium sämtliche Elementarorgane (Achse, Blatt, Blüte, Wurzel) besitzt oder reproduzieren kann, so sahen Agardh und Gaudichaud jedes einzelne Internodium, Schultz-Schultzenstein jeden die Elementarorgane enthaltenden Pflanzenteil (Anaphyton), der fähig ist, eine neue Pflanze hervorzubringen, als das eigentliche I. an. Nach Entdeckung der Zelle als Elementarorgan der Pflanzen und Tiere wurde diese von Schleiden und Turpin als das eigentliche I. angesehen; ja, man hat die kleinsten Protoplasmateile als die eigentlichen Träger der Individualität ansehen wollen. Noch schwieriger lag der Fall bei den Tieren. Denn erstens gibt es zusammengesetzte Tiere, die aus verschiedenartigen Einzeltieren bestehen, von denen jedes, einem Organ vergleichbar, verschiedene Funktionen erfüllt. Hier kann offenbar nur das zusammengesetzte Tier in seiner Gesamtheit, der Stock (cormus), als I. gelten, wie denn auch die verschiedenen Formen di- oder polymorpher Organismen (Männchen und Weibchen, Arbeiter und Soldaten der geselligen Insekten etc.) in den Begriff des Individuums aufzunehmen sind. Ein andrer Fall liegt bei den Seesternen und den Gliedertieren vor, wo ein einzelner Strahl (Antimer) oder ein einzelnes Querstück (Metamer) für sich fortleben und das Tier zeitweise repräsentieren kann, z. B. die Gliederstücke der Bandwürmer. Der abgerissene Strahl eines Seesterns ergänzt sich sogar durch Hervortreiben von 4–5 neuen Strahlen wieder zu einem vollständigen Seestern. Eine ähnliche Selbständigkeit besitzen manchmal einzelne Organe, z. B. der frei umherschwimmende männliche Arm (Hectocotylus) einzelner Kephalopoden. Dazu kommt, daß viele Organismen eine komplizierte Metamorphose durchmachen, deren einzelne oft sehr verschiedene Phasen in den Individualbegriff aufgenommen werden müssen. Haeckel sah sich daher veranlaßt, verschiedenartige Individualitätsbegriffe einzuführen, vor allem das morphologische I. (Morphon) von dem physiologischen I. (Bion) zu trennen und außerdem sechs verschiedene Kategorien aufzustellen, die er als Individuen 1.–6. Ordnung (Plastide, Organ, Antimer, Metamer, Person und Cormus) unterscheidet. Alle diese Schwierigkeiten sind natürlich nur daraus entstanden, daß man den abstrakten Begriff des unteilbaren menschlichen Individuums auf die Vielseitigkeit der Pflanzen- und Tierwelt anwenden wollte. Vgl. A. Braun, Das I. der Pflanze (Berl. 1853); Haeckel, Über die Individualität des Tierkörpers (Jena 1878); Fisch, Aufzählung und Kritik der verschiedenen Ansichten über das pflanzliche I. (Rostock 1880).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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