Schmerz

Schmerz

Schmerz (Dolor), die abnorme Erregung oder gesteigerte Tätigkeit der Empfindungsnerven, das wichtigste subjektive Symptom zahlloser Krankheitszustände. Man nimmt jetzt meistens an, daß der S. durch eigne, keine weitere Leistung übernehmende Nerven vermittelt werde, und rechnet ihn zu den Sinnesempfindungen. Früher zählte man ihn zu den Gemeingefühlen, also zu denjenigen Empfindungen, die im Bewußtsein das ganz allgemeine Gefühl des körperlichen Wohl- und Unwohlbefindens hervorrufen. Dem Schmerzsinne der Haut dienen vielleicht die sogen. freien intraepithelialen Nervenendigungen als peripherische Endorgane. Es steht fest, daß die Fähigkeit zur Vermittelung der Schmerzempfindung nicht allen Teilen der Körperoberfläche zukommt, vielmehr auf die Schmerzpunkte beschränkt ist, ebenso wie die Druckempfindung auf die Druckpunkte der Haut angewiesen ist. Die Schmerzempfindung sowohl als die Schmerzensäußerung ist nach Intensität, Art etc. in hohem Grade abhängig von Alter, Geschlecht und von der Individualität. Niedern Tieren geht sie vermutlich völlig ab. Ihre Reaktionen auf schmerzhafte Eingriffe (Krümmen der verletzten Würmer etc.) sind als Reflexbewegungen zu deuten. Der S. ist ein Warnungs- und Schutzmittel, das erst auf den höhern Stufen der Tierwelt zur Geltung kommt und gewissermaßen eine Errungenschaft der fortgeschrittenen Entwickelung darstellt. Im allgemeinen kann der S. seinen Sitz in jedem Organ oder Gewebe haben, das sensible Nerven besitzt, und zwar ist er um so lebhafter, je nervenreicher dies ist. Der S. ist verschieden zunächst nach den schmerzmachenden Ursachen. Sehr schnelle Einwirkungen, z. B. Nervendurchschneidung, ebenso wie rein chronische Veränderungen der Nerven sind häufig fast schmerzlos. Der Grad der Schmerzen ist ferner verschieden nach der Erregbarkeit des Individuums: Gesunde ertragen S. besser als Rekonvaleszenten, Erwachsene besser als Kinder. Die Aufmerksamkeit steigert den S. Ein heftiger und kurz dauernder S. ist dem Kranken oft lieber als ein gleichmäßig und länger fortdauernder S. von geringem Grade. Der S. ist bei weitem am häufigsten eine wirklich lokale Erscheinung, d.h. die Stelle, an der er empfunden wird, ist auch diejenige, wo die abnorme Erregung der Nerven stattfindet. Dieser lokale S. nimmt auf Druck, Bewegung und örtliche Reize aller Art zu und bleibt an seiner Stelle, springt nicht herum. Seltener ist der S. eine exzentrische Erscheinung, d.h. er hat seine Ursache an einem andern Ort als da, wo er empfunden wird. Störungen, welche die Nervenzentralorgane oder irgend eine Stelle im Verlauf eines Nervs betreffen, verursachen S., der dem Bewußtsein als an den peripherischen Enden der betreffenden Nervenfasern erregt erscheint. Das Bewußtsein verlegt nämlich die Ursache einer an ungewohnter Stelle angreifenden Nervenerregung dahin, wo Reize der Nerven für gewöhnlich zu treffen pflegen, also in seine peripherische Ausbreitung in der Haut etc. Der exzentrische S. nimmt auf Druck, Bewegung und andre Reize des schmerzenden Organs nicht zu. Nicht selten zeigt er sich über eine größere oder viele zerstreute Stellen verbreitet und ist manchmal wandernd. Irradiiert ist der S., wenn sich die Erregung von einer sensibeln Faser auf andre nicht unmittelbar betroffene überträgt (Mit emp sin dung). Irradiierte Schmerzen können in großer Entfernung von der kranken Stelle vorkommen und heißen dann sympathische Schmerzen (z. B. Knieschmerz bei Hüftgelenksentzündung, Schulterschmerz bei Leberabszessen). Zu den irradiierten Schmerzen gehören besonders manche Formen des Kopf- und Zahnschmerzes. Die Schmerzempfindung kann zeitweise fehlen bei Abwendung der Aufmerksamkeit, bei örtlicher Einwirkung der Kälte (lokale Anästhesie durch Ätherdampf oder Äthylchlorid), nach Bepinselung der betreffenden Stelle mit Kokainlösung, nach Einspritzung von Kokain und ähnlichen Mitteln ins Rückenmark (Lumbalanästhesie), bei gehemmter Leitung durch die Nerven (z. B. nach Nerven- oder Rückenmarksverletzungen) und bei gehinderter Perzeption durch das Gehirn, z. B. im Rausch oder der Narkose. Auch im hypnotischen Zustand und in der Hysterie kann die Schmerzempfindung fehlen oder sehr abgestumpft sein. In den betreffenden Nerven hinterläßt der S. keine Folgen; nach dem Aufhören des Schmerzes ist der Nerv wieder normal erregbar. Im Gehirn werden Empfindungen andrer Art während und nach dem S. entweder gar nicht oder doch nur unvollständig wahrgenommen; es enstehen unter Umständen Schlaflosigkeit, Bewußtlosigkeit, Delirien; häufig finden Reflexbewegungen statt: Verziehen des Gesichts, Schreien, Zuckungen, veränderte Herz- und Atmungsbewegungen. Die gewöhnlichste Folge und Äußerung des Schmerzes besteht im Weinen. Veränderung der Ernährung findet nur bei sehr heftigen und bei langanhaltenden Schmerzen statt. Die Behandlung der Schmerzen sucht die Ursache des Schmerzes zu entfernen (Abwendung äußerer Schädlichkeiten, Anwendung der Kälte, der Blutentziehung), zumal bei peripherischen Schmerzen, oder die Leitung des abnorm erregten Nervs zu unterbrechen (Ausschneidung eines Stückes aus dem Verlauf des Nervs), oder die Perzeptionsfähigkeit des Gehirns herabzusetzen oder zeitweilig ganz aufzuheben (örtlicher und allgemeiner Gebrauch der Narkotika, Einatmen von Chloroform- und Ätherdämpfen). – Dem gewöhnlichen körperlichen, physischen S. steht gegenüber der Seelenschmerz, der psychische, ein bis zum Affekt gesteigertes Gefühl, das durch gewisse Vorgänge in der geistigen Sphäre, im Gebiete der Vorstellungen entsteht, seien diese mehr intellektueller oder mehr moralischer Natur, so bei großem Verlust, Reue, Trauer etc. Ist der Seelenschmerz dauernd und tief, so macht er allmähliche Übergänge zur Melancholie; ist er heftig und plötzlich, so kann er sich ebenso wie der körperliche zu Exaltationszuständen steigern. Vgl. L. Dumont, Vergnügen und S. (Leipz. 1876); Oppenheimer, S. und Temperaturempfindung (Berl. 1893); Goldscheider, Über den S. in physiologischer und klinischer Hinsicht (das. 1894); Martius, Der S. (Leipz. 1898).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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