Landgemeindeordnung

Landgemeindeordnung

Landgemeindeordnung, preußische, vom 3. Juli 1891, regelt die Verfassung und Verwaltung der ländlichen Gemeinden und ähnlicher Gebilde in den sieben östlichen Provinzen der Monarchie: Ostpreußen, Westpreußen, Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen. Sie gilt in veränderter Fassung zufolge Gesetzes vom 4. Juli 1892 auch für Schleswig-Holstein. Für Helgoland besteht ein besonderes Gemeindestatut.

Vorbereitet war die Reform durch die Kreisordnung für die östlichen Provinzen (mit Ausnahme von Posen) vom 13. Dez. 1872, durch die unter gleichzeitiger Ordnung der Ortspolizei den Gutsherrschaften die Polizeigewalt und die damit verbundene Aufsichtsbefugnis über die Landgemeinden sowie das Recht, die Schulzen und Schöffen zu ernennen, genommen und den Gemeinden die Befugnis der Wahl zu diesen Ämtern verliehen worden war (s. Kreisverfassung). Nunmehr ist auch die rechtliche Stellung der selbständigen Gutsbezirke und der Landgemeinden durchgreifend geordnet, und zwar in der Weise, daß der Gutsbezirk, d.h. das Herrschaftsgebiet eines einzelnen Gutsbesitzers, öffentlich-rechtlich mit denselben Befugnissen und Verpflichtungen wie die Gemeinden ausgestattet worden sind. Um jedoch den örtlichen Verhältnissen Rechnung tragen zu können, ist es in letzter Linie der Krone und bez. der Entscheidung des Staatsministeriums anheimgestellt, einzelne Grundstücke, welche noch keinem Gemeinde- oder Gutsbezirk angehören, mit einem solchen zu verbinden oder, wenn eine solche bestehende Verbindung den Bedürfnissen nicht entspricht, Änderungen vorzunehmen, auch Gemeinden oder Gutsbezirke aufzulösen. In ähnlicher Weise kann auch die Verbindung von Landgemeinden oder Gutsbezirken mit Stadtgemeinden, d.h. Gemeinden, die von Bewohnern einer Ortschaft mit städtischer Verfassung gebildet werden, erfolgen. Endlich ist die Möglichkeit eröffnet, für einzelne gemeindliche Zwecke, denen nachbarlich gelegene Gemeinden und Gutsbezirke, die im allgemeinen leistungsfähig sind, nicht Genüge leisten können, Gemeindeverbände zu bilden, und zwar mangels Einverständnisses der Beteiligten durch Anordnung des Oberpräsidenten der Provinz.

Unter einer Landgemeinde, früher auch Dorfgemeinde genannt, wird eine Mehrzahl von Personen verstanden, die auf einem räumlich abgegrenzten Gebiete des platten Landes zusammenwohnen und einer gemeinsamen Ortsverfassung unterstehen. Sie sind öffentliche Körperschaften, denen vorbehaltlich der Staatsaufsicht die Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten zusteht; auch die »Gemeindeverbände« erfreuen sich innerhalb des Rahmens ihrer Zweckbestimmung einer relativen Selbständigkeit. An der Spitze der Verwaltung der Landgemeinden steht der Gemeindevorsteher (Schulze, Scholze, Richter, Dorfrichter); ihm zur Seite stehen 2–6 Schöffen (Schöppen, Gerichtsmänner, Gerichtsgeschworne, Dorfgeschworne), die ihn in den Amtsgeschäften zu unterstützen und in Behinderungsfällen zu vertreten haben. In größern Gemeinden kann durch Ortsstatut ein kollegialer Gemeindevorstand eingeführt werden. Gemeindevorsteher und Schöffen werden aus der Zahl der Gemeindeglieder in der Regel auf 6 Jahre gewählt. Der Gemeindevorsteher ist die Obrigkeit der Landgemeinde und führt deren Verwaltung und Vertretung nach außen, die Dienstaufsicht wie auch den Vorsitz in der Gemeindeversammlung und Gemeindevertretung. Er hat die Beschlüsse der Gemeindeversammlung auszuführen. Falls nach seiner Ansicht ein solcher Beschluß das Gemeinwohl oder das Gemeindeinteresse verletzt, ist er berechtigt und verpflichtet, die Ausführung des Beschlusses auszusetzen und, falls bei nochmaliger Beratung der Beschluß aufrecht erhalten wird, die Entscheidung des Kreisausschusses einzuholen. Soweit nicht das Gesetz dies dem Gemeindevorsteher übertragen hat, hat die Gemeindeversammlung über die Gemeindeangelegenheiten zu beschließen. In Gemeinden jedoch, in denen die Zahl der Stimmberechtigten mehr als 40 beträgt, tritt an die Stelle der Gemeindeversammlung die Gemeindevertretung, die aus dem Gemeindevorsteher, den Schöffen und den Gemeindeverordneten, deren Zahl mindestens das Dreifache der Schöffenzahl betragen muß, besteht. Auch gegenüber den Beschlüssen der Gemeindevertretung besteht das obenerwähnte Veto des Gemeindevorstehers. Der Gemeindevorsteher ist auch Organ der Polizeiverwaltung mit allen damit verbundenen Befugnissen und Obliegenheiten. In selbständigen Gutsbezirken hat der Gutsbesitzer für die Pflichten und Leistungen auszukommen, die den Gemeinden für den Bereich ihres Bezirks im öffentlichen Interesse obliegen, und ist ebenfalls Organ der Polizeiverwaltung, für deren Führung er in eigner Person oder durch einen geeigneten Stellvertreter zu sorgen hat.

Die Einwohner der Landgemeinden besitzen entweder nur die Gemeindeangehörigkeit oder auch das Gemeindebürgerrecht (Gemeinderecht). Angehörige der Landgemeinde sind, mit Ausnahme der nichtangesessenen servisberechtigten Militärpersonen des aktiven Dienststandes, diejenigen, die innerhalb des Gemeindebezirks einen Wohnsitz haben. Die Gemeindeangehörigen sind zur Mitbenutzung der öffentlichen Einrichtungen und Anstalten der Gemeinde berechtigt und zur Teilnahme an den Gemeindeabgaben und -Lasten verpflichtet. Gemeindebürger (Gemeindeglieder) sind alle Gemeindeangehörigen, denen das Gemeinderecht zusteht; Voraussetzung hierzu ist deutsche Reichsangehörigkeit, Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte, Wohnsitz seit einem Jahr im Gemeindebezirk, Nichtempfang einer Armenunterstützung aus öffentlichen Mitteln, Entrichtung der Gemeindeabgaben und Besitz eines Wohnhauses oder von Grundstücken im Gemeindebezirk oder Verpflichtung zur Staatseinkommensteuer. Das Gemeinderecht umfaßt das Recht zur Teilnahme an dem Stimmrecht in der Gemeindeversammlung und an den Gemeindewahlen sowie das Recht zur Bekleidung unbesoldeter Ämter in der Verwaltung und Vertretung der Gemeinde. Forensen, d.h. solche Personen, die ohne Gemeindeangehörige zu sein, bez. im Gemeindebezirk einen Wohnsitz zu haben, in demselben ein Grundstück besitzen, juristische Personen, Aktiengesellschaften, Berggewerkschaften, eingetragene Genossenschaften und der Staatsfiskus haben Stimmrecht, wenn sie Grundbesitz von einem gewissen Umfang im Gemeindebezirk innehaben. Die Gemeindeabgaben richten sich nach dem Kommunalabgabengesetz vom 14. Juli 1893. Auf ähnlichen Grundsätzen beruhen die Landgemeindeordnungen in Hessen-Nassau vom 4. Aug. 1897 und Gesetz vom 30. Juli 1899 sowie in Hohenzollern vom 3. Juli 1900. Die beiden westlichen Provinzen, Westfalen und Rheinprovinz, besaßen schon seit 1856, bez. 1845 eine L., und in Hannover gilt das hannoversche Landgemeindegesetz vom 28. April 1859. Vgl. die Kommentare zur preußischen L. für die sieben östlichen Provinzen von Keil (Freiburg 1896) und Genzmer (2. Aufl., Berl. 1900); Schmidt, Die Verfassung der rheinischen Landgemeinden (2. Aufl., Trier 1903); Wickede, Die Verwaltung der Landgemeinden in der Provinz Hessen-Nassau (Wiesbad. 1898).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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