- Nervenkrankheiten
Nervenkrankheiten, alle Krankheiten des Gehirns, des Rückenmarks, des Sympathikus und der peripherischen Nerven, von denen nur die Geisteskrankheiten (s. d.) ausgenommen sind. Als Neurosen trennt man von dem allgemeinen Begriff der N. eine Krankheitsgruppe ab, die nicht mit greifbaren anatomischen Veränderungen des Nervensystems einhergeht, sondern lediglich aus funktionellen Störungen des Seelenlebens sowohl als der Empfindungs- und Bewegungsvorgänge besteht; hierher gehört das große Gebiet der Nervenschwäche (Neurasthenie), der Hysterie, der Epilepsie. Übergänge zu den eigentlichen Geisteskrankheiten sind hier sehr häufig. Es beruht diese funktionelle Schwäche des Gesamtnervensystems zum Teil auf konstitutioneller Grundlage (s. Artikel »Nervenschwäche«). Neben diesen allgemeinen funktionellen Neurosen gibt es auch lokalisierte, bei denen nur ein einzelnes Nervengebiet affiziert ist, wie bei den Beschäftigungsneurosen, z. B. beim Schreibkrampf. Da aber die Symptome, z. B. Schmerz, Krampf, Lähmung, sowohl bei diesen funktionellen Neurosen als auch bei anatomisch wahrnehmbaren Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarkes und der peripherischen Nerven in gleicher Weise vorkommen, so kann nur ein Arzt im gegebenen Fall Ort und Art einer Nervenkrankheit erkennen. Bei vielen N. finden sich zunächst Störungen der Empfindung, und zwar 1) Abnahme der Gefühlswahrnehmung (Anästhesie), welche die empfinden den Endapparate, d.h. den Tastsinn, betrifft, oder den Drucksinn, der uns über die Schwere der Körper unterrichtet, oder den Muskelsinn, der uns die Lage und Haltung unsers Körpers zum Bewußtsein bringt und die Kraft abschätzt, mit der wir zu den verschiedenen Zwecken unsre Hände und Füße in Tätigkeit zu setzen haben. Die Anästhesie kann durch Erkrankung der empfindenden Endapparate entstehen oder auch im Verlaufe der Nervenbahn, z. B. durch eine Geschwulst oder Druck auf den Nervenstamm, oder sie kann endlich zentralen Ursprungs sein, d.h. von einem Leiden des Gehirns (Blutungen etc.) oder des Rückenmarks (Rückenmarksschwindsucht etc.) ihren Ausgang nehmen. Die Erscheinungen beginnen mit dem leichtesten Taubsein und können sich zur vollen Gefühllosigkeit, zuweilen mit Ameisenkriechen, oft verbunden mit heftigen Schmerzen, Ernährungsstörungen der gefühllosen Teile, steigern. Es kommt vor, daß in einem Hautbezirk die Tastempfindung aufgehoben ist, trotzdem aber durch die vorhandene Krankheit Schmerzen in demselben ausgelöst werden (schmerzhafte Gefühllosigkeit, Anaesthesia dolorosa). Behandlung und Heilungsaussichten bei der Empfindungslähmung sind je nach der Ursache sehr verschieden, bei den zentral gelegenen Erkrankungen (Rückenmarkskrankheiten) sind die Heilungsaussichten meist gering. 2) Nervenschmerzen (s. d.) oder Neuralgien, die meist mit Unterbrechungen auftreten, sehr heftig, bohrend, stechen d, reißend sind. Die bekanntesten Formen dieses Leidens sind der Gesichtsschmerz, die Ischias oder das Hüftweh, der habituelle Kopfschmerz (s. d.) und die Gelenkneurose. Auch diese Schmerzen können Erscheinungen sehr verschiedener Krankheiten sein und von verschiedenartigen Stellen des Nervensystems aus entstehen. Schmerz bei funktionellen Erkrankungen (Hysterie) zeigt oft sehr wechselnde Ausbreitungsgebiete, bei Erkrankungen der aus dem Rückenmark austretenden Nervenwurzeln ist der zugehörige Hautbezirk schmerzhaft, bei Erkrankung der peripheren Nervenstränge der diesen zugeordnete, mit dem Wurzelgebiet nicht übereinstimmende Hautbezirk.
Weitere Symptome von N. betreffen die Bewegung. Hierher gehört 1) die Lähmung. Betrifft sie nur ein einzelnes Glied (ganz oder teilweise), so spricht man von Monoplegie, Hemiplegie ist die Lähmung einer Seite des Körpers, Paraplegie die Lähmung beider Seiten (z. B. beider Beine). Im Großhirn liegen die Fasern der Bewegungsnerven für eine Körperseite nahe beieinander, jedoch weit entfernt von jenen der andern Körperseite; ein umschriebener Krankheitsherd (Bluterguß, Geschwulst) kann daher hier leicht die Bewegungsnerven einer Seite zerstören und Hemiplegie erzeugen. Dies ist beim Schlaganfall die Regel. Monoplegie findet sich besonders, wenn entweder in der Großhirnrinde die ein bestimmtes Glied beherrschende umschriebene Stelle erkrankt oder der periphere Nervenstamm, der zu diesem Glied hinzieht. Im Rückenmark sind die Bewegungsnerven beider Körperhälften nahe zusammengedrängt; Rückenmarkskrankheiten führen daher besonders zu Paraplegien. Namentlich die reinen Rückenmarkslähmungen sind oft von einem auffallenden Muskelschwund begleitet, ein Umstand, der auf einen eigentümlichen Einfluß der grauen Rückenmarkshörner auf die Ernährung der Muskeln hinweist. Ist der gelähmte Teil leicht bewegtich durch den untersuchenden Arzt, so liegt eine schlaffe Lähmung vor; wenn der gelähmte Muskel einen gewissen Widerstand entgegensetzt, so ist die Lähmung eine spastische, d.h. krampfartige. Über die einzelnen Krankheitsbilder vgl. Lähmung. Hierher gehören 2) die Krämpfe, d.h. Reizerscheinungen im Gebiete der Bewegungsnerven, die sich in Bewegungen der Muskeln kundgeben, die ohne den Einfluß des Willens, ja gegen denselben zustande kommen (s. Schreibkrampf). Man unterscheidet die in einzelnen Zuckungen bestehenden klonischen Krämpfe von den tonischen, bei denen eine mehr dauernde Zusammenziehung der Muskeln besteht. Unter mannigfachen technischen Bezeichnungen unterscheidet man: a) epileptiforme Konvulsionen, bei denen der ganze Körper in stoßende oder schüttelnde Krämpfe gerät (s. Epilepsie); b) rhythmische Zuckungen in einzelnen Muskelgebieten, die in regelmäßigem Tempo erfolgen, z. B. nach Gehirnschlag; c) Zitterbewegungen, wie sie bei chronischem Alkoholismus (s. Trunksucht), bei der Paralysis agitans vorkommen (s. Lähmung); d) einzelne Zuckungen, die vom Rückenmark ausgehen; e) fibrilläre Muskelzuckungen, die keine Bewegungen auslösen, sondern nur in kleinen Gruppen von Muskelfasern sich abspielen und in atrophierenden Muskeln beobachtet werden; f) choreatische Bewegungen (s. Veitstanz); g) athetotische (»gesetzlose«) Bewegungen, d.h. langsam ablaufende, meist an den Händen vorkommende Spreizungen mit nachfolgendem krampfartigen Zusammen- oder Übereinanderlegen der Finger, die bei Gehirnerkrankungen, häufig neben einseitigen Lähmungen, besonders bei Kindern, vorkommen; h) Zwangsbewegungen, die sich als Lachkrämpfe, Schreikrämpfe, Weinkrämpfe, in Fällen schwerer Erkrankungen oder Verletzungen der Gehirnrinde auch in drehenden, wälzenden, überschlagenden Bewegungen des ganzen Körpers äußern; i) tonische Krämpfe kommen bei den verschiedensten N. vor, besonders ausgeprägt finden sie sich beim Wundstarrkrampf; man bezeichnet die tonische Zusammenziehung eines Muskels als Kontraktur; hierher gehört auch die bei Hysterie vorkommende kataleptische Starre, ein Zustand, bei dem die Muskeln nicht dem Willen unterliegen und in der Stellung, in die sie durch einen andern gebracht werden, verharren. 3) Störungen der Koordination der Bewegungen (Ataxie), wobei die Muskeln zwar ihre volle Kraft noch besitzen, aber ihr harmonisches Zusammenwirken gestört ist. Die Ataxie wird besonders bei Krankheiten des Kleinhirns und des Rückenmarks (Tabes) beobachtet. 4) Störungen der Reflexerregbarkeit, die entweder im Verschwinden der Reflexerscheinungen sich äußert, so daß z. B. beim Kitzeln der Fußsohlen, Stechen mit einer Nadel keine reflektorischen Bewegungen erfolgen, wie man es bei Lähmungen des Rückenmarks an Haut und Sehnen (Sehnenreflexe, s. Kniephänomen) antrifft, oder anderseits in abnorm starker Erregbarkeit bestehen, so daß die reflektorischen Bewegungen sehr stark, unter Umständen in klonischen Krämpfen erfolgen. 5) Als vasomotorische oder trophische Neurosen faßt man eine Gruppe von N. zusammen, die in ihrem Wesen noch wenig bekannt sind, wahrscheinlich aber in besonders naher Beziehung zum sympathischen Nervengeflecht stehen. Hierher gehört die Migräne (s. d.), ferner die einseitige Gesichtsatrophie (Hemiatrophia facialis) und manche Wachstumstörungen der Haut und der Glieder. Daß Wachstum und Ernährung der Gewebe vom Nervensystem abhängig sind, geht namentlich aus den Beobachtungen über Muskelatrophie (s. d.) hervor, die Gewebe bedürfen, wie bei den Muskeln am deutlichsten kenntlich, der Verbindung mit Nervenzentren, um in richtigem Ernährungszustand zu bleiben.
Vgl. Erb, Handbuch der Krankheiten der peripheren cerebrospinalen Nerven (2. Aufl., Leipz. 1876); Pierson, Kompendium der Krankheiten des Nervensystems (das. 1876); Strümpell, Krankheiten des Nervensystems (3. Aufl., das. 1904); Gowers, Handbuch der Nervenkrankheiten (deutsch von Grube, Bonn 1892, 3 Bde.); Goldscheider, Diagnostik der Krankheiten des Nervensystems (2. Aufl., Berl. 1897); Krafft-Ebing, Über gesunde und kranke Nerven (5. Aufl., Tübing. 1903); Baelz, Binswanger u.a., Erkrankungen des Nervensystems (Bd. 5 von Pentzoldt-Stintzings »Handbuch der Therapie innerer Krankheiten«, 3. Aufl., Jena 1903); Eulenburg u.a., Die Krankheiten des Nervensystems (Bd. 4 von Ebsteins »Handbuch der praktischen Medizin«, Stuttg. 1900) und Allgemeine Therapie der Krankheiten des Nervensystems (Wien 1899); Bernhardt, Die Erkrankung der peripherischen Nerven (2. Aufl., das. 1902–04, 2 Tle.); »Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde« (Leipz., seit 1891).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.