Descartes

Descartes

Descartes (spr. däkart'), René (Renatus Cartesius), der Begründer der neuern dogmatisch-rationalistischen Philosophie und der scharfsinnigste Denker der Franzosen, geb. 31. März 1596 zu La Haye in Touraine als Sohn eines Parlamentsrats, gest. 11. Febr. 1650 in Stockholm, zeigte früh eine ungemeine Lebhaftigkeit des Geistes, kam im achten Jahr ins Jesuitenkollegium zu La Flèche, wo er bis 1612 blieb, und lebte während der nächsten Jahre, besonders mit mathematischen Studien beschäftigt, zumeist in Paris. Um Erfahrungen in der Welt zu sammeln, nahm er, 21 Jahre alt, Kriegsdienste und machte unter Moritz von Oranien und Tilly Kriegszüge in Holland und Deutschland mit, focht in der Schlacht am Weißen Berg (8. Nov. 1620) unter Buquoy gegen die Böhmen und unter demselben Heerführer in Ungarn gegen die Türken, beschäftigte sich aber im stillen eifrigst mit wissenschaftlichen Arbeiten und trug sich bereits damals mit dem Vorsatz, der Forschung neue, unanfechtbare Grundlagen zu schaffen. Nachdem er 1621 seinen Abschied genommen, brachte er die nächsten Jahre teils auf Reisen, zumeist in Deutschland und Italien, teils in Paris zu und ging, um völlige Muße zur Ausarbeitung seines Systems zu finden, 1629 nach Holland, wo er 20 Jahre in Verborgenheit an 13 verschiedenen Orten verweilte und nur in regem wissenschaftlichen Verkehr mit der Prinzessin Elisabeth von der Pfalz, Tochter des Königs Friedrich von Böhmen und der Elisabeth von England, stand. Während dieser Zeit verfaßte er die meisten und bedeutendsten seiner Werke, von denen er jedoch solche, durch die er mit der Geistlichkeit in Konflikt kommen konnte, wie die Schrift »De mundo«, lange zurückhielt. Er fand bald Anhänger und erbitterte Gegner und wurde von der gelehrten Königin Christine (1649) nach Schweden eingeladen, um ihr Lehrer in der Philosophie zu sein. Diesen Ruf nahm er an, erlag aber dem ungewohnten nordischen Klima. Seine Leiche wurde 1661 nach Paris gebracht und in der Kirche Ste. – Geneviève du Mont beigesetzt.

Obwohl D. durch seine mathematischen und physikalischen Entdeckungen einer der Väter der neuern Physik geworden ist, galt ihm doch nicht, wie seinem Zeitgenossen Bacon, die äußere, sondern die innere Erfahrung als der Ausgangspunkt unsers Wissens. Die Ergebnisse der sinnlichen Erfahrung sind dem Zweifel unterworfen; man kann überhaupt an allem zweifeln, nur nicht daran, daß wir zweifeln, d. h., da Zweifeln ein Denken ist, daran, daß wir denken. Mit meinem Denken ist aber meine Existenz gegeben: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum), ich bin also denkendes Wesen; ob auch noch als körperliches etc., bleibt vorläufig dahingestellt. Unter meinen Vorstellungen findet sich nun eine, die ich ihrer ganzen Beschaffenheit nach nicht selbst gebildet haben kann, die mir vielmehr gegeben sein muß, da sie eine vollere Realität in sich trägt, als ich in mir selbst habe, wonach die Existenz des Gebers so notwendig gewiß ist wie meine eigne. Das ist die Idee Gottes, eines vollkommensten Wesens, eines unbeschränkten Seins, die dem Gefühl der Beschränktheit meines eignen Seins gerade entgegengesetzt ist, daher von Gott selbst in mir verursacht sein muß. Sie ist mir ebenso eingeboren wie die Vorstellung, die ich von mir selbst habe. Den ursprünglich von Anselmus von Canterbury vorgebrachten ontologischen Beweis bildet D. so um, daß er sagt: Gott ist das schlechthin vollkommenste Wesen; zu den Vollkommenheiten gehört auch die Existenz, also hat Gott Existenz. Ein andrer Beweis für das Dasein Gottes bei D. ist der: mein eignes Dasein ist nur zu erklären durch die Annahme der Existenz Gottes; denn wäre ich durch mich selbst, so würde ich mir alle Vollkommenheiten gegeben haben, bin ich aber durch andre, Eltern, Voreltern etc., so muß es doch, da ein regressus in infinitum nicht anzunehmen ist. eine erste Ursache, d. h. Gott, geben. Unter Gottes Eigenschaften, d. h. Vollkommenheiten, findet sich nun die Wahrhaftigkeit, aus der sich mit Bestimmtheit ergibt, daß alles, was ich klar und deutlich erkenne, wahr sei. Wäre das nicht der Fall, so müßte mich Gott selbst täuschen wollen, was seinem Begriff widerspricht. Die Vorstellung der äußern Welt und der Natur ist nun nicht nur in meinem Geiste vorhanden und zwar so, daß, wenn ich auch wollte, ich mich ihrer nicht entschlagen könnte, sondern sie ist auch eine klare und deutliche, so daß die ausgedehnte Welt wirklich existiert. Dieses Ausgedehnte heißt Körper oder Materie. Bei sorgfältiger Reflexion über den Begriff des Körpers finden wir, daß die Natur der Materie nicht in sinnenfälligen Eigenschaften besteht, da jede solche Eigenschaft von dem Körper hinweggedacht werden kann, sondern lediglich in der Ausdehnung. Der Körper hat Ausdehnung, die Seele aber keine, daher besteht zwischen beiden ein diametraler Unterschied, der zur Folge hat, daß, während der Körper zerstört werden kann, die Seele unverwüstlich, d. h. unsterblich ist. Im eigentlichen Sinne darf nur Gott Substanz heißen, d. h. das, was so existiert. daß es keines andern Dinges zum Existieren bedarf; im abgeleiteten Sinne kann man auch von körperlicher und denkender Substanz reden, die beide keines andern Dinges als Gottes zur Existenz bedürfen. Der Materie kommen nur Ausdehnung und Modi der Ausdehnung zu, keine Kräfte; Druck und Stoß genügen, um die Erscheinungen in der Natur zu erklären. Die letzten Bestandteile der Materie sind kleinste Körperchen, verschieden an Gestalt und Größe (corpuscula), deren Teilung, da sie ausgedehnt sind, durch Gott immer noch denkbar ist. Materie und Bewegung bleiben in ihrer Quantität unverändert; das Quantum der Bewegung im Körper kann die Seele nicht vermehren oder vermindern, nur die Richtung der Bewegung kann sie verändern. Den Tieren kommt keine denkende Seele zu, alles in ihnen geschieht ausschließlich nach mechanischen Gesetzen, so daß sie D. als belebte Maschinen ohne jedes Gefühl, also auch ohne jeden Schmerz ansah. Im Menschen kommen die ausgedehnte Substanz, Körper, und die denkende Seele, deren Sitz in der Zirbeldrüse, als dem einzigen unpaarigen Organ im Gehirn, sein soll, zusammen; sie würden aber, als vollständig voneinander verschieden, gar nicht in Beziehung zueinander stehen können, wenn nicht Gott die angemessene Übereinstimmung zwischen ihnen herstellte, immer schaffend und vermittelnd (concursus oder assistentia Dei), eine Behauptung, die D.' Schüler Geulincx (s.d.) auf die Hypothese des Okkasionalismus (s.d.) leitete. Ethische Ansichten hat D. nur beiläufig in seinen Schriften, namentlich in dem Buch »De passionibus« und in seinen Briefen, besonders in dem »De summo bono« an die Königin Christine, geäußert. Er schließt sich in der Ethik meist an die Stoiker und Aristoteles an: Glückseligkeit ist das Ziel; sie geht hervor aus dem konsequenten guten Willen oder der Tugend. – D. vollzog eine entscheidende Tat, indem er als erste Bedingung von Philosophie aussprach, daß sie alle gegebene Erkenntnis, jede Voraussetzung von sich zu weisen habe (Kartesianischer Zweifel), um aus dem schlechthin Gewissen durch Denken die Welt der Wahrheit völlig neu sich aufzubauen. Von dem festen Punkte, den ihm das Selbstbewußtsein gewährt, ausgehend, hat er auf die weitere Entwickelung der Philosophie großen Einfluß ausgeübt. Obwohl er der Metaphysik volles Recht einräumte, hat er doch auf dem Gebiete der Natur den Mechanismus viel strenger durchgeführt als der etwas früher lebende Francis Bacon, so daß sich spätere Materialisten auf ihn berufen konnten. Sein System erregte lebhaften Widerspruch bei Philosophen, insbes. aber bei Theologen. Hobbes, Gassendi, Huet, Daniel Voetius u. a. traten als D.' Gegner auf, verfolgten ihn z. T. fanatisch, klagten ihn des Skeptizismus und Atheismus an und erwirkten sogar in manchen Ländern, wie in Italien 1643, in Holland durch die Dordrechter Synode 1656, Verbote gegen seine Philosophie als eine gefährliche. Dagegen fand D. Anhänger in Holland und Frankreich, besonders unter den Jansenisten von Port-Royal und den Mitgliedern der Congrégation de l'Oratoire. Vornehmlich suchten De la Forge, Arnauld, Pascal, Malebranche, Geulincx u. a. sein System weiter zu entwickeln. Die Logik von Port-Royal: »L'art de penser«, von Arnauld und Nicole unter Benutzung einer Abhandlung von Pascal 1662 herausgegeben, ist im ganzen cartesianisch.

Um die physiologische und psychologische Anthropologie hat sich D. trotz mehrerer Irrtümer manche Verdienste erworben; doch größerer und dauernderer Ruhm gebührt ihm als Mathematiker. Er erfand die Methode der unbestimmten Koeffizienten, gab eine Regel, um die Anzahl der positiven und der negativen Wurzeln einer algebraischen Gleichung aus dem Vorzeichen der Koeffizienten der Gleichung zu erkennen und entwickelte eine auf eine ausgedehnte Klasse von Kurven anwendbare Methode zum Ziehen von Tangenten; sein Hauptverdienst ist aber die Begründung der analytischen Geometrie, die es ermöglicht, die Eigenschaften jeder ebenen Kurve durch eine Gleichung zwischen zwei veränderlichen Größen, den Koordinaten, auszudrücken. Zwar besaß Fermat diese Koordinatenmethode auch schon, aber D. hat sie zuerst durch eine zusammenhängende Darstellung in seiner »Géometrie« (1637, mit Kommentar von Schooten, Leid. 1649; deutsch von Schlesinger, Berl. 1894) der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Auch seine »Dioptrique« (1639), die zuerst das von Snellius entdeckte Gesetz der Brechung der Lichtstrahlen beim Übergang aus einem Mittel in ein andres darlegte und die großen Entdeckungen von Newton und Leibniz vorbereitete, ist ein bleibendes Denkmal seines großen Verdienstes um die exakten Wissenschaften. Die nach ihm benannten Kartesianischen Teufel (s.d.) sind eine Spielerei. In seinen kosmogonischen Versuchen wollte er, ähnlich wie Demokrit und dessen atomistische Nachfolger, die Bewegung der Himmelskörper, d. h. also die Schwerkraft, durch Wirbel erklären, die in Strömungen des das Weltall erfüllenden Äthers bestehen sollten, eine Theorie, die von Leibniz aufgenommen und verbessert wurde.

D.' Hauptschriften sind: »Discours de la méthode pour bien conduire la raison et chercher la vérité dans les sciences« (zugleich mit seinen Abhandlungen über die Dioptrik, die Meteore und die Geometrie, Leid. 1637; lat. 1641); »Meditationes de prima philosophia etc.« (Amsterd. 1641; hrsg. von Barach, Wien 1862); »Principia philosophiae« (Amsterd. 1641); »Traité des passions« (das. 1650; lat., das. 1656); »Traité de l'homme et de la formation du foetus« (das. 1668, lat. 1677). Wertvoll ist auch die Sammlung seiner Briefe (Frankf. a. M. 1692). Eine Ausgabe seiner sämtlichen Werke in lateinischer Sprache erschien zuerst Amsterdam 1670–1683 u. daselbst 1692–1701: in französischer Sprache herausgegeben von V. Cousin (Par. 1824–26, 11 Bde.) und von Aimé-Martin in 1 Band (Par. 1881). Eine neue Gesamtausgabe besorgten Adam und Tanwery (bisher 6 Bde., Par. 1897–1903). Von Foucher de Careil sind »Œuvres inédites de D.« (Par. 1859 bis 1860) und »D., la princesse Elisabeth et la reine Christine, d'après des lettres inédites« (1879) veröffentlicht worden. Deutsche Übersetzungen von philosophischen Hauptschriften des D. haben K. Fischer (Mannh. 1863) und v. Kirchmann (Berl. 1870 u. ö.) veranstaltet. Sein Leben beschrieben Tepelius (Nürnb. 1674), Bayle (Amsterd. 1681) und Baillet (Par. 1691). Vgl. Millet, D., sa vie, ses travaux, ses découvertes avant 1637 (Münch. 1867); Derselbe, D. etc. depuis 1637 (das. 1871); Bouillier, Histoire et critique du Cartésianisme (das. 1842); Derselbe, Histoire de la philosophie cartésienne (3. Aufl., das. 1868); Hock, Cartesius und seine Gegner (Wien 1835); Heinze, Die Sittenlehre des D. (Leipz. 1872); Koch, Die Psychologie D.' (Münch. 1881); Liard, Descartes (Par. 1882); Meincke, D.' Beweise vom Dasein Gottes (Heidelb. 1883); v. Stein, Über den Zusammenhang Boileaus mit D. (in der »Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik«, 1885); Natorp, D.' Erkenntnistheorie (Marb. 1882); v. Hertling, D.' Beziehungen zur Scholastik (Münch. 1899).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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