- Medizīn
Medizīn (lat. Medicina, v. mederi. helfen, heilen; Heilkunde und Heilkunst), die Wissenschaft vom Menschen im gesunden und kranken Zustand und die Kunst, die Gesundheit zu erhalten, der Krankheit vorzubeugen und die Heilung zu fördern. Die heutige M. geht im Gegensatz zu den Heilbestrebungen älterer Zeiten, die lediglich auf rohe Empirie, zum großen Teil auch auf vorgefaßten Meinungen und Aberglauben fußten, von strengen naturwissenschaftlichen Grundlagen aus und sucht die Tatsachen und Methoden der Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, vor allem aber der Anatomie und Physiologie für das Verständnis und die Behandlung von Krankheiten nutzbar zu machen. Sie umfaßt daher eine Reihe ganz oder vorwiegend theoretischer Einzelfächer, wie z. B. die Anatomie, die Physiologie, die Bakteriologie, die Pharmakologie, außerdem aber eine Reihe von Disziplinen, die sich unmittelbar mit dem gesunden oder kranken Menschen befassen.
Die normale menschliche Anatomie, die als elementarste Grundlage allen medizinischen Wissens gelten muß, wird geübt und gelehrt durch Zergliederung von Leichen ohne Rücksicht auf etwaige krankhafte Befunde. Einen Einblick in den feinern Bau der Körpergewebe gewährt die Histologie, die Gewebelehre, die vermöge einer hochgesteigerten mikroskopischen Technik große Erfolge erzielt hat. Die Physiologie befaßt sich, unter Zuhilfenahme von Beobachtungen an Tieren, mit der Erforschung der normalen Lebensvorgänge. Für die Kenntnis des krankhaften Geschehens und zur nachträglichen Kontrolle der während des Krankheitsverlaufes gemachten Beobachtung sowie zur Kritik der getroffenen ärztlichen Maßregeln ist die pathologische Anatomie von größter Bedeutung. Von dem Aufschwung dieser Disziplin, die durch methodische Untersuchung der Leichen in den pathologischen Instituten der Universitäten und an entsprechenden Einrichtungen aller größern Krankenhäuser betrieben wird, datiert eine früher ungeahnte Entwickelung und Bereicherung aller Gebiete der praktischen M. Auch die Histologie hat bei der Erforschung krankhafter Vorgänge durch Aufdeckung feinerer Gewebsstörungen wertvolle Aufgaben zu erfüllen; sie führte zu dem grundlegenden Fortschritt, zur Zellularpathologie, die in den Körperzellen und deren veränderter Funktion den Sitz krankhaften Geschehens sucht. Dazu tritt die pathologische Physiologie, die durch Beobachtung am kranken Tier, unter Umständen am lebenden kranken Menschen theoretisch-wissenschaftliches Verständnis krankhafter Lebensäußerungen zu erreichen sucht.
Diese theoretischen Disziplinen dienen dem am Krankenbett tätigen Arzt als wertvolle Hilfsmittel der speziellen Pathologie und Therapie, d. h. der auf Beobachtung und Erfahrung aufgebauten Lehre von dem Wesen, den Erscheinungs- und Verlaufsformen und dem Heilverfahren bei den einzelnen Krankheiten. Nach gewissen Krankheitsgruppen hat sich hier die M. wieder in eine Anzahl von Einzelfächern gegliedert. Die große Zahl der Krankheiten innerer Organe, des Stoffwechsels, der Infektionskrankheiten wird als innere M. zusammengefaßt, der sich als eng verbundener Teil noch die Neurologie, die Lehre von den Nervenkrankheiten, anreiht. Die Chirurgie befaßt sich mit den durch operative Maßnahmen zu behandelnden Krankheiten äußerer und innerer Körperteile, ihr gliedert sich an die Orthopädie, die mechanische Korrektur von Formveränderungen der Gliedmaßen und des Skelettes überhaupt (infolge Knochenerkrankungen, Gelenkversteifungen etc.). Die Gynäkologie beschäftigt sich mit den Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane; andre Spezialfächer sind die Ohrenheilkunde (Otiatrie), die Augenheilkunde (Ophthalmologie), die Laryngologie oder Lehre von den Kehlkopferkrankungen, die Dermatologie, d. h. die Lehre von den Hautkrankheiten und die mit ihr meist verbundene Syphilidologie, die Lehre von der Syphilis und den andern Geschlechtskrankheiten. Die Psychiatrie endlich ist die Lehre von den seelischen Erkrankungen; sie ist trotz ihres besondern Arbeitsgebiets ein mit der Gesamtmedizin eng verbundener, nur nach medizinisch-wissenschaftlichen Methoden zu bearbeitender Wissenszweig. Als Staatsarzneikunde bezeichnet man den Teil des medizinischen Wissens, der auf die für das Gemeinwesen wichtigen Krankheiten, deren Verhütung und staatliche Überwachung durch die Medizinalpolizei Bezug hat. Auch die der Gerichtspflege dienende Gerichtliche M. gehört hierher.
Um am Krankenbett im Einzelfall den richtigen Weg einzuschlagen, sucht man durch Erhebung der Anamnese die Vorgeschichte des Leidens zu erfahren; der Erkennung der Krankheit dient die Diagnostik; diese setzt Vertrautsein mit den am Krankenbett sichtbaren Krankheitszeichen voraus. Die Lehre von den Krankheitszeichen im weitesten Sinn heißt Semiotik. Sie umfaßt die verschiedensten Erscheinungen, alle Sinne und zahlreiche Untersuchungsmethoden dienen ihr. Neben den einfachen Mitteln der Besichtigung, des Befühlens (Palpation) sind zu nennen die Mensuration (Messung), die Perkussion, die Auskultation (sogen. physikalische Untersuchungsmethoden), die Temperaturmessung, die Chemie der Körperabsonderungen, die Mikroskopie, die Anwendung der Röntgenstrahlen und zahlreiche andre, teilweise sehr komplizierte Untersuchungsmethoden. Auf die Diagnose baut sich das Heilverfahren (Therapie) auf. Eine Gruppe von Heilmitteln wird der M. von der Pharmakologie, der Arzneimittellehre, dargeboten, der Lehre von der Wirkung, richtigen Beschaffenheit und kunstgemäßen Anwendung (Rezeptierkunst) der Arzneimittel. Nicht minder wichtig sind diätetische Kuren und die physikalischen Heilmethoden. Zu letztern zählen die Wasserkur (Hydrotherapie), die Anwendung von Kälte und Wärme, das Lichtheilverfahren, die Elektrotherapie, die Anwendung von Röntgenstrahlen, der Massage, der Heilgymnastik, der pneumatischen Kuren, Freiluft- und klimatischen Kuren. Eine wertvolle Bereicherung hat die Therapie von seiten der Bakteriologie erhalten in der Serumtherapie. Während die Erfolge der Bakteriologie, der Lehre von den (krank machenden) Mikroorganismen, die meistens als ein Zweig der Hygiene betrieben wird, sich früher mehr auf dem Gebiete der Ätiologie (der Ursachenlehre) und der Prophylaxe (der Krankheitsverhütung) bewegten, hat die Immunitätsforschung unmittelbare Heilerfolge durch Darstellung der Heilfera erzielt, daneben durch Ausbau der Schutzimpfung auch die Prophylaxe weiter ausgestaltet. Die Bakteriologie gab auch den Anstoß zu der großartigen Entwickelung der operativen Behandlung, die mit den Methoden der Antisepsis und Asepsis arbeitet. Die erstere ermöglicht es, in infizierten Wunden die bakteriellen Zersetzungsprozesse einzuschränken; die letztere besteht in der völligen Fernhaltung aller Mikroorganismen von Operationswunden. Die Hygiene hat durch Erforschung der Lebensbedingungen Krankheiterregender Mikroorganismen die unerläßliche Grundlage aller gegen Seuchen erlassenen Gesetze und öffentlichen Maßnahmen zu liefern, abgesehen von den schon oben erwähnten Leistungen für die individuelle Prophylaxe und Therapie. Ferner begreift sie in sich die gesamte Lehre vom gesundheitsgemäßen Leben und erstreckt sich daher auf die Regelung aller Lebensverhältnisse nach wissenschaftlichen Grundlagen. Die Kleidung, die Nahrung, die Wohnung, die Bodenverhältnisse, die Beschaffung von Licht, Luft, Wasser, die Beseitigung vieler Schädlichkeiten des Kulturlebens, die Gewerbekrankheiten u. a. gehört in ihren Gesichtskreis.
Die sachgemäße Ausübung der M. liegt in der Hand der Ärzte, die durch gesetzlich geregeltes Studium mit fast allen Zweigen der M. bekannt gemacht werden. Ärzte, die auf der Grundlage medizinischer Allgemeinbildung auf einem bestimmten Gebiet der M. ausschließlich oder vorwiegend arbeiten, sind Spezialärzte. Zur Hilfeleistung in der Krankenpflege und bei minder wichtigen medizinischen Verrichtungen sind die Heilgehilfen und sonstiges niederes Heilpersonal berufen. Ein staatlich geordneter, auf die Geburtshilfe bezüglicher Lehrgang mit angefügter Prüfung ist Voraussetzung zur Approbation als Hebamme. Vgl. Medizinalpersonen, Medizinalwesen etc.
Geschichte der Medizin.
Rein empirische Bestrebungen zur Heilung von Krankheiten haben zu allen Zeiten unter dem Volk existiert, während die eigentliche M. als Beruf immer von einem bestimmten Stand gepflegt und weitergebildet wurde. Im Altertum stand die Heilkunst wesentlich mit dem religiösen Kultus im Zusammenhang, sie galt für eine den Priestern von der Gottheit gemachte Offenbarung, die sich durch Tradition weiter fortpflanzte. Die Agur-Weda von Susrutas ist das für die M. wichtigste Sanskritwerk. Bei den Griechen konzentrierte sich der Inbegriff alles ärztlichen Wissens auf Asklepios (Äskulap), einen Sohn des Apollon, und seine Tempel (Asklepien) waren lange Zeit die einzigen Orte, wo Kranke Genesung suchten. Die Heilmittel wurden den Kranken durch Träume offenbart, welche die Priester auslegten. Die tiefere Entwickelung der Heilkunde ging von Hippokrates (460 v. Chr.) aus, bei dem die Beobachtung in voller Reinheit und Konsequenz auftritt. Seine Schüler begründeten die dogmatische Schule, die zwar philosophische Theoreme und Spitzfindigkeiten in die M. hineintrug, aber auch neue Entdeckungen machte; Dogmatiker unternahmen zuerst größere Operationen. Seit 280 trat dem Dogmatismus die empirische Schule entgegen, welche die Hauptquelle ärztlicher Erkenntnis in der Beobachtung und Erfahrung suchte. Bei den Römern erhielt die Richtung des Asklepiades ihre theoretische Begründung durch die Schule der Methodiker. Themison von Laodikea (63) suchte die Krankheiten auf wenige Typen zurückzuführen und für jeden Typus eine einfache Heilindikation zu finden. Cornelius Celsus (30 v. Chr. bis 38 n. Chr.) lieferte eine im allgemeinen verständige Zusammenstellung und Kritik gleichzeitiger und früherer Lehren. Athenäos aus Kilikien (69) begründete die dynamische Lehre der Pneumatiker, die das Pneuma, das luftartige Prinzip, von dem alle Tätigkeit im Körper, Krankheit und Gesundheit, ausgehe, in den Vordergrund stellte. Sein Schüler Agatinos aus Sparta wich von der einseitigen Richtung des Meisters ab und schuf 90 die eklektische Schule, die letzte unter den ärztlichen Schulen des Altertums.
Am Ausgang der römischen Periode steht Galenos, der noch einmal das ganze medizinische Wissen des Altertums zusammenfaßte und sich besonders um die Theorie einzelner Krankheiten verdient machte. Noch für die Heilkunde des Mittelalters dienten seine Schriften als Grundlage und Ausgangspunkt. Von den Griechen gelangte die M. über Persien und Ägypten zu den Arabern. Der gelehrte Abu Jusuf Jakub ben Jzhak el Kindi (Alkindus) behandelte die Grade und Qualitäten der Arzneien nach mathematischen Prinzipien und nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie. Die Koryphäen der arabischen M., die im Orient noch heute als solche angesehen werden, waren im 10. und 11. Jahrh. Rhazes, Haly Abbas und Avicenna. Der »Kanon« des letztern galt bis ins 16. Jahrh. herab als das umfassendste und beste Lehrgebäude der M. Im Mittelalter geriet die M. in die Hände der Mönche, die wenig Förderliches geleistet haben. Erst die salernitanische Schule begann die M. von der hierarchischen Bevormundung und Klausur frei zu machen; die Mönche verwandelten sich nach und nach in Laienärzte, unter denen häufig auch Juden, namentlich als Leibärzte von Fürsten, erscheinen. Damals entstanden die ersten Medizinalgesetze, unter denen die des Kaisers Friedrich II. (1238) die wichtigsten sind. Mondini de Luzzi (Mundinus) zergliederte um diese Zeit zum erstenmal öffentlich zwei Leichname und führte damit die Anatomie in die Reihe der Universitätsstudien ein. Die Wiederbelebung, man kann fast sagen die Wiederentdeckung, und die rastlos fortschreitende Ausbildung der Anatomie trug wesentlich dazu bei, die Naturbeobachtung in ihr Recht zu setzen und sie von den Fesseln der Scholastik, wenn auch langsam und allmählich, zu befreien. Sylvius, Vesalius, Fallopio (gest. 1562), Eustachio (gest. 1579). Auch die Geburtshilfe blühte zu dieser Zeit auf; 1513 schrieb Rößlein »Der schwangern Frauen Rosengarten«, ein aus ältern Schriften kompiliertes, aber mit deutscher Sinnigkeit verfaßtes Hebammenbuch, das lange Zeit im Gebrauch blieb. In dieser Zeit kam auch zuerst die Gerichtliche M. auf, die aber erst später weitere Ausbildung fand.
Der skeptisch-kritische Ton wurde dem forschenden galenischen und arabischen System gegenüber besonders durch Paracelsus zu Hohenheim (gest. 1541) angeschlagen, welcher der Heilkunde eine ideale Richtung erteilte und die längst wankenden Pfeiler der Herrschaft Galenos' niederriß. Er suchte die Lebensvorgänge auf chemischem Wege zu erklären und wollte die Krankheiten auch auf chemischem Wege heilen. Die Krankheit war ihm ein parasitisches Wesen mit selbständigem Lebensprozeß im Schoß eines höhern Wesens. Dieser phantastische Zug begünstigte die Ausbildung einer mystischen M., die besonders durch die Rosenkreuzer vertreten wurde. Dagegen trat besonders Libavius in Halle auf, durch dessen Arbeiten die spagirischen Mittel der Paracelsisten ihrer geheimnisvollen Hüllen mehr und mehr beraubt wurden und die Chemie immer größern Einfluß auf die Heilkunde gewann. Unter den großen Philosophen des 17. Jahrh. haben vornehmlich Bacon von Verulam und Descartes, die beiden Hauptwortführer der Erfahrung und Spekulation, den entschiedensten Einfluß auf die Heilkunde ausgeübt. Namentlich bot letzterer durch seine Korpuskularlehre den dogmatischen Bestrebungen der Ärzte willkommenen Stoff dar, während der Einfluß des erstern erst später die starre Einseitigkeit der Schule überwinden half. Ehe dies aber geschah, führte der Dogmatismus in der M. noch das Zepter, indem er sich in zwei Schulen, die chemiatrische und iatromathematische, teilte. Die chemiatrische wollte die Chemie nicht nur zur Bereitung der Arzneien, sondern auch zur Erklärung des Lebens heranziehen, und zu Anfang des 17. Jahrh. wurden auf den Universitäten Lehrstühle der Chymiatria errichtet. Eine spiritualistische Gestaltung erhielt die Chemiatrie durch van Helmont (gest. 1644), der die Beseelung der ganzen Natur durch geistige Schöpfungskräfte lehrte. An der Spitze dieser Kräfte stand ihm das schaffende Prinzip der Natur, der Archeus und seine Therapie zielte auf Beruhigung und Zurechtleitung des erzürnten oder verirrten Archeus hin, wozu er geistige Einwirkungen und Arkana, aber auch Wein, Opium, Antimon- und Quecksilbermittel benutzte. Die iatromathematische oder iatromechanische Schule suchte das Leben aus den Gesetzen der Statik und Hydraulik zu begreifen und wollte die M. als einen Teil der angewandten Mathematik und mechanischen Physik angesehen und behandelt wissen. Um diese Zeit entdeckte Harvey (1578–1657) den Kreislauf des Blutes, verkündete das omne vivum ex ovo und wurde dadurch der Schöpfer der neuern Physiologie. Die Anatomie wurde durch die Anwendung des Mikroskops gefördert (Malpighi, Leeuwenhoek). Der größere Verkehr mit entfernten Weltteilen vermehrte die Erfahrungen über den klimatischen Unterschied der Krankheiten, und auch der Beobachtung der Epidemien und der epidemischen Konstitution wurde größere Aufmerksamkeit zugewendet nach dem Vorgang von Sydenham (1624–89), der, die Idee des Lebens in ihrer ganzen Reinheit fassend, die dem Leben entfremdete Heilkunde wieder auf den Weg der Natur leitete.
Die Heilkunde des beginnenden 18. Jahrh. fand ihre beiden Koryphäen in Halle vereinigt. Stahl (1660 bis 1734) fand den immateriellen Grund des Lebens in einer Seele, die den Körper nur als Werkzeug benutzt und durch ihre Energie Empfindung und Ernährung bewirkt. Hoffmann (1660–1742) suchte in der M. alles physisch und mechanisch zu erklären. Neben diesen beiden gewann Boerhaave (1668–1738) großen Einfluß, indem er alle Resultate der Naturwissenschaften für die M. zu verwerten suchte, dabei namentlich auf die mechanischen Entdeckungen großen Wert legte und in der »Faser« den allgemeinen Organbestandteil fand, der durch seine Spannung und Erschlaffung die meisten Krankheitszustände verursacht. Albrecht v. Haller (1708–77), der sich um Anatomie und Physiologie große Verdienste erwarb, stellte die Lehre von der Irritabilität auf und verschaffte dadurch der von Glisson begründeten Solidartheorie einen mächtigen Vorsprung. Diese Theorie sah der humoralen und mechanischen gegenüber das Leben und dessen Erscheinungen vorzugsweise in den festen Teilen, namentlich den Muskeln und Nerven begründet. Haller bezeichnete die Irritabilität als Grundkraft und Lebenstätigkeit der Muskeln und unterschied von ihr eine besondere Nervenkraft, die dann bald als alleiniger Inhaber und Beherrscher alles Lebens im Organismus angesehen wurde, eine Ansicht, die besonders Cullens (1710–1790) vertrat. Die Humoralpathologie, durch van Swieten gestiftet, erreichte ihren Höhepunkt in Stoll, der den Sitz krankhafter Tätigkeit vorzugsweise im Unterleib erblickte, dessen entartete Säfte und Unreinigkeiten durch Brechmittel zu beseitigen seien. Eine neue Epoche begründete John Brown (1735–1788), der alle Lebenserscheinungen als Produkte der Außendinge oder Reize betrachtete und nur Krankheiten der Sthenie und Asthenie unterschied; er ermittelte den Grad derselben und bestimmte hiernach das Maß der Reize, durch das die Erregung vermindert oder vermehrt werden sollte. Gegenüber solchen Verirrungen hielten Männer wie Frank (1745 bis 1821) in seinen »Epitome de curandis hominum morbis« und Reil (1758–1813) in seinem gefeierten Werke »Über die Erkenntnis und Kur des Fiebers« an der Natur fest, und Hufeland (1762–1836) bekämpfte die Lehre Browns mit unermüdlicher Geduld. 1796 vollzog Jenner die erste Schutzimpfung gegen Pocken.
In den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrh. hat sich die M. unverkennbar in ein harmonischeres Verhältnis zu den Naturwissenschaften gesetzt, aber in kaum geringerm Grade machte sich die Einwirkung philosophischer Anschauungen und Systeme noch auf die M. geltend. Einen großen Einfluß gewann Schellings Naturphilosophie. An diese knüpften sich mehrere Theorien der Heilkunde, vor allem auch die Homöopathie, der von Mesmer gelehrte tierische Magnetismus und die Gallsche Kranioskopie (Phrenologie). Eine radikale Umwälzung der M. ging von Frankreich aus. Hier begründete Bichat (1771–1802) die allgemeine (mikroskopische) Anatomie, die alsbald in allen Ländern Europas mit Erfolg bearbeitet wurde und sich zu einer der einflußreichsten und bedeutungsvollsten Wissenschaften gestaltete. Corvisart (1755–1821) und Laënnec (1781–1826) begründeten die physikalische Diagnostik, indem ersterer die von Auenbrugger in Wien 1761 erfundene, aber vollständig in Vergessenheit geratene Perkussion zum Gemeingut der Ärzte machte und Laënnec die Auskultation erfand. Cruveilhier, Chomel, Andral und Louis errichteten sodann die pathologisch-anatomische Schule, welche die Hauptaufgabe des Arztes in die Aufsuchung der pathologisch-anatomischen Veränderungen und in die Erforschung der lokalen Krankheitsprodukte verlegte und einen außerordentlichen Einfluß auf die Umgestaltung der wissenschaftlichen Methoden und der Anschauungen in der Heilkunde ausübte. Rokitansky verpflanzte die pathologisch-anatomische Richtung nach Wien und brachte mit Virchow, dem Begründer der Zellularpathologie, die pathologische Anatomie auf ihre heutige Höhe. Die Physiologie war inzwischen mit Hilfe des Mikroskops, der chemischen Analyse und des Experiments zu wichtigen Entdeckungen gelangt. Wurde sie beschuldigt, zum Teil allzu materiell geworden zu sein, so fehlte es doch nicht an Bemühungen, z. B. von seiten Burdachs, sie wieder auf den Standpunkt zu versetzen, wo sich Körper- und Seelenleben an Einem Gedanken aufbauen, und wo der Körper als das Resultat der in ihm wohnenden Seele erscheint. Eine neue Richtung entwickelte sich in der Pathologie durch die naturhistorische Schule, an deren Spitze Schönlein (1793–1864) stand. Auf die schon seit Platon wiederholt ausgesprochene Ansicht, daß die Krankheit eine eigentümliche, niedere Lebensform, ein im Organismus parasitisch wurzelnder Lebensprozeß sei, gründete Schönlein ein nosologisches System, das analog dem Linnéschen Pflanzensystem die Krankheiten gruppierte, ihre anatomischen und physiologischen Charaktere in möglichster Vollständigkeit berücksichtigte, auch ihre geographische Verbreitung etc. ins Auge faßte. Durch die experimentellen Arbeiten von Orfila, Magen die u. a. erhielt auch die Toxikologie eine neue Bedeutung, während Diätetik und Hygiene nur spärlich ausgebaut wurden. Auch die Therapie hat sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrh. nur selten in einer Achtung und Vertrauen einflößenden wissenschaftlichen Richtung gezeigt. Dagegen trat um jene Zeit eine neue medizinische Doktrin. die Seelenheilkunde, in die Geschichte ein und gelangte bald zu einer imponieren den Selbständigkeit.
Werfen wir zuletzt einen Blick auf die letzten Jahre, so muß man gestehen, daß die Leistungen, welche die Jünger der M. in den verschiedenen Doktrinen während dieser Zeit zustande gebracht haben, von größerm Umfang und größerer Tragweite sind als alles, was die beiden vorhergehenden Jahrtausende aus Licht befördert haben. Die M. unsrer Tage unterscheidet sich von der aller vergangenen Zeiten dadurch, daß die aprioristische philosophische Spekulation gänzlich aus ihr verbannt ist, und daß man sich nur noch an dasjenige hält, was die gefunden fünf Sinne und eine nüchterne Reflexion an die Hand geben. Die innige Verbindung, welche die Naturwissenschaften mit der M. eingegangen sind, hat reiche Früchte für die letztere getragen. Die Anatomie hat mit Hilfe vervollkommter Mikroskope, nachdem die Entdeckung der Pflanzenzelle durch Schleiden von Schwann für den Tierkörper als gleichfalls richtig nachgewiesen und damit der Forschung mit einem Schlag ein ungeheures Gebiet eröffnet worden war, die Struktur der feinsten Körperteilchen in das rechte Licht gesetzt; die Physiologie hat sich dieser Forschungen bemächtigt, und in Verbindung mit der gleichfalls enorm fortgeschrittenen Chemie, von der sich die physiologische Chemie als eine selbständige Wissenschaft abgezweigt hat (Gorup-Besanez, Hoppe-Seyler u. a.), sowie mit Hilfe der physikalischen Wissenschaften ist sie dahin gelangt, die Lebensvorgänge vielfach schon auf exakte chemische und physikalische Gesetze zurückzuführen, und das geheimnisvolle Agens, was man früher Lebenskraft nannte, ist ganz aus der Wissenschaft verschwunden. Die Pathologie ist seit allgemeiner Einführung der Perkussions- und Auskultationskunst und ebenfalls der chemischen Untersuchungsmethode um höchst wertvolle Untersuchungsmittel bereichert worden, so daß wiederum auch dadurch eine wesentliche Erweiterung unsers Gesichtskreises eingetreten ist. Die Augenheilkunde hat seit Entdeckung des Augenspiegels durch Helmholtz geradezu wunderbare Fortschritte gemacht, die Ohrenheilkunde hat sich ebenfalls zu einer vollberechtigten Spezialwissenschaft erhoben, während durch den Kehlkopfspiegel auf dem Gebiete der Kehlkopfkrankheiten ebenfalls Vorzügliches geleistet wird. Die auf Rokitanskys Schultern ruhende und durch Virchow ausgebaute pathologische Anatomie hat auch den innern Arzt vom Standpunkte des Empirikers losgelöst und ihn auf eine feste, wissenschaftliche Basis gestellt. Aber alle Fortschritte, so großartig wie sie immer waren, sie werden in den Schatten gestellt durch die Arbeiten von Pasteur, Lister, Koch. Pasteur wies nach, daß in der Luft Keime enthalten seien, Lister operierte darauf in desinfizierter Luft, er lehrte uns die Antiseptik. Nachdem sich, in weiterer Erkenntnis der Ursachen der Eiterung, aus der Antiseptik die Aseptik entwickelt hatte, die folgerichtig nicht die verunreinigte Wunde wieder reinigen, sondern die Wunde von vornherein vor jeder Verunreinigung, d. h. auch Infektion, schützen will, feiert die Chirurgie Triumphe, die man früher für völlig unmöglich gehalten haben würde. Während Dieffenbach noch erklärte, daß der Arzt, der eine Ovariotomie vornehme, auf die Anklagebank gehöre, und Langenbeck wegen der steten Mißerfolge bei Erwachsenen eine Kniegelenkresektion zu machen widerriet, werden heute Hunderte von Ovariotomien ohne einen Todesfall, Kniegelenkresektionen mit vorzüglichstem Erfolg gemacht, ja man dringt bei Gehirnverwundung in das Gehirn ein, entfernt Fremdkörper und heilt die Verletzten. Die Pasteur-Listerschen Arbeiten ergänzte nun Robert Koch in der glücklichsten Weise. Durch sein Verfahren, die Mikrobien auf Platten, in festem Nährboden zu züchten, und durch die Entdeckung, daß gewisse Bakterien die einmal angenommenen Anilinfarben nicht wieder abgeben, während man sonst das tierische Gewebe färben und entfärben kann, gelang es, die einzelnen Bakterien in »Reinkulturen« zu isolieren, sie zu studieren. So fand Koch den Tuberkelbazillus, den Cholerabazillus und gab dadurch die Mittel an die Hand, die Choleraepidemien fernzuhalten und die Tuberkulose zunächst wenigstens einzuschränken. Durch die Bakteriologie ist die innere M. vor ganz neue Aufgaben gestellt, die sie mit dem größten Eifer und Glück in Angriff genommen hat. Als Koch sah, daß die pathogenen Bakterien Stoffe absondern, in denen sie selbst untergehen müssen, faßte er den Gedanken, mit dem von dem Tuberkelbazillus produzierten Gift die Tuberkulose zu heilen. Wenn auch die Versuche nicht sogleich Erfolg hatten, so hatten sie doch gezeigt, daß der eingeschlagene Weg der richtige sei. Auf Kochs Versuchen basierend, ist es Behring gelungen, gegen Diphtherie ein Heilmittel zu finden, indem er als solches das Blutserum von Tieren verwendet, die er gegen das Diphtheriegift unempfänglich gemacht hat. Die Sterblichkeit bei Diphtherie ist bei Behandlung mit diesem Mittel gut um die Hälfte heruntergegangen und die Serumtherapie hat in der Folge weitere bedeutende Erfolge erzielt. Zum großen Teil auf der Basis der Bakteriologie wurde die öffentliche Hygiene, die Lehre von der Volksgesundheit, eine Wissenschaft, wenn auch außer der Bakteriologie noch eine Reihe andrer Faktoren dazu beigetragen hat. Durch die großen Fortschritte der Chemie wurde die Therapie mächtig gefördert; wir erwähnen nur das Chloralhydrat, die Salizylsäure, das Antipyrin, das Kokain, das Lanolin etc., von denen einige nicht zufällig entdeckt, sondern infolge scharfsinniger Kombinationen hergestellt wurden.
[Literatur.] Sprengel, Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneikunde (3. Aufl., Halle 1821 bis 1828, 5 Bde.); Hecker, Geschichte der Heilkunde (Berl. 1822–29, 2 Bde.); Wunderlich, Geschichte der M. (Stuttg. 1859); Häser, Lehrbuch der Geschichte der M. und der epidemischen Krankheiten (3. Aufl., Jena 1875–82, 3 Bde.) und Grundriß der Geschichte der M. (das. 1884); Baas, Geschichtliche Entwickelung des ärztlichen Standes und der medizinischen Wissenschaften (Berl. 1895); Rohlfs, Geschichte der deutschen M. (Stuttg. u. Leipz. 1875–83, 4 Tle.); Petersen, Hauptmomente in der geschichtlichen Entwickelung der medizinischen Therapie (Kopenh. 1877); A. Hirsch, Geschichte der medizinischen Wissenschaften in Deutschland (Münch. 1893); Puschmann, Geschichte des medizinischen Unterrichts (Leipz. 1889); Ebstein, Die M. im Alten Testament (Stuttg. 1901) und Die M. im Neuen Testament und im Talmud (das. 1903); Pagel, Geschichte der M. (Berl. 1898, 2 Tle.); »Deutsche M. im 19. Jahrhundert«, Säkularartikel der Berliner klinischen Wochenschrift, herausgegeben von Ewald und Posner (das. 1901–02, 2 Bde.); Neuburger und Pagel, Handbuch der Geschichte der M. (Jena 1903–05, 3 Bde.); Biernacki, Die moderne Heilwissenschaft, Wesen und Grenzen des ärztlichen Wissens (Leipz. 1901); Bartels, Die M. der Naturvölker (das. 1893); Littré, Dictionnaire de médecine, etc. (21. Aufl., Par. 1905); »Nouveau dictionnaire de médecine et de chirurgie pratiques« (hrsg. von Jaccoud, das. 1864–86, 40 Bde.); »Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales« (hrsg. von Dechambre, 1864–89, 100 Bde.); Eulenburgs »Realenzyklopädie der gesamten Heilkunde« (3. Aufl., Wien 1894–1900, 26 Bde.), zu welcher Eulenburgs »Enzyklopädische Jahrbücher der gesamten Heilkunde« (das., seit 1891), das »Biographische Lexikon der hervorragendsten Ärzte« (hrsg. von Gurlt und A. Hirsch, das. 1884–88, 6 Bde.) und Pagels »Biographisches Lexikon etc. des 19. Jahrhunderts« (das. 1901, 5 Tle.) eine Ergänzung bilden; Villaret, Handwörterbuch der gesamten M. (:t. Aufl., Stuttg. 1897–1900, 2 Bde.); Guttmann, Medizinische Terminologie (Wien 1902, 3 Tle.); Canstatt, Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte in der gesamten M. (Würzb. 1851–65, fortgesetzt von Virchow und Hirsch). Weiteres beim Artikel »Arzt«. Zeitschriften: »Archiv für Anatomie und Physiologie« (Leipz., seit 1877); Virchows »Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische M.« (Berl., seit 1847); Langenbecks »Archiv für klinische Chirurgie« (das., seit 1860); »Deutsches Archiv für klinische M.« (Leipz., seit 1864); »Zeitschrift für klinische M.«; »Deutsche medizinische Wochenschrift« (das., seit 1875); »Berliner klinische Wochenschrift« (Berl., seit 1864); »Münchener medizinische Wochenschrift« (Münch., seit 1854); »Wiener medizinische Wochenschrift« (Wien, seit 1851); »Jahrbuch der praktischen M.« (Stuttgart); »Archives générales« (Paris); »L'Union médicale«; »La Presse médicale Belge«; »Transactions of the Royal Medical Society« (London); »The Lancet«; »British medical Journal«; »New York medical Times and medical Record«; »Il Morgagni«; »Archivio per le scienze mediche«; »Janus. Archives international es pour l'histoire de la médicine et la géographie médicale« (Amsterdam).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.