- Melancholīe
Melancholīe (griech. melancholia, »schwarze Galle«, soviel wie Schwermut, Tiefsinn) bedeutete in der Heilkunde früher mancherlei Krankheiten, Ernährungsstörungen, bösartige, schwarzpigmentierte Geschwülste etc., deren Entstehung man dem vierten der damals angenommenen Kardinalsäfte des Körpers, der schwarzen Galle, zuschrieb. Heute bezeichnet M. eine ganz bestimmte, der Manie (s. d.) direkt entgegengesetzte, funktionelle (d. h. ohne nachweisbare anatomische Veränderungen im Gehirn einhergehende) Geisteskrankheit, deren wesentliches Symptom in einer traurigen, niedergedrückten Gemütsstimmung und Denkhemmung, in andern Fällen in Angst besteht und in stärkern Graden begleitet ist von Sinnestäuschungen und Wahnideen. Als Ursachen gelten vor allem erbliche Anlage, anhaltende niederdrückende Seelenstimmungen, überhaupt Gemütsbewegungen nicht freudiger Art, erschöpfende schwere Krankheiten und ebenso auch Erschöpfung durch andauernde übermäsige Anstrengung mit geistiger Arbeit etc. Die Erscheinungsweise der M. ist äußerst auffällig. Blick und Mienen des Melancholischen sind traurig, leidend, ängstlich, kläglich, scheu oder verdrießlich, mürrisch und finster. Alle körperlichen Bewegungen geschehen langsam, stockend und haben den Charakter der Zaghaftigkeit, Niedergeschlagenheit und Unentschlossenheit. Das Wesentliche dieser krankhaften Gemütszustände besteht in krankhafter Herabstimmung des Selbstgefühls u. Mangel an Selbstvertrauen (Kleinheitswahn). Die Kranken häufen gegen sich die schwersten Anklagen, sie glauben verhungern zu müssen, suchen aus ihrer Vergangenheit unbedeutende Ereignisse hervor, denen sie den Wert schwerer Missetaten beilegen, sie halten sich für unwürdig ihrer Familien, glauben diesen zur Last zu sein und quälen sich unablässig mit Selbstvorwürfen (Versündigungswahn). Dabei fehlt der Schlaf; die Kranken werden blaß, ihr Blick ist matt, die Gesichtszüge schlaff und verfallen. Am auffallendsten offenbart sich die allgemeine Passivität des Melancholischen durch seine Untätigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Abneigung gegen jede ernste Beschäftigung. Bei allem, was er tun will oder soll, erblickt er unüberwindliche Schwierigkeiten, und die kleinsten Hindernisse erscheinen ihm als unübersteigliche Schranken. Dies kann so weit gehen, daß der Kranke sich nicht zu den unbedeutendsten Dingen entschließen kann, zum Aufstehen, Ankleiden, Ausgehen, Essen etc. Höhere Grade der M. sind zuweilen mit völliger Untätigkeit, die sich bis zu gänzlicher Starrheit und Unbeweglichkeit steigern kann, und mit der hartnäckigsten Nahrungsverweigerung verbunden. In vielen Fällen wird das regungslose Hinbrüten der Kranken durch mehr oder weniger stürmische Anfälle unterbrochen, bei denen die Kranken von einem unbeschreiblichen quälenden Angstgefühl gepeinigt werden, dessen Sitz sie bald in die Herzgrube (Präkordialangst), bald in den Unterleib verlegen, das auch als Zusammenschnüren des Halses geschildert wird; sie gehen unruhig auf und ab, zupfen an ihren Kleidern, reißen sich die Haut von den Fingern, beißen sich wund, ziehen sich Haare aus und geraten zuweilen in wirkliche Raserei (furor oder raptus melancholicus). Die große Gefahr der M. beruht in allen Stadien der Krankheit darin, daß die Irren sich ihren Leiden durch Selbstmord zu entziehen suchen. Die M. ist in etwa 60 Proz. der Fälle heilbar. Alsdann lassen nach einiger Zeit die traurigen Gemütsstimmungen nach, die Kranken verlangen nach Arbeit, der Schlaf bessert sich, und langsam weichen die düstern Vorstellungen zurück. Bleibt die Besserung aus, so dauern die Symptome fort, oder sie gehen in Geistesschwäche und völligen Zerfall der psychischen Tätigkeit über. Auch kommt es vor, daß die Kranken bei fortdauernder Nahrungsverweigerung infolge von Erschöpfung, oder bei gewaltsam durchgeführter künstlicher Ernährung, wie beobachtet, an Schluckpneumonie zugrunde gehen. Die Behandlung bietet keine Aussicht auf Erfolg, solange man den Kranken bloß zu zerstreuen sucht. Ruhe und Abgeschlossenheit, aufmerksame Bewachung und Behandlung mit Bädern etc., wie sie eine gute Irrenanstalt bietet, ist das allein Richtige und allein Mögliche, da die Neigung zum Selbstmord den Angehörigen ein hohes Maß von Verantwortlichkeit auferlegt.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.