- Lippe [2]
Lippe (nicht L.-Detmold), deutsches Fürstentum, zwischen der Weser und dem Teutoburger Wald gelegen (s. Karte »Braunschweig etc.«), im NW., W. und S. von dem preußischen Regbez. Minden, im NO. von dem zu Hessen-Nassau gehörigen Kreis Rinteln (früher kurhessische Grafschaft Schaumburg), im O. von der Provinz Hannover (Fürstentum Kalenberg) und dem Fürstentum Waldeck (Pyrmont) begrenzt, bildet ein wohl abgerundetes Gebiet, abgesehen von drei kleinen Enklaven: Kappel und Lipperode im preußischen Kreis Lippstadt, Grevenhagen im Kreis Höxter. Das Fürstentum ist größtenteils reichbewaldetes Berg- und Hügelland. Die ganze Südwestgrenze wird vom Teutoburger Wald eingefaßt (höchster Punkt die Völmerstod, 468 m; außerdem die Grotenburg bei Detmold, 385 m hoch, mit dem Hermannsdenkmal); im SO. erreicht der Köterberg 502 m Höhe. Die Erhebungen des Teutoburger Waldes gehören der Kreideformation und dem Muschelkalk an, im W. nimmt der Lias eine größere Fläche ein, im übrigen Lande herrscht die Keuperformation vor, die hier und da vom Muschelkalk durchbrochen und an einzelnen Stellen vom Tertiär überlagert wird. Metalle, außer Schwefelkies und Raseneisenstein, sind nicht vorhanden; an einzelnen Stellen findet sich Braunkohle und bituminöser Schiefer. Mineralbäder gibt es in Meinberg und Salzuflen, an letzterm Orte auch eine Saline. Von Flüssen berührt die Lippe nur die Enklave Lipperode, die Weser nur die nördliche Spitze des Landes. In letztere fließen die Werre, Exter, Kalle, die im Lande entspringen; die Emmer durchströmt den südöstlichen Teil desselben. Das Klima ist gesund und verhältnismäßig mild (im Mittel 9,8°). Das Areal des Fürstentums beträgt 1215,2 qkm (22,1 QM.), die Bevölkerung (1900) 138,952 Seelen (114,4 auf 1 qkm). Sie gehört zum niedersächsisch-westfälischen Stamm; die Sprache der Landbevölkerung ist die plattdeutsche. Dem religiosen Bekenntnis nach waren 1. Dez. 1900 Reformierte und Lutheraner 132,708, Katholiken 5157, Juden 879. Hinsichtlich der geistigen Kultur und des Volksunterrichts steht L. auf hoher Stufe. Es bestehen 2 staatliche Gymnasien, in Detmold und Lemgo, von denen ersteres mit einer lateinlosen Realschule verbunden ist, eine städtische Realschule in Salzuflen, eine städtische Knabenmittelschule in Lage, 7 sogen. Rektorschulen, 126 Elementarschulen mit über 250 Lehrern, 11 katholische und 10 israelitische (Religions-) Schulen, außerdem ein Landesseminar, 2 höhere Töchterschulen, eine Taubstummenschule und verschiedene obligatorische Gewerbe-, Fortbildungsschulen, eine landwirtschaftliche Winterschule in Lage, eine Tischlerfachschule und eine Baugewerkschule in Detmold.
Das Acker- und Gartenland nimmt (1906) 53,1 Proz., die Wiesen 6,9, die Weiden 8,6 und die Waldungen 27,6 Proz. des Areals ein. Das wichtigste Gewerbe im Land ist die Landwirtschaft, gehoben durch einen landwirtschaftlichen Hauptverein mit verschiedenen Nebenvereinen. Geerntet werden vornehmlich Roggen, Hafer, Weizen und Kartoffeln. Beim Jagdschloß Lopshorn ist das bekannte »Sennergestüt«. Die Rindvieh- und Schweinezucht ist nicht ohne Bedeutung. Der Viehstand belief sich 1. Dez. 1900 auf 9485 Pferde, 38,296 Rinder, 16,306 Schafe, 86,237 Schweine und 36,406 Ziegen. Die Forsten umfaßten 1900: 33,488 Hektar, darunter waren 14,082 Hektar Kronforsten und 1125 Hektar Staatsforsten; sie bestehen meist aus Hochwald; es überwiegt das Laubholz (insgesamt auf 77,9 Proz. der Forstfläche), vornehmlich Buchen. Ausgeführt werden von Landesprodukten: Holz, Sandsteine, weißer Sand, Garn, Leinwand, Getreide, Schlachtvieh, Wolle, Pferde. Eigentümlich dem Lande ist das Zieglergewerbe. Alljährlich im Frühling ziehen etwa 15,000 Ziegler zum Ziegeleibetrieb in die deutschen und außerdeutschen Lande bis nach Schweden, Ungarn und Südrußland und kehren mit ihrem Verdienst im Herbst zurück. Industrie existiert nur in geringem Umfang; bei Salzuflen ist die Stärkefabrik von Hoffmann u. Komp. als die größte auf dem Kontinent bemerkenswert. Außerdem gibt es eine Papierfabrik in Dalbke, mehrere Papiermühlen, verschiedene Tabak- und Zigarrenfabriken, Bierbrauereien, Webereien, Öl- und Sägemühlen, Ziegeleien, eine Zuckerfabrik. Lemgo ist bekannt durch seine Meerschaumpfeifenköpfe. Die zum fürstlichen Domanium gehörige Saline in Salzuflen produziert jährlich etwa 10,000 dz Salz (1903: 10,144 dz). Eine Eisenbahn von Herford nach Altenbeken durchzieht das Land in westöstlicher Richtung und berührt die Städte Salzuflen, Lage, Detmold und Horn-Meinberg; eine zweite, die Bielefeld mit Hameln verbindet, berührt die lippeschen Städte Lage, Lemgo und Barntrup. Gemeinnützige Landesinstitute sind: die auf Gegenseitigkeit gegründete Landesbrandkasse (seit 1752), Landeswitwen- und Waisenkasse, Leih- und Sparkasse, das Landes kranken- und Siechenhaus, die Irrenanstalt in Brake, die Taubstummenanstalt in Detmold u.a.m.
Die zu Recht und in anerkannter Wirksamkeit bestehende Verfassung datiert vom 6. Juli 1836, nachdem das in den Stürmen von 1849 eingeführte Wahlgesetz durch Verordnung vom 15. März 1853 wieder aufgehoben worden ist. Durch Gesetz vom 8. Dez. 1867 ist den Landständen eine entscheidende Stimme bei der Gesetzgebung verliehen. Am 3. Juni 1876 ist ein neues Wahlgesetz zustande gekommen, wonach die nach Steuerstufen in drei Klassen gegliederten Wähler in direkter, geheimer Wahl 21 Abgeordnete wählen; die Legislaturperiode beträgt vier Jahre. Die höchste Landesbehörde ist das Staatsministerium, dem die höhern Verwaltungs- und Justizbehörden untergeordnet sind. Die höhere Landesverwaltungsbehörde ist das Regierungskollegium. Das Land wird in 13 Ämter (s. unten) eingeteilt, die zugleich je eine Amtsgemeinde bilden. Zurzeit sind dieselben wieder in vier Verwaltungsämter geteilt, an deren Spitze ein Amtshauptmann, bez. Landrat steht. Der aus den Vorstehern der Dorfgemeinden, etwaigen im Bezirk wohnenden Rittergutsbesitzern und Domänenpächtern zusammengesetzte Amtsgemeinderat beschließt unter Vorsitz des Beamten in Verwaltungsangelegenheiten (Polizei- und Armenwesen, Wegebau etc.). Die sieben Städte (Detmold, Lemgo, Horn, Blomberg, Salzuflen, Lage, Barntrup) haben eigne Verwaltung und Polizei. Die Städteordnung vom 18. April 1886 regelt die Verwaltung der Stadtgemeinden und des Fleckens Schwalenberg. Die Stadtverordneten werden in drei Klassen nach dem Betrag der direkten Gemeinde- oder Staatssteuern gewählt. Das Fürstentum bildet einen eignen Landgerichtsbezirk mit dem Landgericht in Detmold, als Oberlandesgericht fungiert kraft Staatsvertrags vom 4. Jan. 1879 das preußische Oberlandesgericht in Celle. Es bestehen neun Amtsgerichte. Die Enklave Lipperode-Kappel gehört zum preußischen Amtsgericht Lippstadt. Für Bauerngüter besteht Unteilbarkeit und Anerbenrecht. Das Land zerfällt in die 13 Ämter: Blomberg, Brake, Detmold, Hohenhausen, Horn, Lage, Lipperode, Örlinghausen, Schieder, Schötmar, Schwalenberg, Sternberg und Barntrup, Varenholz, mit 155 Gemeinden. Hauptstadt ist Detmold. Die Finanzen des Fürstentums sind gut geordnet. Der Etat der Landeskasse für 1905/06 schließt in Einnahme und Ausgabe mit 2,064,833 Mk. ab. Die Landesschuld belief sich 1905 auf 1,361,098 Mk. 1868 ist die Auseinandersetzung zwischen dem Domanium und dem Staatshaushalt vollzogen. Das Domanialvermögen umfaßt die Schlösser, Domänen, Forsten, herrschaftlichen Erbpachtgüter, Zinsgefälle etc., das Bad Meinberg, die Saline Salzuflen etc. und bildet ein unteilbares, in seinem wesentlichen Bestand unveräußerliches Fideikommißgut der fürstlichen Familie. Die Verwaltung desselben ist der Kammer übertragen, die zugleich jetzt die Lehnskammer bildet. Die Verwaltung der Forsten wurde 1855 einer besondern Forstdirektion überwiesen. Seit 1869 besteht eine über die Verwaltung der Domänen und Forsten sich erstreckende Direktion der fürstlichen Fideikommißverwaltung. Das Konsistorium ist die Verwaltungsbehörde für geistliche und Schulsachen. Die Geistlichkeit zerfällt in drei Klassen und steht unter einem Generalsuperintendenten und drei Superintendenten; es gibt 46 reformierte, 5 lutherische Pfarrstellen, 10 katholische und 13 jüdische Gemeinden. Die Synodalverfassung der Landeskirche beruht auf Gesetzen vom 12. Sept. 1877 und 19. Okt. 1882, auch die Lutheraner sind der Synode beigetreten. Die kirchlichen Verhältnisse der Katholiken sind seit 1854 durch eine besondere Verordnung geregelt und die Diözesanrechte dem Bistum Paderborn übertragen. Nachdem mit dem Fürsten Alexander die älteste (regierende) Linie des Hauses L. im Mannesstamm erloschen ist (13. Jan. 1905), bestehen neben der Linie L.-Biesterfeld noch die Nebenlinie L.-Weißenfeld und die su ihrem eignen Fürstentum souveräne Schaumburg-Lippesche Linie (s. unten, Geschichte). Eignes Militär hat L. nicht mehr; die lippeschen Wehrpflichtigen werden nach einem mit Preußen abgeschlossenen Vertrage von 1867 in das preußische Heer eingestellt, vorzugsweise in das 6. westfälische Infanterieregiment Nr. 55, von dem der Regimentsstab und das 3. Bataillon zu Detmold in Garnison stehen. Das ursprüngliche Geschlechtswappen ist eine fünfblätterige rote Rose in silbernem Felde, das jetzige Wappen ein neunfelderiger Schild (s. Tafel »Wappen I«, Fig. 13). Landesfarbe ist Rot-Gelb. Orden: der fürstlich Lippesche Hausorden (s. d., S. 596); außerdem das dem Ehrenkreuz (s. Tafel »Orden I«, Fig. 28) affiliierte goldene und silberne Verdienstkreuz, ferner die goldene und silberne Verdienstmedaille.
[Geschichte.] Das jetzige Fürstentum L., das seinen Namen vom Fluß L. erhalten hat, gehörte zum Sachsenlande. Das Geschlecht der Grafen von L. läßt sich bis auf Hoold I. (um 948) verfolgen. Kaiser Heinrich II. verlieh 1014 die ausgedehnte Grafschaft, die dieses Geschlecht besaß, dem Bischof von Paderborn, doch behauptete sich ein Zweig im Besitz der Vogtei von Geseke und der Grafschaft im Havergau, Limgau, Thiakmelli (Detmold) und Aagau. Bernhard I. (1113–44) nahm von seinem reichen Allod an der Lippe (dem Amt Lipperode) den Namen »edler Herr zur L.« an. Sein Enkel Bernhard II. (s. Bernhard 4) überließ noch bei Lebzeiten die Regierung seinem Sohn Hermann II. (gest. 1229). Die jüngern Söhne des Hauses wurden häufig Bischöfe, vornehmlich in Münster und Paderborn. Hermanns Nachfolger, Simon I. (1275–1344) und Simon III. (1361–1410), erwarben seit 1322 den größten Teil der Grafschaft Schwalenberg, bestehend aus den Ämtern Schwalenberg und Oldenburg und dem Kloster Falkenhagen, doch mit der Beschränkung, daß das Hochstift Paderborn gleichen Anteil an diesen Gebieten haben solle. Simon III. führte 1368 das Erstgeburtsrecht ein und erwarb die Grafschaft Sternberg. Bernhard VII. (1430–1511), mit dem Zunamen Bellicosus, errichtete mit dem Herzog Johann von Kleve und Mark 1445 einen Vertrag, wonach er diesem die seit 1376 verpfändet gewesene Stadt Lippstadt zur Hälfte abtrat, die dann 1850 vollständig an Preußen kam. Zugleich wurde zwischen beiden Häusern ein Bündnis errichtet, das Bernhard VII. in die sogen. Soester Fehde mit dem Erzbischof Dietrich von Köln verwickelte. Letzterer rief 1447 ein böhmisches Heer zu Hilfe, das die lippeschen Lande gänzlich verwüstete, die Städte Lippstadt und Soest jedoch vergebens belagerte. Die Edelherren zur Lippe besaßen von jeher die Reichsstandschaft und nach Einführung der Kreisverfassung die Mitgliedschaft im westfälischen Kreise.
Unter Simon V. (1511–36), der sich seit 1528 Graf nannte, fand die Reformation Eingang. Sein Enkel Simon VI. (1563–1613; vgl. über ihn Falkmann in den unten genannten »Beiträgen«, 1869–1902), der zur reformierten Kirche übertrat, ist der Stammvater der beiden Linien der jetzigen Fürsten von L. Sein ältester Sohn, Simon VII., führte die regierende Linie fort, der zweite, Otto, stiftete die Linie Brake, die 1709 erlosch; der jüngste, Philipp, erhielt Lipperode und Alverdissen und nach dem Aussterben der Schauenburger Grafen (1640) Bückeburg, wovon diese Linie dann den Namen Bückeburg oder Schaumburg führte (s. Schaumburg-Lippe). Simons VII. jüngster Sohn, Jobst Hermann (gest. 1678), stiftete die Nebenlinie L.-Biesterfeld, von der sich wieder L.-Weißenfeld abzweigte. Der Stammvater letzterer ist Jobst Hermanns jüngerer Enkel, Ferdinand Johann Ludwig (geb. 1709, gest. 1791). Doch erwarb das regierende Haus die Besitzungen beider 1762 gegen eine Rente von 15,000 Tlr.; Landeshoheit haben die Biesterfelder nie besessen. Während des Dreißigjährigen und nicht minder während des Münsterschen Krieges (1675) hatte L. besonders durch Einquartierung viel zu leiden. Dennoch suchten Graf Friedrich Adolf (1697–1718) und sein Sohn Simon Henrich Adolf (1718–34) an Luxus es dem französischen Hof gleichzutun, wobei das gräfliche Domanialvermögen meist verschleudert wurde. Diese Sünden suchte Graf Simon August (1734–82) durch peinlichste Sparsamkeit wieder gutzumachen. Des letztern Sohn Friedrich Wilhelm Leopold (1782–1802) wurde 1789 in den Reichsfürstenstand erhoben, nachdem eine 1720 vorgenommene Erhebung nicht perfekt geworden war. Nach seinem Tode regierte bis 1820 seine Witwe Pauline (von Anhalt-Bernburg) für ihren minderjährigen Sohn Paul Alexander Leopold in patriarchalischer Weise dem Lande zum Segen. Pauline mußte 1807 dem Rheinbund beitreten, wodurch das Fürstentum souverän wurde, und schloß sich nach dessen Auflösung 5. Nov. 1813 dem Deutschen Bund an. 1819 gab sie dem Land eine Repräsentativverfassung, in der alle Klassen der Untertanen zur Wahl der 21 Landtagsabgeordneten mitwirken sollten. Diese Verfassung fand jedoch bei der Ritterschaft und bei Schaumburg-Lippe, das seine agnatischen Rechte bei dieser Frage für interessiert erklärte, heftigen Widerspruch und kam infolgedessen nicht zur Einführung. Nachdem Paul Alexander Leopold 4. Juli 1820 die Regierung selbst übernommen, wurde nach langen Verhandlungen 1836 eine neue Verfassungsurkunde vereinbart und 6. Juli publiziert. 7 Abgeordnete der Ritterschaft bildeten die erste Kurie, 14 von den Städten und dem platten Lande die zweite. Der Landtag erhielt nur das Recht der Steuerbewilligung und Aussicht über die Landeskasse. Bei der Gesetzgebung wurde ihm die entscheidende Stimme vorenthalten; dennoch kamen unter seiner Mitwirkung segensreiche Gesetze zustande, wie 1843 die Städte- und Landgemeindeordnung und ein Kriminalgesetzbuch. Der definitive Anschluß an den Zollverein erfolgte 1842.
Die Bewegung von 1848 ließ auch L. nicht unberührt, doch vollzog sich die Neugestaltung des Staatswesens friedlich. Ein neues demokratisches Wahlgesetz und ein Gesetz über Vereinigung der beiden Kurien zu einem Landtag erhielten unterm 16. Jan. 1849 Rechtskraft. Hinsichtlich der Reichsverfassung sprach sich L. für die Übertragung der Kaiserkrone an Preußen aus. Nach dem Tode des Fürsten (1. Jan. 1851) folgte dessen Sohn Paul Friedrich Emil Leopold (s. Leopold 14), der ohne Zustimmung des Landtags die Verfassung von 1836 wieder einführte (im März 1853). Als der oldenburgische Staatsrat Hannibal Fischer 1853 das Ministerium übernahm, wurden im Verordnungsweg eine Menge der 1849–51 vereinbarten Gesetze aufgehoben, und dasselbe System behielt der Minsiter v. Oheimb (seit 1854) bei. Zwar kamen seit 1856 die Stände jedes Jahr zusammen, aber von einer Einigung mit der Regierung und gedeihlichem Zusammenwirken beider Faktoren war keine Rede. Am entschiedensten bekämpfte die liberale Partei ein Gesetz vom Jahr 1867, das die Staatsdomänen für ein Familienfideikommiß des jeweiligen Landesherrn erklärte. Beim Ausbruch des deutschen Krieges im Sommer 1866 stand L. von vornherein zu Preußen. Das lippesche Bataillon war mit der Mainarmee vereinigt und kämpfte bei Kissingen an der Seite der Preußen. Nach dem Abschluß der am 1. Okt. 1867 in Kraft getretenen Militärkonvention mit Preußen ward Oheimb entlassen. Am 1. April 1872 übernahm der bisherige (preußische) Landesdirektor des Fürstentums Waldeck, v. Flottwell, das Ministerium und versuchte, da das Land auf seiner Weigerung, nach dem Wahlgesetz von 1836 zu wählen, beharrte, einen Landtag auf Grund des Gesetzes von 1849 zu berufen. Als auch dieser Versuch scheiterte, griff er wieder auf das Gesetz von 1836 zurück; doch auch dies war vergeblich. Mißmutig legte er 1. Jan. 1875 sein Amt nieder. Als Fürst Leopold 8. Dez. d. J. kinderlos starb, folgte ihm sein Bruder Günter Friedrich Woldemar, der dem verfassungslosen Land zu einer Konstitution verhalf. 1876 ward nach einer provisorischen Wahlordnung ein Landtag gewählt, der am 17. Mai fast einstimmig das Wahlgesetz genehmigte, worauf dasselbe 3. Juni publiziert wurde. Die liberale Mehrheit des Landtags hielt jedoch damit die Wünsche des Landes noch nicht für erfüllt und verlangte eine neue, freiere Verfassung. Einen neuen Anlaß zum Streit bot die Erbfolgefrage. Fürst Woldemar (geb. 18. April 1824) war betagt und ohne direkte männliche Erben, sein einziger Bruder, Prinz Alexander (geb. 16. Jan. 1831, gest. 13. Jan. 1905), lebte geisteskrank in Gilgenberg bei Bayreuth. Es war nun schon seit längerer Zeit eine in Rechtsgutachten erörterte Streitfrage, ob im Fall des Erlöschens der Hauptlinie die erbherrliche Linie L.-Biesterfeld oder die fürstliche Linie Schaumburg-Lippe als nächstberechtigt anzusehen sei. Die fürstliche Regierung glaubte die Ebenbürtigkeit der Biesterfelder Linie anzweifeln zu müssen (vgl. Laband, Die Thronfolge im Fürstentum L., Freib. i. Br. 1891), sprach sich aber nicht offen gegen sie aus und begnügte sich, auf direktes Verlangen des Landtags 1890 ein Regentschaftsgesetz vorzulegen für den Fall, daß Fürst Woldemar stürbe und Prinz Alexander ihm folgen müßte; dies war nötig, da das Pactum tutorium von 1667 nur die Vormundschaft für einen unmündigen, nicht aber eine Regentschaft für einen kranken Fürsten vorsieht. Der Entwurf der Regierung ermächtigte nun den Fürsten für den Fall, daß der Thronerbe an der Übernahme der Regierung behindert sein sollte, im voraus aus der Zahl der sukzessionsberechtigten volljährigen Agnaten einen Regenten zu ernennen, dem das ganze Domanialeinkommen zufallen sollte. Hiermit war aber der Landtag nicht einverstanden, zumal zu besorgen war, daß der Fürst ein Mitglied des Hauses Schaumburg-Lippe ernennen wolle, und verlangte, daß er zwei Deputierte zur Regentschaft zu ernennen habe. Darauf zog die Regierung die ganze Vorlage zurück, und die Regentschafts- wie die Erbfolgefrage blieb ungelöst. Fürst Woldemar starb 20. März 1895. Gleich nach seinem Tode veröffentlichte das Ministerium ein Dekret des Fürsten vom 15. Okt. 1890, das an Stelle des (geisteskranken) Fürsten Alexander den Prinzen Adolf zu Schaumburg-Lippe (Schwager des Kaisers, s. Adolf 7) zum Regenten ernannte, der auch sofort die Regentschaft übernahm. Hiergegen erhoben die Häupter der Linien L.-Biesterfeld und L.-Weißenfeld Einspruch, und auch die Mehrheit des Landtags bestritt dem Fürsten das Recht, einseitig einen Regenten zu ernennen. Doch gab der Landtag 23. April seine Zustimmung zu einem Gesetz, das den Prinzen Adolf bis zur Entscheidung der Thronfolgefrage als Regenten bestätigte. Die Regierung übernahm die Verpflichtung, beim Bundesrat den Erlaß eines Reichsgesetzes zu beantragen, das die Entscheidung über die Erbfolge dem Reichsgericht übertragen solle. Am 8. Juli 1895 stellte die Regierung diesen Antrag, doch lehnte ihn der Bundesrat im Januar 1896 ab, verwies aber die streitenden Parteien an ein Schiedsgericht. Nach Zustimmung des Landtags schlossen Fürst Georg zu Schaumburg-Lippe, Graf Ernst zur L.-Biesterfeld und Graf Ferdinand zur L.-Weißenfeld einen Schiedsvertrag, wonach die Erbfolgefrage vom König Albert von Sachsen und sechs von ihm zu berufenden Mitgliedern des Reichsgerichts zu entscheiden sei. Das Regentschaftsgesetz von 1895 wurde nun durch ein neues, dem Schiedsvertrag entsprechendes, ersetzt. Das Schiedsgericht, das am 30. Okt. 1896 in Dresden zusammentrat, bezeichnete 22. Juni 1897 den Grafen Ernst zur L.-Biesterfeld (gest. 26. Sept. 1904, s. Ernst 9) als Chef seiner Linie zunächst als zum Regenten und nach dem Fürsten Karl Alexander zum Regierungsnachfolger im Fürstentum L. berechtigt und berufen. Die Ehe seines Großvaters, des Grafen Wilhelm Ernst, die dieser 1803 mit Modesta von Unruh geschlossen hatte und wegen deren die Ebenbürtigkeit der Linie angefochten wurde, ward als standesgemäß und demgemäß die Nachkommen als ebenbürtig erklärt. Sofort nach Veröffentlichung des Schiedsspruches verließ Prinz Adolf zu Schaumburg-Lippe das Land, und 17. Juli zog Graf Ernst in Detmold ein.
Über die Erbberechtigung der Söhne des Graf-Regenten hatte sich das Schiedsgericht überhaupt nicht geäußert. Diese Lücke sollte ein Gesetzentwurf ausfüllen, den der neue Staatsminister Miesitschek von Wischkau 28. Okt. 1897 dem Landtag vorlegte, und der die Söhne des Graf-Regenten für sukzessionsberechtigt erklärte. Dagegen erhob der Fürst zu Schaumburg-Lippe Einspruch, indem er die Ebenbürtigkeit der Gemahlin des Graf-Regenten, einer gebornen Gräfin von Wartensleben, bestritt. Der Landtag lehnte diesen Einspruch ab und forderte den Fürsten zu Schaumburg auf, bis zum 1. Febr. 1898 die ordentlichen Gerichte anzurufen. Der Fürst beschwerte sich beim Bundesrat, und dieser beschloß 20. Jan., daß dem Gesetzentwurf vom 28. Okt. 1897 kein Fortgang zu geben sei. Die lippesche Regierung fügte sich, beantragte aber eine Novelle zum Regentschaftsgesetz, wonach der älteste Sohn des Grafen Ernst sein Nachfolger in der Regentschaft sein solle. Nachdem der Regent die bestimmten jährlichen Abgaben von den aus den Domänen fließenden Einnahmen an die Landkasse bedeutend erhöht hatte, wurde die Novelle 24. März vom Landtag angenommen, worauf der Fürst zu Schaumburg-Lippe 18. Mai wieder beim Bundesrat um Schutz seines Rechtes gegenüber dem lippeschen eigenmächtigen Eingriff nachsuchte. Verschiedene Vorfälle brachten dann auch noch den Graf-Regenten auf militärischem Gebiet in einen schroffen Gegensatz zu Kaiser Wilhelm II.
In L. selbst und in weiten Kreisen des deutschen Volkes trat man jetzt dafür ein, daß die Entscheidung der Thronfolgefrage nun auf landesgesetzlichem Wege erfolgen müsse, und bestritt, gestützt auf Rechtsgutachten hervorragender Juristen, dem Bundesrat die Befugnis, den Thronstreit zu erledigen, da § 76 der Reichsverfassung dem Bundesrat nur die Erledigung nichtprivatrechtlicher Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten zuweise, die Ansprüche des Fürsten zu Schaumburg-Lippe aber privatrechtliche seien. Letzterer, auch auf Rechtsgutachten gestützt, behauptete das Gegenteil. Darauf beschloß der Bundesrat 5. Jan. 1899: 1) daß er zuständig sei; 2) daß zurzeit kein Anlaß zur sachlichen Erledigung vorliege; 3) daß hiermit spätern Beschlüssen über die Wirksamkeit von Landesgesetzen nicht vorgegriffen sein solle; 4) daß er auf weitere Anträge nicht eingehen werde.
Staatsminister an Stelle v. Miesitschecks wurde im Dezember 1899 der bisherige Erste Staatsanwalt in Detmold, Gevekot. Graf-Regent Leopold (s. Leopold 15), der am 26. Sept. 1904 seinem Vater gefolgt war, einigte sich mit Fürst Georg zu Schaumburg-Lippe dahin, daß ein Schiedsgericht endgültig über die Erbfolgeberechtigung entscheide, und der Bundesrat stimmte 18. Nov. 1904 dem zu, worauf der Präsident des Reichsgerichts mit der Bildung des (aus zwei Senaten des Reichsgerichts zu bildenden) Schiedsgerichts beauftragt wurde. Auch die Linie L.-Weißenfeld erhob durch ihr Haupt, den Grafen Georg, für den Fall der Ablehnung der Linie L.-Biesterfeld Ansprüche auf die Erbfolge vor der Linie Schaumburg-Lippe. Durch den Tod des Fürsten Alexander 13. Jan. 1905 wurde die Entscheidung der Streitfrage dringlich; sie fiel 25. Okt. zugunsten der Biesterfelder Linie. Vgl. Schwanold, Das Fürstentum L., das Land und seine Bewohner (Detm. 1899); Falkmann, Beiträge zur Geschichte des Fürstentums L. (Lemgo u. Detm. 1857–1902, 6 Bde.); Derselbe und Preuß, Lippische Regesten (Detm. 1860–68, 4 Bde.); Piderit, Die lippischen Edelherren im Mittelalter (das. 1876); Kiewning, Die auswärtige Politik der Grafschaft L. vom Ausbruch der französischen Revolution bis zum Tilsiter Frieden (das. 1903); »Fürstin Pauline zur L. und Herzog Friedrich Christian von Augustenburg«, Briefe aus den Jahren 1790–1812 (hrsg. von Rachel, Leipz. 1903); Falkmann, Das Staatsrecht im Fürstentum L. (in Marquardsens »Handbuch des öffentlichen Rechts«, 3. Bd., Freiburg 1884); Triepel, Der Streit um die Thronfolge im Fürstentum L. (Leipz. 1903); »Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde«, hrsg. von der geschichtlichen Abteilung des naturwissenschaftlichen Vereins in Detmold (Detm. 1903 ff.); Weerth und Anemüller, Bibliotheca Lippiaca (das. 1886, Bibliographie).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.