Schutzimpfung

Schutzimpfung

Schutzimpfung (Präventivimpfung, prophylaktische Impfung), die absichtliche Übertragung von krankheiterregenden Mikroorganismen oder aus ihnen dargestellten Stoffen auf einen Menschen oder ein Tier, um ihn vor der Einwirkung eines stärkern Krankheitsgiftes verwandter Art zu schützen, ihn immun gegen letzteres zu machen (vgl. Immunität). Die S. beruht auf der alten Erfahrung, daß einmaliges Überstehen von ansteckenden Krankheiten häufig Unempfänglichkeit gegen dieselbe Krankheit zur Folge hat, die z. B. auch zahlreiche Eltern veranlaßt, bei leichten Masernepidemien bei Erkrankung eines Kindes die andern absichtlich der Ansteckung auszusetzen und gegen spätere Erkrankung dadurch zu schützen, und die in Indien und andern Ländern Asiens seit langer Zeit dazu führte, Menschen zu demselben Zweck absichtlich mit Menschenpocken zu infizieren. Letzteres gefährliche Experiment wurde durch Jenners Entdeckung der Schutzpockenimpfung mittels Kuhpockengift überflüssig gemacht. Diese beruht darauf, daß ein durch die Passage durch den Tierkörper abgeschwächtes Gift (d. h. die auf Rinder verimpften, dort gemildert als Kuhpocken auftretenden Menschenpocken) eine gefahrlose S. ermöglicht. Die gegenwärtig üblichen Methoden der S. bedienen sich fast ausschließlich der Einführung von auf verschiedenem Weg abgeschwächten Bakterien, die eine gemilderte, aber zur Erzeugung von Immunität doch hinreichende Erkrankung hervorbringen. Es handelt sich also bei der S. um sogen. aktive oder isopathische Immunisierung, indem der Organismus selbst die Schutzstoffe bildet, im Gegensatz zur passiven oder antitoxischen Immunisierung, die bei der Serumtherapie stattfindet durch Einführung von fertigen Gegengiften, die in einem andern Organismus dargestellt sind. Solche antitoxische Sera werden manchmal auch vorbeugend zur S. verwendet. Die S. mit lebenden ungeschwächten Krankheitserregern hat nur geringe praktische Bedeutung. Vor Entdeckung der Kuhpockenimpfung wurde S. mit lebendem Menschenpockengift ausgeführt, und durch Einspritzungen von ungeschwächten Cholerabazillen unter die Haut, wo sie sich nicht vermehren, hat man beim Menschen Immunität gegen Cholera zu erzeugen versucht, jedoch mit unvollkommenen Ergebnissen. Impfung mit lebenden abgeschwächten Erregern wurde erfolgreich gegen die Wut (Hundswut, Lyssa) verwendet. Der Erreger der Wut, der bisher nicht isoliert werden konnte, ist im Rückenmark infizierter Kaninchen in sehr giftigem Zustand vorhanden und kann in genau abstufbarer Weise abgeschwächt werden. Impfungen mit diesem Präparat sind bei der meist chronisch verlaufenden, langsam sich entwickelnden Wutkrankheit des gebissenen Menschen auch nach dem Biß noch wirksam.

Bei andern Infektionskrankheiten hat man abgetötete spezifische Bakterien eingeführt. So hat, von R. Pfeiffers Arbeiten ausgehend, Hafkin Schutzimpfungen gegen Cholera in Indien in größtem Maßstab vorgenommen, nach ca. 5 Tagen machte sich eine Schutzwirkung gegen Ansteckung geltend, die zwar keine absolute ist, aber doch eine gewisse Immunität verleiht. In ganz ähnlicher Weise hat man die S. gegen Typhus ausgeführt (s. Typhus). Bei beiden Verfahren bilden sich spezifisch-bakterisch wirkende Stoffe, Bakteriolysine, die Cholera-, bez. Typhusbazillen rasch abtöten und auflösen. Über den Mechanismus dieser Bakteriolysine s. Immunität (S. 774), über die diagnostische Bedeutung s. Serumdiagnostik. Auch bei Pest spritzt Hafkin abgetötete Pestbazillenkulturen unter die Haut, und nach ca. einer Woche tritt eine monatelang anhaltende Immunität ein, die keine absolute zu sein scheint, aber die Methode doch als empfehlenswert erkennen läßt.

In andern Fällen hat man nicht die Bakterien selbst, sondern ihre durch Extraktion mit heißem Wasser oder durch Zerreiben gewonnene Leibessubstanz (also nicht die von ihnen ausgeschiedenen Gifte) zur S. verwendet. Dies geschieht bei der Herstellung des ältern Kochschen Tuberkulins und des neuern Präparats (Tuberkulin TR). Die ärztlichen Erfahrungen über die Heilwirkungen dieser Präparate sind bisher nicht günstig; größer ist ihr diagnostischer Wert; Schutz gegen Infektion verleihen sie nicht.

S. mit den spezifischen Bakteriengiften (Toxinen) hat man namentlich bei Krankheiten, deren Erreger nicht ausgedehnte Gebiete des kranken Organismus durchsetzt oder im ganzen Körper zu finden ist, sondern sich nur streng lokal zu vermehren pflegt und lediglich durch die von ihm ausgeschiedenen Gifte schädlich wird, vor allem bei Diphtherie und beim Tetanus (Starrkrampf) ausgeführt. Durch vorsichtige, allmählich gesteigerte Einspritzung bakterienfreier Diphtherie-, bez. Tetanusgiftlösungen erreicht man allmählich Immunität gegen diese Krankheiten, da der so behandelte Organismus Antitoxine gegen diese Toxine hervorbringt. Diese Art der S. ist aber langwierig, durch die wiederholte, jedesmal von fieberhafter Reaktion begleitete Gifteinspritzung lästig und gefährlich, so daß sie zur S. beim Menschen nicht in Betracht kommt. Viel zweckmäßiger ist es, erkrankten Menschen das Blutserum von Tieren, die auf solche Weise immunisiert wurden, einzuspritzen und damit auch die schon vorhandenen Antitoxine einzuverleiben, die dann auch nach Ausbruch der Krankheit einen sofort wirksamen Schutz verleihen. Auch kann mit Hilfe solchen Serums eine vorübergehende S. noch nicht erkrankter Menschen ausgeführt werden; infolge rascher Ausscheidung der körperfremden Schutzstoffe des fremden Blutes ist die Dauer dieses Schutzes im Vergleich zur aktiven (isopathischen) Immunisierung sehr kurz (ca. 2 Wochen). Näheres s. Serumtherapie. Vgl. die Literatur bei Artikel »Immunität«.

Bei Haustieren wird von der S. umfassender und zum Teil sehr erfolgreicher Gebrauch gemacht. Gegen die Rinderpest impfte man schon um die Mitte des 18. Jahrh. und verminderte dadurch die Verluste, obwohl sehr viele (bis 60 Proz.) Impftodesfälle eintraten, da man die künstliche Abschwächung des Ansteckungsstoffes nicht kannte. Die Schafpockenimpfung wurde 1798, die Lungenseucheimpfung (von Willems) 1851 eingeführt. In der Veterinärpolizei wird die Präventiv- oder Präkautions- und die Notimpfung unterschieden, je nachdem die S. in einem noch seuchenfreien Bestande vorgenommen wird oder nach schon erfolgtem Seuchenausbruch an den noch gesunden Tieren; für das Wesen der S. ist dieser Nebenumstand belanglos. Es kommen drei Formen der S. in Betracht: mit unverändertem Virus (Ansteckungsstoff), mit abgeschwächtem Virus und eine Kombination von Serumtherapie (s. d.) u. Virusübertragung; letztere Form hat die weitaus größte Bedeutung. Mit unverändertem Ansteckungsstoff wurden die Schafpocken- und Lungenseucheimpfung ausgeführt. Meist verlief die Impfkrankheit mild und schützte dann die Tiere, doch traten auch nicht unerhebliche Impfverluste (Todesfälle) auf, und vor allem wurde durch diese S. der Ansteckungsstoff selbst und damit die Seuche verbreitet. Diese S. war daher nur so lange berechtigt, als keine gesetzlichen Mittel zur Seuchenbekämpfung bestanden. Nach Erlaß des Tierseuchengesetzes (1880) wurde in Deutschland die Impfung bei Schafpocken verboten und später auch bei Lungenseuche verlassen; beide Seuchen sind seitdem durch veterinärpolizeiliche Maßnahmen völlig getilgt. Mit abgeschwächtem Virus wird noch heute gegen Milzbrand (Methode Pasteur) und Rauschbrand geimpft. Die Abschwächung des Virus läßt sich jedoch nicht so abstufen, daß nicht manche Impstiere erheblicher, selbst tödlich erkrankten, und gelegentlich unkontrollierbare Fehler bei Bereitung des Impfstoffes haben schon große Impfverluste herbeigeführt. Immerhin ist diese S. in Gegenden, wo jene Seuchen ständig herrschen, empfehlenswert und vielverbreitet, obwohl man sich auch hier bemüht, ein gefahrloseres Verfahren (s. unten und Rauschbrand) zu verwerten. Die kombinierte Impfung beruht auf der Verwendung von Schutzserum (s. Serumtherapie) und Virusübertragung und ist zuerst von dem hessischen Landestierarzt Lorenz 1892 gegen den Rotlauf der Schweine ausgeführt worden. Um die hohen Verluste, die eine auch hier mit abgeschwächtem Virus vorgenommene (Pasteursche) Impfung verursacht, zu vermeiden, gewann Lorenz durch entsprechende Behandlung erst von Schweinen, dann von Pferden ein Schutzserum, dessen Einspritzung bei Schweinen eine vorübergehende passive Immunität gegen Rotlauf hervorruft. Diese befähigt das Schwein, eine nachfolgende Impfung mit unabgeschwächter Rotlaufbazillenkultur ohne jede Gefahr zu vertragen. Die durch letztere erzielte aktive Immunität dauert 6 Monate, bei zweimaliger Impfung ein Jahr. Zur Vereinfachung kann die erste Kulturimpfung sogleich nach der Serumeinspritzung ausgeführt werden (sogen. Simultanimpfung). Diese kombinierte Rotlaufimpfung, die seitdem allgemein in Aufnahme gekommen ist, ist fast absolut sicher und einer der größten praktischen Erfolge der Veterinärmedizin. Auch bei der Schweineseuche gibt es eine kombinierte S. (mit Septizidin B, Landsberg a. W.) neben einer reinen Serumtherapie. Ebenso ist beim Milzbrand neben der ältern Methode (s. oben) eine Serum- und Kulturimpfung von Sobernheim eingeführt und hat sich bereits vielfach bewährt; ein neueres Verfahren beim Rauschbrand (s. d.) ist reine Serumtherapie. Die heutige Impfung gegen die Rinderpest ist ebenfalls eine Kombination, indem das Rind erst durch Gallen- oder Serumeinspritzung und dann durch Übertragung virulenten Blutes gefestigt wird. Auch bei der Immunisierung gegen die afrikanische Rinderpiroplasmose wirken Serum und Krankheitserreger zusammen, nur daß letzterer nicht künstlich übertragen, sondern daß das Tier der natürlichen Ansteckung absichtlich ausgesetzt wird. Die S. gegen Pferdesterbe ist über das Versuchsstadium noch nicht hinaus. Zur Immunisierung der Kälber gegen die Tuberkulose ist zuerst von Behring ein Impfstoff, der Bovovaccin, dann von Koch u. Schütz das Tauruman eingeführt worden. Beide Stoffe bewirken eine Steigerung der Widerstandsfähigkeit gegen natürliche Ansteckung, und nach ihrer Beschaffenheit ist das Verfahren als eine S. zu betrachten, deren praktische Durchführbarkeit und Bedeutung sich zurzeit noch nicht völlig übersehen läßt. Vgl. Serumtherapie.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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