- Orthopädīe
Orthopädīe (v. griech. orthos, »gerade«, und paideia, »Erziehung«), diejenige medizinische Wissenschaft, welche die Verkrümmungen des menschlichen Körpers, d.h. die dauernden Abweichungen der einzelnen Teile desselben von ihrer normalen Form und Richtung, zu erkennen, zu beurteilen, zu verhüten und zu behandeln lehrt. Die Verkrümmungen sind angeboren, oder sie werden erst nach der Geburt im Verlauf des weitern Lebens erworben. Im erstern Falle handelt es sich um Entwickelungsfehler und Entwickelungshemmungen, die zum Teil ererbt sein können, oder um Entwickelungsstörungen, hervorgerufen durch Verwachsungen des Amnion (Eihaut) mit dem Fötus oder durch mangelndes Fruchtwasser und dadurch bedingten zu starken Druck der Uteruswandung gegen die Leibesfrucht. Die Folgezustände dieser Entwickelungsstörungen sind die Selbstamputationen und Störungen in der Entwickelung der Gelenke (intrauterine Belastungsdeformitäten). Endlich entstehen noch angeborne Deformitäten durch Erkrankung des Fötus selbst, speziell des Zentralnervensystems. Als Ursachen der erworbenen Deformitäten kommen in einer geringen Anzahl frische Verletzungen (Brüche oder Verrenkungen) mit ihren unmittelbaren Folgezuständen in Betracht (traumatische Deformitäten), meist liegen jedoch die Ursachen in primären Erkrankungen des Skelettsystems oder der es umgebenden Weichteile (Muskulatur, Haut). Danach unterscheiden wir zwei große Gruppen von Deformitäten, die als Belastungsdeformitäten und Kontrakturen bezeichnet werden. Auch ohne Knochenerkrankung, nur durch einen von außen auf die Knochen zu stark lastenden Druck, wie z. B. durch das Korsett oder durch Tragen fehlerhaft gebauter Schuhe, entstehen eine Reihe von Verunstaltungen des Skelettsystems (vestimentäre Belastungsdeformitäten). Die Knochenkrankheiten, die schwere Verbildungen des Skeletts veranlassen, sind vorzugsweise die Tuberkulose, die akute Knochenmarksvereiterung, die Rachitis, die Knochenerweichung und Knochengeschwülste. Durch diese Krankheiten verliert der Knochen seine normale Festigkeit und Dichtigkeit und wird durch den Zug der sich an ihm befestigenden Muskeln oder durch den Druck des auf ihn lastenden Körpergewichts abgebogen (entzündlich osteopathische Belastungsdeformitäten). So entsteht durch tuberkulöse Einschmelzung der Wirbelkörper der Pottsche Buckel, bei der Rachitis verbiegen sich die Extremitätenknochen unter der Last des Körpers in mannigfaltiger Weise. Ebenso wie in den Knochen, kann auch in den Gelenken der Sitz der Erkrankung gelegen sein, welche die Verbiegung der Knochen veranlaßt. Akute und chronische Gelenkentzündungen (Rheumatismus, Gicht, Tuberkulose, Arthritis deformans) bringen hier den Belastungsdruck erst zur Wirksamkeit. Es kommt zu bleibenden Veränderungen an den Gelenkflächen, und mit der Zeit wird die ganze Form der betreffenden Knochen wesentlich verändert, indem an einzelnen Stellen Knochensubstanz verschwindet, an andern Stellen eine krankhafte Neubildung am Knochengewebe stattfindet (arthropathische Belastungsdeformitäten).
Weitere Deformitäten entstehen durch Erkrankung und Schrumpfung der Weichteile (Kontrakturen). Bei größern Substanzverlusten der Haut und nach träglicher Schrumpfung entstehen fehlerhafte Stellungen der Glieder (Schiefhals, gewisse Formen von Klumpfuß). Häufiger als die durch die Hauterkrankung veranlaßten und als dermatogene Kontrakturen bezeichneten Verkrümmungen sind die durch Schrumpfung der Muskulatur entstehenden Deformitäten (myogene Kontrakturen). Diese Verkürzung der Muskulatur kann durch Gewohnheit veranlaßt sein, z. B. wird zum Ausgleich eines zu kurzen Beines der Fuß in Spitzfußstellung gebracht, wodurch die Ursprungs- und Ansatzpunkte der Wadenmuskulatur dauernd einander genähert gehalten werden und schließlich sich dann diese Muskelgruppe nutritiv verkürzt (Gewohnheitskontrakturen). Dann sind es akute und chronische Entzündungen oder schwerere Zirkulationsstörungen der Muskulatur, die zu Muskelkontrakturen führen. Meist sind jedoch die Kontrakturen solche, die vom Nervensystem ausgelöst werden (neurogene Kontrakturen). Man unterscheidet reflektorische, spastische und paralytische Kontrakturen; zu letzterer Form gehört z. B. die spinale Kinderlähmung. Endlich spricht man von arthrogenen Kontrakturen, wenn Schrumpfung der Bänder, Kapsel, des Synovialüberzugs von einem bestimmten Gelenk die Ursache darstellt. Nicht selten führen die Weichteilkontrakturen schließlich zu einer festen Verwachsung der Gelenkenden untereinander (Ankylose).
Alle Teile des menschlichen Körpers sind Sitz von Verkrümmungen. Als die wichtigsten und häufigsten sind zu nennen: der Schiefhals (Caput obstipum, Torticollis), die pathologisch verstärkte Abweichung der Wirbelsäule nach vorn (Lordosis), nach hinten (Kyphosis) und nach der Seite (Skoliosis), verbunden mit mehr oder weniger hochgradiger Deformität des Brustkastens und des Beckens, die Verbiegungen des Schenkelhalses (Coxa vara und valga) und der langen Röhrenknochen durch englische Krankheit (femur varum und crus varum), das X-Bein (genu valgum) und das O-Bein (genu varum), ferner der Klump- und der Plattfuß, der Pferde- und der Hackenfuß und endlich die mannigfaltigen durch Lähmungen (Kinderlähmung etc.) hervorgerufenen Kontrakturen an den Extremitäten und die angebornen Hüftgelenksverrenkungen.
In den Anfangsstadien sind alle Deformitäten durch eine zweckmäßige Behandlung vollkommen oder doch bis zu einem gewissen Grade heilbar. Es kommt deshalb alles darauf an, die Verkrümmungen möglichst frühzeitig zu erkennen und in Behandlung zu nehmen. Je jünger der Kranke, je geringer die Verkrümmung selbst ist, um so günstiger sind die Aussichten, mit einfachen Maßnahmen eine Heilung herbeizuführen. Hat das Übel schon längern Bestand und sind bei Verkrümmungen z. B. in den Gelenken schon schwere organische Veränderungen der Knochen, Zerstörungen und feste Verwachsungen eingetreten, dann ist eine Heilung nur noch durch größere operative Eingriffe zu erzielen, meist aber mit stärkerer Beweglichkeitsstörung der erkrankten Gelenke. Günstiger ist es, wenn die fehlerhafte Stellung der Knochen nur durch Muskelkontrakturen bedingt sind.
Die Aufgabe der O. besteht in kunstgemäßer Behandlung der Verkrümmungen, in der Entfernung der Ursachen und in der Wiederherstellung der natürlichen Richtung des erkrankten Gliedes. Stellt man normale statische Verhältnisse an den deformen Knochen her (Redressement), so erhalten die Knochen und Weichteile wieder ihre wohlgeformte Gestalt. Zu diesem Redressement bedient man sich zunächst der gymnastischen Übungen mit elektrischer Reizung der mangelhaft tätigen Muskeln, der Massage, besonderer Apparate und maschineller Vorrichtungen, andrer redressierender Manipulationen mit nachheriger Fixation im Gipsverband und endlich auch blutiger Operationen. Gymnastische Übungen kommen zur Verwendung, wo eine Schwäche der Muskulatur die Ursache der Verbiegung ist. Sowohl die schwedische Heilgymnastik, die Massage, die durch Kneten, Streichen und Klopfen der Muskeln auf diese zu wirken sucht, als auch besondere zweckentsprechende Freiübungen üben den heilsamsten Einfluß auf gewisse Verkrümmungen (speziell der Wirbelsäule) aus. In andern Fällen muß man nach Redression der Verkrümmung das richtig gestellte Glied durch Verbände, insbes. Gipsverbände, für kürzere oder längere Zeit fixieren oder sogen. Extensionsverbände anlegen. Letztere suchen Druck und Zug in der entgegengesetzten Richtung von derjenigen, in der die Verkrümmung selbst hervorgebracht wurde, auf das betreffende Glied einzuwirken. In neuerer Zeit hat der Mechaniker Hessing (s. d.) in Göppingen Apparate aus Leder und Stahl herzustellen gelehrt, die, wenn auch recht kostspielig, Ausgezeichnetes leisten, vorzüglich sitzen und unauffällig unter den Kleidern getragen werden können. Sie bestehen aus Lederhülsen, die das kranke Glied umgeben und durch mit Gelenkverbindungen versehenen Seitenschienen aus Stahl untereinander verbunden sind. Das kranke Gelenk oder der gebrochene Knochen wird dadurch sicher festgestellt, wobei der nicht zu umgehende Druck auf das kranke Gebiet auf eine größere Fläche verteilt wird. Außerdem ist durch Zug eine Entlastung der kranken Stelle und Schmerzlosigkeit zu erreichen. Endlich ermöglichen die Apparate Bewegung im Freien und erlauben den nicht erkrankten benachbarten Gelenken volle Beweglichkeit. Die Hessingschen Apparate vermögen deshalb, unter verständiger ärztlicher Kontrolle und Leitung an. gewendet, in geeigneten Fällen ganz Ausgezeichnetes zu leisten. Von den chirurgischen Operationen kommt am häufigsten in Anwendung die von einem ganzen Hautstich auszuführende (subkutane) Durchschneidung verkürzter Sehnen (Tenotomie). Vorzugsweise wird sie geübt beim Schiefhals und dem Klumpfuß. Nach der ganz ungefährlichen Durchschneidung der Sehne wird das betreffende Glied gerade gestellt und durch Verband bis zu seiner Heilung fixiert. In gleicher Weise werden auch verkürzte Muskeln (z. B. bei der sogen. Littleschen Krankheit, einer angebornen spastischen Lähmung der Beine) subkutan durchschnitten (Myotomie). Ebenso wie verkürzte Sehnen verlängert werden können, gelingt es auch, die gedehnten Sehnen partiell gelähmter Muskeln zu verkürzen und die Funktion der Muskeln wiederherzustellen. In neuerer Zeit sind durch eine als Sehnentransplantation bezeichnete Operation speziell bei schlaffen Lähmungen große Erfolge erzielt und gelähmte Glieder wieder gebrauchsfähig gemacht worden. Das Prinzip dieser Operation besteht darin, daß man die Sehnen gesunder, aber für die Funktion des betreffenden Gliedes nicht so wichtiger Muskelgruppen auf die Sehnen der gelähmten Muskeln überpflanzt, wodurch dann später die vorher nicht möglichen Bewegungen des Gliedes von den überpflanzten Muskeln ausgeführt werden können. Von andern Operationen sind noch zu erwähnen die Einrenkung (Reposition) von angebornen Hüftgelenksverrenkungen, die gewaltsame Streckung von Gelenkkontrakturen (speziell des Kniegelenks) ohne oder mit vorausgehender Durchschneidung der verkürzten Weichteile, das Zerbrechen (Osteoklasie) verkrümmter Knochen oder schief geheilter Knochen, die Durchmeißelung (Osteotomie) von verkrümmten Knochen, die Ausschneidung eines kranken Gelenks (Resektion), bei der man durch Fettlappenimplantation vollkommen knöchern verwachsene Gelenke wieder beweglich machen kann (Arthrolyse), die Anfrischung der Gelenkenden und Vereinigung derselben durch Naht bei Schlottergelenken, um in diesen Fällen eine feste Verwachsung zu erhalten (Arthrodese), u.a.m. Die Geschichte der O. reicht bis auf Hippokrates zurück, die Blüte der neuen O. wurde aber erst in den letzten Jahrzehnten durch englische, amerikanische und ganz besonders durch deutsche Chirurgen herbeigeführt; unter den letztern sind besonders Wolff, Schede, Hoffa, Lorenz u.a. bahnbrechend gewesen. Hessing verdankt man die verschiedensten Schienenhülsenapparate sowie mannigfache Stützvorrichtungen für die Wirbelsäule. Vgl. Andry, L'orthopédie (Par. 1741, 2 Bde.); Schildbach, Die Skoliose (Leipz. 1872); Landerer, Mechanotherapie (das. 1894); Lüning und Schultheß, Atlas und Grundriß der orthopädischen Chirurgie (Münch. 1900); Gocht., Orthopädische Technik (Stuttg. 1901); Hoffa, Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie (5. Aufl., das. 1905) und Die orthopädische Literatur (mit Blencke, das. 1905). S. auch Heilgymnastik.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.