Reichsgericht

Reichsgericht

Reichsgericht heißt in Deutschland der gemeinsame oberste Gerichtshof für das ganze Reich, der in Leipzig seinen Sitz hat (Abbildung und Grundriß des Reichsgerichtsgebäudes s. auf Tafel »Leipziger Bauten III«; vgl. das Werk seines Erbauers L. Hoffmann: »Der Reichsgerichtsbau in Leipzig«, 100 Tafeln mit Text, Berl. 1899). Das R. ist auf Grund des Gesetzes vom 11. April 1877 am 1. Okt. 1879 ins Leben getreten. Damals waren nur 5 Zivilsenate und 3 Strafsenate vorhanden, und bestand das Gericht aus einem Präsidenten, 7 Senatspräsidenten und 60 Räten. Jetzt bestehen 7 Zivilsenate und 5 Strafsenate; die Zahl der Senatspräsidenten ist auf 11, die Zahl der Räte auf 87 gestiegen. Die staatsanwaltschaftliche Tätigkeit bei dem R. liegt der Reichsanwaltschaft ob, die (abgesehen von einem Hilfsarbeiter) aus dem Oberreichsanwalt (s. d.) und 4 Reichsanwälten besteht. Die bei dem R. auftretenden Rechtsanwälte müssen vom Präsidium des Reichsgerichts zugelassen werden; ihre Zulassung bei einem andern Gericht ist ausgeschlossen (s. Rechtsanwalt). In bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten (s. d., Bd. 3) entscheidet das R. nach dem Gerichtsverfassungsgesetz (§ 135) über die Revision (s. d.) gegen die Endurteile der Oberlandesgerichte und über die Beschwerden (s. d.) gegen deren Entscheidungen. In Strafsachen ist es nach dem erwähnten Gesetz (§ 136) zuständig zur Entscheidung über die Revision gegen Urteile, die von einer landgerichtlichen Strafkammer oder einem Schwurgericht erlassen worden sind; dabei wird vorausgesetzt, daß es sich nicht bloß um Anwendung von landesrechtlichen Bestimmungen handelt (vgl. Gerichtsverfassung und Revision). Im Falle von Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über die Erhebung öffentlicher, in die Reichskasse fließender Abgaben hat das R. ausnahmsweise auch über die Revision gegen Urteile der Berufungskammern bei den Landgerichten zu entscheiden, wenn der Staatsanwalt dies beantragt. Außerdem steht dem R. in erster und letzter Instanz die Untersuchung und Entscheidung in Ansehung der gegen den Kaiser oder das Reich gerichteten Verbrechen des Hochverrats oder Landesverrats sowie gewisser im Reichsgesetz vom 3. Juli 1893 (§ 12), betreffend den Verrat militärischer Geheimnisse, zu. Über die Verweisung entscheidet der erste Strafsenat; das Hauptverfahren findet vor dem vereinigten zweiten und dritten Strafsenat statt. Die Zusammensetzung der einzelnen Senate, die in einer Zusammensetzung aus sieben Mitgliedern entscheiden, sowie die Geschäftsverteilung bestimmt das Präsidium des Reichsgerichts, das aus dem Präsidenten, den Senatspräsidenten und den vier dem Dienstalter nach ältesten Räten besteht (s. Gericht). Der Geschäftsgang bei dem R. wird nach § 141 durch eine Geschäftsordnung geregelt, die das Plenum (s. d.) auszuarbeiten und dem Bundesrat zur Bestätigung vorzulegen hat. Wenn ein Zivilsenat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines andern Zivilsenats oder der vereinigten Zivilsenate abweichen will, muß er die Enscheidung der vereinigten Zivilsenate einholen. Das Gleiche muß in Ansehung der vereinigten Strassenate geschehen, wenn ein Strafsenat von der Entscheidung eines andern Strassenats oder der vereinigten Strafsenate abweichen will. Unter Umständen ist sogar die Entscheidung des Plenums (s. d.) einzuholen. Durch besondere Gesetze wurde dem R. noch die Entscheidung bez. vieler andrer Angelegenheiten übertragen; z. B. diejenige über die Beschwerden und Berufungen der Konsulargerichte und über die Berufung gegen Entscheidungen des Patentamts etc. Zu dem Disziplinarhof (s. d.) für Reichsbeamte und elsaß-lothringische Landesbeamte gehören der Präsident und mindestens 5 weitere Mitglieder des Reichsgerichts, dem Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte der Präsident und 3 andre Mitglieder desselben an. Der Präsident, die Senatspräsidenten und die Räte des Reichsgerichts werden, ebenso wie der Oberreichsanwalt und die Reichsanwälte, vom Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats ernannt. Zum Mitglied des Reichsgerichts darf nur ernannt werden, wer die Fähigkeit zum Richteramt in einem Bundesstaat erlangt und das 35. Lebensjahr vollendet hat. Die Versetzung in den Ruhestand kann gegen den Willen des betreffenden Mitgliedes des Reichsgerichts nur durch Plenarbeschluß des Reichsgerichts erfolgen. Ebenso ist ein solcher erforderlich, wenn die Enthebung eines Mitgliedes von seinem Amte wegen strafbarer Handlungen eintreten soll. Als Oberreichsanwalt und als Reichsanwalt darf nur ein zum Richteramt befähigter Beamter ernannt werden. Diese (nichtrichterlichen) Beamten können durch kaiserliche Verfügung jederzeit mit Gewährung des gesetzlichen Wartegeldes einstweilig in den Ruhestand versetzt werden (Gerichtsverfassungsgesetz § 127–131 und § 143, 149, 150). Der erste Präsident des Reichsgerichts war Simson (1879 bis 1891), dessen Nachfolger v. Öhlschläger (bis 1903), diesem folgte Gutbrod (bis 1905), und gegenwärtig ist Freiherr v. Seckendorf Präsident. Im frühern Deutschen Reich waren als Reichsgerichte das Reichskammergericht (s. d.) und der Reichshofrat (s. d.) tätig. Im neuen Deutschen Reich hatte bis zum 1. Okt. 1879 in Handelssachen das Reichsoberhandelsgericht (s. d.) zu entscheiden, dessen Befugnisse auf das R. übergingen. Im übrigen bildeten den obersten Gerichtshof in den einzelnen Ländern Landesgerichte, die meistens als Oberappellationsgerichte (s. d.), manchmal auch als Obertribunale (s. d.) bezeichnet wurden. Sie wurden mit Ausnahme des jetzt noch bestehenden bayrischen obersten Landesgerichts (s. d.) 1879 aufgehoben. – Die Entscheidungen des Reichsgerichts werden von Mitgliedern des Gerichtshofes und der Reichsanwaltschaft herausgegeben in den beiden offiziellen Sammlungen: 1) »Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen« (Leipz. 1880 ff.), 2) »Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen« (das. 1880 ff.). Diese Sammlungen enthalten jedoch nur eine Auswahl der jährlich ergehenden Entscheidungen; die »Juristische Wochenschrift« (Berl.) veröffentlicht in gekürzter Form eine größere Anzahl Reichsgerichtsentscheidungen. Die reichh altigsten und raschesten Mitteilungen über die Rechtsprechung des Reichsgerichts, allerdings meist ohne Begründung, bringt seit 1900 die juristische Zeitschrift »Das Recht« (hrsg. von Soergel, Hannover). Gegenwärtig wird am R. ein Präjudizienbuch ausgearbeitet, in dem sämtliche vom R. seit 1900 ausgesprochenen zivilrechtlichen Rechtssätze eingetragen werden. Eine Veröffentlichung dieses Präjudizienbuches ist aber nicht beabsichtigt; es soll nur zur Erleichterung der Arbeiten der Mitglieder des Reichsgerichts und zur Vermeidung von widersprechenden Entscheidungen dienen. Vgl. »Die ersten 25 Jahre des Reichsgerichts« (Beilageheft zum »Sächsischen Archiv für deutsches bürgerliches Recht«, Bd. 14, Leipz. 1904).

In Österreich heißt R. der zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten und streitigen Angelegenheiten des öffentlichen Rechts berufene Gerichtshof. Dem deutschen R. entspricht dort der oberste Gerichts- und Kassationshof (s. d.). Vgl. Spaun, Das R., die auf dasselbe sich beziehenden Gesetze und Verordnungen etc. (Wien 1904).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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