- Geisteskrankheiten
Geisteskrankheiten (Seelenstörungen, Gemütskrankheiten, Psychosen, psychische Krankheiten), Krankheiten, die sich durch Störungen im Gebiet der Sinneseindrücke, des Vorstellens, Wollens oder Handelns kundgeben. Da jede geistige Tätigkeit von dem Zentralorgan des Nervensystems und speziell von der grauen Substanz der Großhirnhemisphären geleistet wird, sind auch die krankhaften Abweichungen dieser Verrichtungen als Symptome dafür zu betrachten, daß die graue Substanz des Gehirns krankhafte Veränderungen erfahren hat. Bei einem Teil der G. sind diese anatomischen Veränderungen nachweisbar, sei es, daß man sie schon mit bloßem Auge, z. B. an der geschrumpften Hirnsubstanz eines an paralytischer Geisteskrankheit Verstorbenen, mit Sicherheit erkennt, sei es, daß erst eine mikroskopische Untersuchung zur Erkenntnis von Strukturveränderungen im Gehirn führt. Die derartig anatomisch nachweisbaren G. bezeichnen wir als organische G. (progressive Paralyse, Dementia senilis, syphilitische Geschwülste etc.). Als funktionelle G. gelten dagegen G., bei denen es bisher nicht gelang, Strukturveränderungen des Gehirns nachzuweisen (Melancholie, Manie, Paranoia, Hypochondrie, Hysterie, Epilepsie).
Eine Einteilung der G. ist recht schwer; sie kann entweder eine ätiologische (ursächliche) oder symptomatologische (nach den Erscheinungsformen) sein. Sie ist um so schwerer, als eine Anzahl krankhafter Symptome in gleicher Weise bei den verschiedenartigsten G. auftritt. Diese Symptome heißen psychische Elementarstörungen oder elementare Anomalien. Dazu zählen hauptsächlich die folgenden: 1) Störungen der Empfindung; dazu gehören vor allem die Sinnestäuschungen oder Halluzinationen, die zu den häufigsten Symptomen bei G. gehören und in die Sphäre des Gesichts oder des Gehörs, seltener des Geruchs, Geschmacks oder Gefühls fallen (s. Sinnestäuschungen). 2) Störungen der Vorstellungen (Bildung falscher, Verlust und Fälschung von Erinnerungsbildern). 3) Störungen der Ideenassoziation (Vorstellungsablauf, Verknüpfung der Vorstellungen) im Sinn einer krankhaften Beschleunigung (Ideenflucht) oder Verlangsamung (Denkhemmung) oder einer inhaltlichen Fälschung der Urteilsassoziationen. Zu der letztern gehören die Zwangsvorstellungen und die Wahnvorstellungen, die Gesamtheit der verschiedenartigen irrigen Ideen und Kombinationen. Man hat sie mit Recht als besondere Gruppe der Elementarstörungen ausgeführt, jedoch ist es eine jetzt allseitig als irrig anerkannte Lehre, daß eine oder die andre Wahnvorstellung bei manchen sonst ganz gesunden Personen auftreten könne und aldann die Bedeutung einer selbständigen Geisteskrankheit (Monomanie oder fixe Idee) beanspruchen dürfe. Die Namen Kleptomanie (Diebstahlstrieb), Pyromanie (Trieb zur Brandstiftung), Monomanie homicide (Selbstmordstrieb), Nympho- und Aidoiomanie (krankhafter Geschlechtstrieb) sind veraltet und nur geeignet, Mißverständnisse zu erwecken, seit mit Sicherheit erkannt ist, daß alle Personen, die mit sogen. fixen Ideen behaftet sind, an einer wirklichen Geisteskrankheit leiden, von der die fixe Idee nur ein Symptom ist. Eine fernere Art der Elementarstörungen gehört der Sphäre des Gemütslebens an: 4) die heitere Verstimmung (Exaltation), bei der die Personen mehr oder weniger andauernd eine außerordentliche Ausgelassenheit und einen Frohsinn an den Tag legen, der meist irgend einer eingebildeten Idee entspringt, dem gesunden Verstand eines Beobachters aber durchaus unmotiviert erscheint. Die traurige Verstimmung (Depression), bei der ein Alp auf dem Kranken lastet und alles Denken und Fühlen von traurigen, sorgen- und kummervollen Ideen beherrscht wird. Bei den einzelnen Elementarstörungen finden sich typische Störungen des Handelns, die aus dem jeweiligen Geisteszustand resultieren. Keine dieser aufgezählten Gruppen elementarer psychischer Anomalien ist nun an und für sich eine Psychose, d. h. wirkliche Geisteskrankheit, ja es ist sogar keine einzige ein sicheres Symptom einer solchen. Nur die genaue Beobachtung der Entwickelung und des Verlaufs einer Geisteskrankheit, die Gruppierung der einzelnen Elementarstörungen und ihr Ausgang läßt eine exakte Diagnose stellen. Kenntnisnahme von der persönlichen und Familiengeschichte, körperliche Untersuchung etc. sind unerläßlich. Eine einheitliche Einteilung und Nomenklatur der G. existierte bis jetzt leider nicht.
Der Verlauf einer Geisteskrankheit kann ein akuter oder chronischer sein, ein zirkulärer, in dem krankhafte Depression und Exaltation abwechseln, ein periodischer und rezidivierender. Eine Psychose geht aus in Heilung, Heilung mit Defekt, Schwachsinn, Tod, oder sie kann unverändert bleiben. Über die einzelnen Krankheitsbilder s. die betreffenden Artikel (Epilepsie, Manie, Melancholie, Paranoia etc.).
Die Ursachen der G. lassen sich in zwei große Gruppen zusammenfassen, die angeerbten, die 50–60 Proz. aller G. ausmachen, und die erworbenen. Nicht nur die krankhaften Bildungen von Schädel und Gehirn bei Kretins und Mikrokephalen kommen in gewissen Bezirken oder Familien als Hinterlassenschaft geisteskranker Ahnen vor, sondern jede Art der anomalen Gehirnanlage, die als Epilepsie, als Schwermut oder primäre Verrücktheit oder Schwachsinn zum Ausdruck kommt, ferner schließt auch das Delirium tremens der Trinker die Gefahr einer Vererbung auf die Nachkommen in sich. Indes wird nicht die Geisteskrankheit als solche vererbt, sondern nur eine Anlage (Prädisposition) zu den verschiedensten Nerven- und Geisteskrankheiten.
Die erworbenen G. entstehen teils durch von außen auf das Individuum wirkende Schädlichkeiten, und zwar 1) durch Vergiftungen mit Alkohol (Delirium tremens [s. Delirium], Manie, Paranoia, wobei häufig die Wahnvorstellung der ehelichen Untreue ihre Rolle spielt), Morphium, Opium, Haschisch, Kokaïn, Chloroform, Chloral, Chinin, Bromsalze, Hyoscyamus, Blei (meist mit andern Bleikrankheiten), Quecksilber, Kohlenoxyd; 2) durch Infektionskrankheiten (akute, wie Typhus, Gelenkrheumatismus, Kopfrose, Malaria etc.; chronische, wie Syphilis, Tuberkulose etc.; 3) durch mechanische Verletzungen des Zentralnervensystems (Gehirnerschütterungen); 4) durch physiologische Entwickelungsvorgänge (Geschlechtsreifung, Menopause, Greisenalter), hochgradige Erschöpfung und Gemütserschütterungen. Außerdem wirken die Berufs- und Lebensverhältnisse vielfach auf Entstehung der G. ein, wobei aber die erbliche Anlage sehr oft ausschlaggebend ist. So ist die Pubertät für disponierte Personen eine sehr gefährliche Zeit, manche Frauen sind während der Menstruation besonders empfänglich für geistige Störungen, 3 Proz. aller G. der Frauen kommen während der Schwangerschaft vor, 4,9 Proz. während der Stillungsperiode; manche erkranken im Wochenbett an Manie mit Halluzinationen schwerster Art, andre an Melancholie, Paranoia oder Dementia acuta. Ledige erkranken häufiger als Verheiratete. Im Greisenalter kommt Dementia senilis, im Klimakterium häufiger Melancholie, Paranoia vor. Endlich können aber auch fehlerhafte Erziehung, geschlechtliche Exzesse und solche im Trinken, Neurosen, Überanstrengung des Gehirns durch rastloses Arbeiten weniger als Ursache, aber als Veranlassung zum Ausbruch einer vielleicht im Keim schlummernden Geistesstörung angesprochen werden.
Die Statistik der G. weist im allgemeinen eine Zunahme gegen frühere Zeiten nach, doch sind die ältern Angaben sehr ungenau und die neuen noch nicht lange genug einheitlich zusammengestellt, um über die Ursachen dieser Erscheinung Schlüsse zuzulassen. Gewisse Arten von G. scheinen in bestimmten Gegenden häufiger aufzutreten als in andern (z. B. die Melancholie in Thüringen). Das männliche Geschlecht zeigt eine größere Disposition zum Blödsinn, das weibliche zum Irrsinn. Die Häufigkeit der G. in bezug auf das Lebensalter ist verschieden und richtet sich nach der Art der Erkrankung. Die jüdische Rasse scheint mehr als andre zu G. disponiert zu sein. Bezüglich der rapiden Zunahme der Zahlen der G. ist zu bedenken, daß in jüngster Zeit viel mehr Personen als geisteskrank erkannt werden, die früher als Verbrecher behandelt wurden oder frei umhergingen, und ferner, daß durch die sorgfältigere Behandlung die Lebensdauer der Kranken beträchtlich verlängert wird.
Die Behandlung der G. (s. Irrenanstalten, Psychiatrie) darf nicht darauf gerichtet sein, den Kranken durch Zureden oder logische Beweise das Ungereimte ihrer Ideen klarmachen zu wollen, da dieses Verfahren absolut nutzlos ist. Warme Bäder, geeignete körperliche Pflege, zuweilen Arzneimittel bilden die Grundlage der Behandlung; diese selbst sollte aber soviel wie möglich in einer darauf eingerichteten Anstalt erfolgen. Daß die Geisteskranken den Irrenanstalten übergeben werden, ist eine Notwendigkeit, der häufig von den Verwandten viel zu spät Rechnung getragen wird. Bis jetzt geschah dies aber in nicht wenig Fällen deshalb, weil man die Irrenanstalt fürchtete und in ihr ein Gefängnis vermutete, in das man seine Angehörigen nur mit Zagen brachte. Mit der Abschaffung des Zwanges durch Conolly, der auch die Zwangsjacken aus der Irrenbehandlung verbannte (Nonrestraint-System), haben auch die Anstalten selbst ein ganz andres Ansehen gewonnen: alles Gefängnisartige hat man abgeschafft, das Innere ist freundlicher und bequemer für die Kranken eingerichtet, so daß, abgesehen von dem Verschlossensein der Türen, die Irrenanstalt sich nicht viel von einem andern Krankenhaus unterscheidet. Dadurch ist das Vertrauen des Publikums in hohem Maße gestiegen; die Kranken werden zeitiger nach der Irrenanstalt gebracht und können häufiger von ihrer Krankheit geheilt werden als früher. Nachdem aber einmal durch das Nonrestraint gezeigt worden ist, daß die Irren (mit gewissen Einschränkungen) gleich andern Kranken behandelt werden können, so wird man sich auch daran gewöhnen, die Geisteskranken auch in jeder andern Hinsicht wie andre Kranke anzusehen, während früher eigentlich jedem Geisteskranken, der einmal in einer Anstalt gewesen war, immer ein gewisses Odium für sein ganzes Leben anhaftete, worunter die Armen gewiß oft mehr gelitten haben als unter ihrer frühern Krankheit.
Als Grundzug der neuern Irrenbehandlung tritt hervor die Humanität, während früher die Geisteskranken bald mit Hexenprozessen oder Scheiterhaufen verfolgt, bald mit Verbrechern in die Kerker zusammengeworfen und dort willkürlicher Grausamkeit und Brutalität preisgegeben wurden. Die immer mehr durchdringende Erkenntnis des Irreseins als einer Krankheit setzte es zunächst durch, daß die Gesellschaft in den Irren Menschen erkannte, denen sie Schutz und Hilfe schuldig ist, daß sie immer mehr zum Gegenstand ernstlicher Fürsorge von seiten des Staates und tieferer, zum Zweck der Heilung angestellter Forschung der Wissenschaft wurden.
Eine Statistik aller Nationen ergab, daß etwa 7–10 Proz. der Strafgefangenen geisteskrank sind. Die meisten Strafanstalten bringen die psychisch kranken Gefangenen im Lazarett unter. Die aus dem Zusammenleben mit nur körperlich kranken, dort verpflegten Sträflingen und aus der Unmöglichkeit der Durchführung der allgemein gültigen Disziplinarvorschriften sich ergebenden Übelstände hat man mit Erfolg dadurch beseitigt, daß man an einzelnen Gefängnissen besondere Abteilungen für irre Verbrecher einrichtete (Bruchsal, Waldheim, Moabit, Breslau, Halle a. S., Köln a. Rh., Münster i. W.). Kurzdauernde Psychosen, vorübergehende Erregungszustände können auf diesen Abteilungen bis zur Genesung nach psychiatrischen Grundsätzen behandelt werden. Besteht an dem betreffenden Gefängnis keine Irrenabteilung, so ist, trotz voraussichtlicher Heilbarkeit, eine Strafunterbrechung wünschenswert, um den Kranken möglichst rasch in eine Irrenanstalt zur Genesung zu bringen. Handelt es sich um eine unheilbare Psychose, so scheidet der Kranke aus der Strafrechtspflege aus und wird Objekt der Irrenfürsorge, d. h. der Heimatsbehörde zur dauernden Unterbringung in die Anstaltsbehandlung überwiesen. Sind die Abteilungen für irre Verbrecher im wesentlichen als Durchgangs- und Beobachtungsstation (für Simulanten, die sogen. wilden Männer) von größter Bedeutung, so eignen sie sich auch weiterhin zur Unterbringung der Grenzfälle, d. h. derjenigen Strafgefangenen, die zwar nicht geisteskrank sind, aber doch wegen ihrer abnormen psychischen Beschaffenheit zum gewöhnlichen Strafvollzug sich nicht eignen. Vgl. Bonhoeffes in der »Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie«, Bd. 6 (1899); Aschaffenburg in der »Ärztlichen Sachverständigen-Zeitung« 1903, Nr. 21.
Zur Verhütung von G. sind zunächst Heiraten unter zu G. angelegten Familien zu vermeiden. Da ferner die Seelenkrankheiten, zum mindesten die Anlage zu denselben, nicht selten erblich sind, so muß die Überwachung erblich Belasteter, namentlich sobald sich in gewissen Zeichen die ererbte Anlage kundgibt, auf das strengste gehandhabt werden. Jeder Überanstrengung des Gehirns, geistige und gemütliche Erregung ist zu vermeiden, dagegen soll die Ausbildung und Übung der körperlichen Kräfte begünstigt werden; es muß immer soviel wie möglich auf die einfachsten, geordnetsten äußern Verhältnisse, auf Fernhaltung leidenschaftlicher Erregungen, auf Unterordnung unter objektiv gegebene Verhältnisse hingewirkt werden. Sind bereits die Anzeichen einer Geisteskrankheit vorhanden, so ist das erste Erfordernis die ärztliche Beratung. Bis eine solche zur Stelle ist, ist wichtig die Abhaltung aller schädlichen Einflüsse, insbes. Beseitigung derjenigen Umstände, durch deren Zusammenwirken die Krankheit entstanden ist, daher vollständige Ruhe des Gehirns, Abhaltung der meisten auch sonst gewohnten, noch mehr natürlich aller stärkern, weil stets schädlichen Reize. Insbesondere ist der Versuch, durch Zureden und Ermahnungen, durch Versetzen in lärmende, rauschende Zerstreuungen entgegenzuwirken, bei manchen Kranken schädlich; der Kranke muß im Gegenteil in stille, friedliche und zugleich wohltuend ansprechende Außenverhältnisse gebracht werden; oft ist selbst die strengste Abschließung von allem Verkehr, ja sogar die Fernhaltung aller Ton- u. Lichteindrücke notwendig, das letztere besonders in frischen Erregungszuständen, zuweilen auch im Beginn und auf der Höhe der Melancholie. Diesen Anforderungen kann meist nur durch gänzliche Entfernung des Kranken aus seinen gewohnten Umgebungen, durch die Versetzung in völlig andersartige und neue Eindrücke entsprochen werden. Nur selten genügt hierzu ein bloßer Wechsel des Wohnortes, etwa ein Landaufenthalt in einfachen, ansprechenden Umgebungen. Für die leichtern Fälle psychischer Erkrankungen genügt der Aufenthalt in ärztlicher Leitung unterstehenden privaten (offenen) Nervenheilanstalten oder Sanatorien. Viel Unheil wird durch die kritiklose Unterbringung psychisch Kranker in sogen. Kaltwasserheilanstalten gestiftet. In allen schweren Fällen dagegen ist die Versetzung in eine Irrenanstalt die gewöhnlich am dringendsten angezeigte, oft die einzig und allein anzuratende Maßregel. Immerhin ist die Versetzung in eine Irrenanstalt, die einerseits bei bestehender Geistesstörung nicht frühzeitig genug erfolgen kann, anderseits doch nicht ohne wichtige Folgen für das spätere bürgerliche Leben des Kranken ist, stets ein wohl zu überlegender Schritt. Die erste und dringendste Veranlassung gibt immer ein Zustand des Kranken, wo er sich selbst oder andern gefährlich werden oder sonstige große Störungen verursachen kann, also der Ausbruch der Tobsucht oder dringende Zeichen ihrer Annäherung, ebenso der Hang zum Selbstmord, dem in Privatverhältnissen nie sicher begegnet werden kann, ebenso eine schwer zu überwindende Nahrungsverweigerung. Auch das Vorkommen von Sinnestäuschungen u. Wahnvorstellungen im Krankheitsbilde, bei anscheinend ruhigen Patienten, soll immer wegen des unberechenbaren Einflusses auf alle Handlungen zur Vorsicht mahnen. Manche Fälle von Epilepsie, verbunden mit Geistesstörungen, bedürfen der Anstaltsbehandlung dringend. Dagegen wäre es falsch, alle Geisteskranken unbedingt in Anstalten bringen zu wollen. Viele ruhige Kranke, bei denen die stürmischen Erscheinungen abgeklungen sind, solche mit sekundärem Schwachsinn etc., gestatten, bei geeigneter Verpflegung, Überwachung und Beschäftigung, den Aufenthalt in Privatverhältnissen.
Die direkte Behandlung der Geisteskranken in den Irrenanstalten ebenso wie außerhalb derselben ist eine somatische (körperliche) und eine psychische (auf geistigem Wege wirkende). Die somatische Behandlung geschieht, da es besondere Heilmittel gegen G. nicht gibt, nach allgemeinen medizinischen Regeln. Diätetische Maßregeln (Bettruhe, zweckmäßige und ausreichende Ernährung), Bäder, elektrische Behandlung spielen neben der medikamentösen (Beruhigungs- und Schlafmittel) die Hauptrolle. Das psychische Heilverfahren hat wesentlich zwei Ziele: es sollen die krankhaften Stimmungen, Gefühle und Vorstellungen, die jetzt die frühere gesunde Individualität zurückdrängen, gehoben und entfernt werden; anderseits soll wieder möglichst hingewirkt werden auf Wiederherstellung und Stärkung des alten Ich. In ersterer Beziehung ist die einzig richtige Methode die psychische Ableitung. Es muß allem, was mit dem Wahn des Kranken im Zusammenhang steht, ausgewichen und durch Arbeit und Zerstreuung gesunder Art der Geist desselben anderweitig in Anspruch genommen werden. Daher ist unter allen psychischen Mitteln, soweit nicht andre in der Krankheit begründete Tatsachen dagegensprechen, eine zweckmäßige Beschäftigung des Kranken das oberste und wichtigste. Hier muß sich die praktische Menschenkenntnis des Arztes bewähren im Durchschauen einer Persönlichkeit, in dem verschiedenen Anfassen der Individualitäten nach der Verschiedenheit der Charaktere, Neigungen, Gewohnheiten und Bildungsstufen, im Auffinden aller der Seiten, von denen aus der Kranke empfänglich ist. Garten- und Feldarbeit, häusliche und handwerksmäßige, der künstlerischen sich annähernde Beschäftigungsweisen sind je nach den Verhältnissen der Person anzuwenden, daneben angemessene geistige Beschäftigung durch Zerstreuungen, zweckmäßige Unterhaltung und Lektüre, allenfalls methodischer Unterricht; unter Umständen ist vernünftig gehandhabte religiöse Erbauung nicht gering zu schätzen, wenn sie nur nicht aufgedrungen wird. Über die äußern Beschränkungsmittel s. Irrenanstalten. Ist, von einer methodischen rationellen Behandlung unterstützt, der Krankheitsprozeß abgelaufen, die Geistesstörung erloschen, so sollen die Genesenen in möglichst allmählichen Übergängen wieder dem gewohnten bürgerlichen Leben zurückgegeben werden, und zwar mit um so größerer Vorsicht, als gerade im Gebiete der Seelenstörungen Rückfälle nicht zu den Seltenheiten gehören und mit der Häufigkeit der letztern die Aussichten auf eine endgültige Heilung sehr verringert werden. Soz. B. dürfte jemand, der vor seiner Krankheit eine sehr anstrengende geistige Tätigkeit gehabt hat, eine solche Tätigkeit nicht in dem frühern Umfang wieder aufnehmen, sondern müßte in dieser Hinsicht noch längere Zeit nach dem Verlassen der Anstalt als schonungsbedürftig bezeichnet werden.
Vgl. Esquirol, Die G. in Beziehung zur Medizin etc. (deutsch, Berl. 1838); Flemming, Pathologie und Therapie der Psychosen (das. 1859); Griesinger, Pathologie u. Therapie der psychischen Krankheiten (5. Aufl. von Levinstein-Schlegel, Braunschw. 1892), und Gesammelte Abhandlungen (Berl. 1876); Liman, Zweifelhafte Geisteszustände vor Gericht (das. 1869); Casper-Liman, Handbuch der gerichtlichen Medizin (8. Aufl., das. 1889, 2 Bde.); v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie (7. Aufl., Stuttg. 1903); Ziehen, Psychiatrie (2. Aufl., Leipz. 1902); Kräpelin, Psychiatrie (7. Aufl., das. 1904, 2 Bde.); Cramer, Gerichtliche Psychiatrie (3. Aufl., Jena 1903); Hoche. u.a., Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie (Berl. 1901). Zeitschriften: »Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie« (Berl., seit 1844); »Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten« (das., seit 1868); »Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie« (das., seit 1897); »Psychiatrische Wochenschrift« (Halle, seit 1899); »Journal of mental sciences« (London); »Annales médico-psychologiques« (Paris).
In rechtlicher Hinsicht wird Geisteskrankheit u. Geistesschwäche (s.d.) scharf unterschieden. Beide unterstellen einen geistigen Defekt und unterscheiden sich nur dem Grade nach dadurch, daß in dem einen Falle der geistig Erkrankte seine Angelegenheiten schlechthin nicht zu besorgen vermag (Geisteskrankheit), in dem andern Fall aber ihm nur die Fähigkeit zur selbständigen Besorgung, nicht aber die Fähigkeit zur Mitwirkung bei dieser Besorgung fehlt (Geistesschwäche). Wegen beiden kann entmündigt werden (§ 6 des Bürgerlichen Gesetzbuches), bei der Geisteskrankheit führt die Entmündigung jedoch zur Geschäftsunfähigkeit (§ 104), während sie im andern Falle nur zur beschränkten Geschäftsfähigkeit führt (§ 114). Beide erhalten einen Vormund (§ 1896), können aber auch sofort bei Beantragung der Entmündigung unter vorläufige Vormundschaft gestellt werden (§ 1906). Verfällt ein Ehegatte während der Ehe in Geisteskrankheit und dauert diese drei Jahre, so kann der andre Ehescheidung beantragen (§ 1569), muß ihm jedoch den Unterhalt gewähren (§ 1583). Geisteskranke können infolge ihrer Geschäftsunfähigkeit weder eine Ehe eingehen, noch ein Testament schließen, Geistesschwache dürfen nur mit Genehmigung ihres gesetzlichen Vertreters eine Ehe schließen (§ 1304), können nicht Vormund, Beistand, Pfleger, Schöffe, Geschworne etc. werden, können kein Testament errichten (§ 2229), keinen Erbvertrag schließen (§ 2275), es sei denn, daß es sich um Verlobte oder Ehegatten handelt. Geistesschwachen kann endlich nach § 57 a der Gewerbeordnung der Wandergewerbeschein versagt werden. Für den Schaden, den Geisteskranke oder Geistesschwache andern zufügen, haften diese nur, wenn sie im gegebenen Falle mit Einsicht gehandelt haben, es ist also ein Geisteskranker besonders für Schaden, den er während lichter Zwischenräume verursacht, haftbar. Dagegen können Eltern und Vormünder von Geisteskranken und Geistesschwachen aus ihrer Aufsichtspflicht für diese haften müssen, und endlich gibt § 829 aus Billigkeitsgründen, wenn z. B. der Beschädigte arm, der Schädiger reich ist, einen Anspruch auf Schadloshaltung gegen Geisteskranke und Geistesschwache. Strafrechtlich können Geisteskranke wegen strafbarer Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden, jedoch muß in jedem Falle gerichtlich festgestellt werden, ob bei Begehung der Tat die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (Strafgesetzb. § 51). Ob dies der Fall, muß nötigenfalls durch ärztliches Gutachten ermittelt werden. Die häufigen und oft sehr schwer zu entscheidenden Fragen über vorgebliche Geisteskrankheit (Simulation) sind nur auf Grund wiederholter und längerer Beobachtung zu beantworten. Die Deutsche Strafprozeßordnung (§ 81) bestimmt, daß zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Angeschuldigten das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach Anhörung des Verteidigers anordnen kann, daß der Angeschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde. Ist ein Angeschuldigter nach der Tat in Geisteskrankheit verfallen, so ist das Verfahren gegen ihn bis auf weiteres einzustellen (§ 203 der Strafprozeßordnung), ebensowenig darf nach der Militärstrafgerichtsordnung (§ 452, 455) wie nach der bürgerlichen Strafprozeßordnung (§ 485, 487) an Geisteskranken eine Freiheitsstrafe oder die Todesstrafe vollzogen werden. Der Mißbrauch einer geisteskranken Frauensperson wird mit Zuchthaus, bez. Gefängnis bestraft, ebenso eine Körperverletzung, die Geisteskrankheit des Verletzten herbeiführte. S. auch Entmündigung und Geschäftsfähigkeit. Vgl. Krafft-Ebing, Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem Zivilrichter (2. Aufl., Stuttg. 1900); Levis, Die Entmündigung Geisteskranker (Leipz. 1901); Berthan, Über den angebornen und früh erworbenen Schwachsinn. Geistesschwäche des Bürgerlichen Gesetzbuches (2. Aufl., Braunschw. 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.