- Islâm
Islâm (arab., »Ergebung«, nämlich in Gottes Willen), die von Mohammed (s. d.) gestiftete Religion, deren Bekenner Muslim (s. d.) heißen. War der I. zuerst nur die Abwendung Mohammeds von dem Götzendienst der Mekkaner zu dem ihm durch den Verkehr mit Juden und Christen bekannt gewordenen Monotheismus und der von einer kleinen Anzahl Mekkaner angenommene neue Glaube, so wurde er unter der Berührung mit den aus Südarabien stammenden Medinensern und den in und bei Medina zahlreichen Juden und bei der in Arabien herrschenden Tendenz zu einer religiösen und nationalen Einigung das Gesetz einer religiösen Gemeinschaft unter Leitung Mohammeds und, sofern dieser der Künder des göttlichen Willens war, Gottes. Damit war die politische Richtung gegeben: das Land dieser Gemeinschaft wurde Land des Islams (dâr al islâm), ein Staatsgebiet, das sich nach dem Gebot, alle Nichtmuslime zu bekämpfen, über die ganze Welt erstrecken sollte. Das Recht dieses Staates ist das durch den I. gelehrte Gebot Gottes, seine Beamten sind Hüter und Schützer des Islams. Angehöriger der islamischen Gemeinde ist jeder, der als Kind islamischer Eltern geboren ist oder sich durch Aussprechen der Zeugnisworte: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer dem (einen) Gott (Allâh), ich bezeuge, daß Mohammed der Gesandte Gottes ist« zum I. bekannt hat. Das äußere Zeichen der Zugehörigkeit ist die dem Judentum entlehnte Beschneidung. Voraussetzung des Islams ist der Glaube (îmân) an Gott, seine Engel, seine Gesandten (Propheten), seine (geoffenbarten) Bücher und den Jüngsten Tag (Koran 2,285; 4,135). Die Ausführung des einzelnen zeigt jüdischen Einfluß. Wer den Glauben nicht hat oder ihn verliert, ist ein Ungläubiger (kâfir). Doch legt der I. auf die Feststellung des Glaubens bei seinen Angehörigen wenig Wert. Die Entwickelung der Glaubenslehre wurde als eine das Interesse der Gemeinde nicht berührende Angelegenheit betrachtet, wenn auch zeitweilig die Dogmatik mit politischen Bewegungen eng verknüpft war, und wenn auch Glaubensvorstellungen zur Stärkung des Muslims in Pflichterfüllung (Paradieseslohn für Blutzeugen) verwandt werden. Entsprechend dem politisch-sozialen Denken, das Mohammed seit Beginn seiner Vollkraft-, d. h. der Medina-Periode beherrscht, ist der I. vorwiegend Pflichtenlehre. Die Quellen zur Erkenntnis dessen, was der Muslim zu glauben und zu tun hat, sind der Koran (s. d.) und die Sunna, d. h. die Übung Mohammeds, wie sie in seinen Worten und Handlungen vorliegt und durch das Hadîs, den Bericht der Zeitgenossen über jene, überliefert ist. Die erste Sammlung solcher Berichte (ca. 1700) gab Mâlik Ibn Anas (s. Malekiten) u. d. T. al Muwatta, »der gebahnte Pfad«, heraus. Bei den meisten Sunniten (s. d.) hatten sechs Sammlungen kanonische Geltung, die den Titel ass Ssahîh führen und danach aff Ssihâh as sitta genannt werden: 1) des Buchârî (gest. 870), 2) des Muslim (gest. 875), 3) des Tirmisî (gest. 892), 4) des Nasâ'î (gest. 915), 5) des Abû Dâ'ûd (gest. 888) u. 6) des Ibn Mâdscha (gest. 886). Diese Werke sind nach Materien geordnet, aber unübersichtlich. Nach den ältesten Gewährsmännern ordnete den Stoff Ahmed Ibn Hanbal (gest. 855) in seinem Musnad. Die Traditionswerke sind im Orient oft gedruckt, zum Teil mit umfangreichen Kommentaren, wie denn die Beschäftigung mit dem Hadîs zu allen Zeiten eine Hauptarbeit der Gelehrten des Islams gebildet hat. Jene Quellen, Koran und Hadîs, zeigten sich nach zwei Richtungen unvollkommen: 1) sie enthielten Widersprüche in sich und zueinander; 2) sie gaben keine Antwort auf zahlreiche Fragen, die sich mehrten seit der Einbeziehung alter Kulturländer in das islamische Reich. Die Widersprüche beseitigte man durch die Theorie der Abrogation (nas-ch), der Ersetzung einer Bestimmung durch eine andre. Die Ergänzung wurde herbeigeführt durch die Annahme zweier Werte für die Ausstellung von neuem: 1) der Übereinstimmung der Gemeinde (idschmâ'), 2) des Vernunftschlusses (kijâss). Eine Sonderstellung gegenüber den vier Quellen nahmen die Schiiten ein (s. d.). Hier werden die Glaubens- und die Pflichtenlehre nur nach dem System der Sunniten (s. d.) dargestellt, das nach schweren Kämpfen die Herrschaft gewann. Diese Kämpfe betrafen den Umfang, in dem die Vernunft zur Erforschung des Willens Gottes als brauchbares Mittel heranzuziehen sei. In der Glaubenslehre führte das Bekanntwerden mit der griechischen Philosophie zum Bedürfnis, die naiven Vorstellungen von Gott, seinen Eigenschaften, seinem Wirken als Schöpfer, seinem Eingreifen in das Handeln des Menschen, die wenig oder in anthropomorphistischer Richtung entwickelt waren, und über die zum Teil, wie über die Prädestination, der Koran sich widersprach, zu klären. Aus der um 700 gegründeten Schule zu Basra ging Wâssil Ibn Atâ, Schüler des Hassan Bassrî (gest. 728), hervor, der die Attribute Gottes, die Ewigkeit des Korans und die Prädestination leugnete und dessen Anhänger Mu'tasiliten oder Kadariten heißen. Andre Sekten leugnen die Attribute, halten aber die Prädestination in schroffster Form aufrecht (Dschabarnen), andre bekennen sich zur wörtlichen Auffassung der Attribute (Sifatiten). Das Studium der Griechen führte auch zu philosophisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten (die Abhandlungen der Treuen Brüder in Bagdad). Die Gefahr der kritischen Richtung schwand nicht, als Mutawakkil (847–861) den Mu'tasiliten die herrschende Stellung, die sie seit Ma'mûn (813–833) innehatten, entzog. Der Hilflosigkeit der Orthodoxie gegen die Kämpfer für die Kritik machte erst Abulhassan al Asch'ari ein Ende, indem er die geistigen Waffen der Ketzer gegen sie selbst zu kehren suchte und in dem Ilm al Kalâm, der Dialektik, eine philosophierende Theologie schuf, die durch Künsteleien die Versöhnung von Glaube und Wissenschaft und so die der Masse und den Herrschenden zusagende mittlere Linie schuf. Trotz des Sieges der Orthodoxie wollte das Spekulieren nicht ruhen: die nüchterne, auf dem Empirismus des Aristoteles fußende Richtung führte zu Averroës (s. d.), die phantastische, von Neoplatonismus und Gnostizismus beherrschte zu den Gruppen der Ismaëliten (s. d.), Drusen (s. d.) und Nossairier (s. d.). Gegen jene wandte sich Ghassali (s. d.) mit einem System, das den Wert aller philosophischen Spekulation leugnet und mit einem aus dem Sufismus (s. d.) stammenden Zuge das Heil in der innern Erleuchtung, der Erweckung sieht, neben der die islamischen (Pseudo-) Wissenschaften von den noch nicht ganz Erleuchteten und zur Leitung der stumpfen Masse zu treiben sind. Das war der Tod aller geistigen Entwickelung für den I. Von Muslimen geschaffen, aber nicht mehr in innerm Zusammenhange mit dem I. stehend, sind der Babismus (s. d.), der fruchtbare Keime enthält, in Persien, und die Ahmedije, die Lehre des Ahmed Kâdhijâni in Indien, die nur eine mystisch-phantastische Spielerei zu sein scheint. Von einer Weltbetrachtung, welche die Ergebnisse der neuern westlichen Denker und Forscher in Betracht zieht, oder die Schranke, welche die siegreiche Orthodoxie dem Denken setzte, zu durchbrechen sucht, ist seit Ghasâli nicht die Rede. Auch in der Pflichtenlehre mußten das Festhalten am Buchstaben der Überlieferung und die Neigung zu ihrer kritischen Behandlung Gegensätze schaffen. Doch war der Kampf weniger heftig. Hier führte die Meinungsverschiedenheit über die Denktätigkeit als Mittel zur Gewinnung von Einzelsatzungen zu der Spaltung in verschiedene Schulen (madh-hab) der Rechtswissenschaft (ilm al fikh), welche die Feststellung der göttlichen Bestimmungen zur Aufgabe hat und in die Wissenschaft von den Grundlagen (um al ussûl) und die von dem Abgeleiteten (um al furû') zerfällt. Um 900 sind vier Rechtsschulen allgemein anerkannt und gelten als rechtgläubig, die der Hanefiten (s. d.), Malekiten (s. d.), Schâfiiten (s. d.) und Hanbaliten (s. Arabische Literatur, S. 661). Die letztgenannte hat nur noch wenige Anhänger. Für alle Schulen gilt, daß ihr Nebeneinanderbestehen als eine Gnade von Gott zu betrachten ist, sofern dadurch individueller Anlage und Fähigkeit ein Spielraum gelassen sei.
Die Pflichtenlehre ist ungenügend entwickelt und hat noch keine befriedigende Darstellung gefunden. Hindernd wirkte das Zusammenwerfen gottrechtlicher und menschenrechtlicher Bestimmungen, das in der Stellung des Rechtes im I. gegeben ist (s. oben). Das Hauptgesetz, aus dem alle andern fließen, ist für den Muslim die Einrichtung seines ganzen Lebens nach den Satzungen Gottes. Die Handlungen und Unterlassungen des geschlechtsreifen, des Verstandes mächtigen und nicht in Zwangslage sich befindenden Muslims gehören in jedem Fall einer von fünf Klassen an: 1) Gebotenes (fard, wâdschib), dessen Unterlassung bestraft wird; 2) Verdienstliches (mustahabb, sunna), dessen Unterlassung nicht bestraft, dessen Übung belohnt wird; 3) Verbotenes (harâm), dessen Übung bestraft wird; 4) Verpöntes (makrûh), dessen Unterlassung belohnt, dessen Übung nicht bestraft wird; 5) Gleichgültiges (mubâh), weder belohnt noch bestraft. Die Einzelbestimmungen, welche die Rechtswissenschaft (s. oben) zu ermitteln hat, wurden schon früh nach Materien geordnet zusammengestellt, aber nie wurde der Versuch gemacht, die Materien nach allgemeinen Gesichtspunkten kritisch durchzuarbeiten. Für einige ist diese Durcharbeitung von fränkischen Forschern (Kremer, Snouck Hurgronje, Goldziher) erfolgreich ausgeführt, aber eine Gesamtdarstellung besitzen wir nicht. Die islamischen Rechtswerke bilden eine äußerlich imponierende, innerlich höchst dürftige, fast nur die Ausschreibung und Kommentierung einiger wenigen, im wesentlichen gleichartigen Grundwerke darstellende Literatur. Der Versuch einer Kodifikation wurde in der Türkei gemacht, wo 1876 die Medschille promulgiert wurde mit Zivilrecht und Prozeßrecht (dieses aboliert durch die Zivil- und Strafprozeßordnung von 1878). In den theologisch-juristischen Lehrbüchern wird der ganze Rechtsstoff geteilt in: Pflichten gegen Gott (ibâdât) und gegen die Menschen (mu'âmalât). Jene, genannt Stützpfeiler der Religion, arkân ad dîn, sind: 1) das Gebet (Ssalât, s. d.), einschließlich das Aussprechen der Zeugnisworte (s. oben), das auch außerhalb des Gebetes von den Muslimen gern geübt wird, 2) Abgabe (Sakât, s. d.), 3) Fasten (Ssijâm, s. d.), 4) Wallfahrt (Haddsch, s. d.). Eine solidarische Pflicht (fard kifâje) aller Muslimen ist der Heilige Krieg (dschihâd), der in das Gebiet der Ungläubigen (dâr al harb) zu tragen und bis zur Eroberung des Landes zu führen ist; in diesem dürfen die Buchbesitzer (ahl kitâb, d. h. Juden, Christen, Magier, Ssabier) gegen Zahlung der Kopfsteuer (dschizja) geschützt wohnen bleiben, andre sind zu vertilgen. Die Ibâdât werden in den Rechtsbüchern zuerst behandelt. Darauf folgt das Obligationenrecht (Kauf, Pfand, Gesellschaftsvertrag, Mandat, Leihe, Miete, Schenkung, Depositum), Familienrecht (Eherecht, Erbrecht), Sachenrecht, Speisegesetze, Jagdrecht, Sklavenrecht, Staatsrecht, strafrechtliche und prozeßrechtliche Bestimmungen. Alles ist wenig geordnet und ohne daß auch nur der Versuch gemacht wird, allgemeine Gesichtspunkte zu gewinnen. Fast ganz unausgebildet ist das öffentliche Recht, entsprechend dem individuellen Charakter des Islams, dem die Welt nur eine Summe von unzusammenhängenden Einzelerscheinungen ist, gegeben durch die Willkür eines über allen Gesetzen stehenden höchsten Wesens. So herrscht auch im staatlichen Leben die Willkür, und wenn einzelne versuchten, Normen aufzustellen (wie Mâwardî, gest. 1058), so sind das theoretische Spekulationen, um die sich weder die Gemeinde noch ihre Leiter kümmerten. Aber die Notwendigkeit schuf gewisse Formen, nach Zeit und Ort verschieden. Die Staats-, Gesellschafts- und Verwaltungstatsachen gehören daher vielmehr in die Geschichte als in das System. Die Grundgedanken, die sich in ihnen aussprechen, und die wenigen positiven Vorschriften sind folgende: der enge Zusammenschluß der Mitglieder der Gemeinde führt zum Austausch der Gedanken, zur Ermittelung des Richtigen und zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls wie der Macht gegen äußere Feinde; daher wird die Mahnung Mohammeds zum Festhalten an der Gemeinschaft (luzûm al dschamâʿa) eingeprägt. Der Gemeinde Konsensus wirkt gesetzbildend, er auch bezeichnet den zu ihrer Leitung Geeignetsten: so ist der Staat nach Mohammeds Tod ein Wahlkönigtum mit Beschränkung des passiven Wahlrechtes auf die Koraischiten. Diese Staatsform ist dem Scheine nach beibehalten worden, indem die dem durch Todesfall oder durch Gewaltakt zur Macht gelangten Herrscher geleistete Huldigung (mubâja'a) als eine Übertragung der Macht durch die Gemeinde angesehen wurde. Tatsächlich kam mit Mu'âwija, dem ersten Omaijaden, die Hausherrschaft mit ungeregelter Erbfolge auf. Der Gemeindeleiter heißt als Nachfolger Mohammeds in der äußern Leitung Kalif (s. d.), später auch Imâm (s. d.) und Emîr al Mu'minîn, »Fürst der Gläubigen«. Der Kalif ist absolut, wenn auch theoretisch die Gemeinde das Recht hat, das übertragene Amt zu entziehen. Aus dieser Theorie erklären sich die Militärputsche, die im I. so zahlreich sind, denn jeder Bandenführer konnte sich als Vertreter des Gemeindewillens aufspielen; es gab im I. bei dem Fehlen wahrer Gesittung nie eine von der Idee der Reform begeisterte und sie der unwilligen Regierung aufzwingende einige Mehrheit. Irrig ist die verbreitete Ansicht, der Kalif sei zugleich geistlicher Herrscher, eine Art Hohepriester. Er ist grundsätzlich dem Gesetz ebenso unterworfen wie der niederste Mann, und er hat im Zweifelfalle sich an die berufenen Kenner des Gesetzes zu wenden, die ihr ihn bindendes Rechtsgutachten (Fetwa, s. d.) abgeben. Natürlich ist das meist eine Farce, da der starke Kalif oder der, dem er die Leitung kommittiert hat (Seldschuken, Mamluken), den Theologen-Gutachtern befiehlt, wie sie zu gutachten haben. Der Kalif läßt die größern Einheiten seines Landgebietes durch Statthalter (âmil, wâlî) verwalten. Über die Einkünfte des Staatsschatzes (bait al mâl), die bestehen in 1) der Armenabgabe (sakât, s. d.), 2) dem Fünftel der Kriegsbeute, 3) der Steuer der Nichtmuslime für die Person (dschizja), 4) der Steuer für den Grundbesitz (charadsch), verfügt der Kalif nach freiem Ermessen, und das Bestehen einer Rechnungskammer (dîwân) hinderte nie die Vergeudung, wenn der Fürst nicht durch eigne oder guter Minister Einsicht beschränkt wurde. Eine Anzahl höchster Hof- und Staatsbehörden unterstützte den Kalifen in der Geschäftsführung, doch hingen die Machtverhältnisse der Behörden durchaus von dem Staatsoberhaupt oder den Unterströmungen ab und waren wechselnd. Das Heerwesen unterstand anfangs den Emiren, »Generalen«, später dem Dîwân al Dschund, »Kriegsministerium«, doch hat seit etwa 900 die Säbelmacht der General der türkischen Garden inne.
Die Rechtspflege wird von den durch den Kalifen ernannten Richtern (Kâdî, s. d.) geübt. Da es ein Staatsgesetzbuch nicht gab (s. oben), sondern jeder Richter befugt war, irgend eines der innerhalb der Schule anerkannten Handbücher seinem Entscheide zugrunde zu legen, wozu bei den Hanefiten das Nebeneinanderhergehen der Rechtsentwickelung durch Abû Hanîfas Schüler Abû Jûsuf und Mohammed kommt, da die Prozeßparteien also keine Möglichkeit hatten, sich auf allgemein gültige Bestimmungen zu berufen, da vor allem die Kenntnis des Rechtes als ein nur einer kleinen Kaste vorbehaltenes Gut galt, war der Unredlichkeit Tor und Tür geöffnet, und das Bestehen des Appellhofes (nazar al mazâlim) in der Hauptstadt wollte wenig besagen, zumal auch da meist geldgierige Beamte wirkten. Gänzlich versagte die äußerst primitive Grundlage der Rechtsprechung in Strafsachen, da die vorhandenen Bestimmungen den mannigfaltigen kulturellen und sozialen Lebensbedingungen der Bewohner des islamischen Reiches bei weitem nicht genügten u. die Materien nach keiner Seite hindurchgearbeitet waren. Das Gerichtsverfahren kannte außer dem Eid nur den Zeugenbeweis; das Fehlen des Urkundenbeweises brachte für Erledigung zahlreicher Rechtsfälle Unzuträglichkeiten mit sich und war ein schweres Hindernis für Ausbildung des geschäftlichen Verkehrs. Lag auch nominell die Vollstreckung der Urteile dem Richter ob, so wird er allemal ohne die Zivilgewalt machtlos gewesen sein, und wer ein Urteil erstritten, hatte damit noch lange nicht sein Recht. Den schwersten Übelstand bildete das Vorhandensein eines Beamten, dessen Funktionen sich mit denen des Richters berührten, des Polizeimeisters (muhtasib). Er hatte in erster Linie die Marktaufsicht, und sicher war der kurze Prozeß hier nötig. Er hatte aber auch Strafbefugnis; deren Beschränkung auf delictum flagrans ließ immer noch weite Einmischung zu. Auch die Aussicht über Witwen und geschiedene Frauen, über die Nichtmuslime und die Sklaven und die Verhütung von Unfug, wie Weinverkauf, Weintrinken und Glücksspiel, werden zu zahlreichen Übergriffen Anlaß gegeben haben. Die Nichtachtung der Persönlichkeit dessen, der keinen »Rücken«, d. h. mächtigen Schützer, hat, spricht sich am deutlichsten in der Polizeiwirtschaft aus, wie sie durch die Macht des Muhtasib dargestellt wird. Verhältnismäßig gut ausgebildet sind das Personenrecht und das Obligationenrecht, jenes unter dem Einflusse der vorislamischen Sitte der Araber, dieses unter dem des hochentwickelten römischen Rechtes. Aus dem Heidentum wurde herübergenommen die Stellung des Sklaven und die der Frau. Bedeutende Übelstände, wie die Eifersucht des Individuums auf seine Selbstherrlichkeit, das Nichtsichfügen zum Gemeinwohl, der Haß der Stämme gegeneinander, wurden möglichst ausgeschaltet durch das Prinzip der Gleichberechtigung aller, die den Namen Muslim führen. Theoretisch besteht dieses Prinzip weiter, in Wirklichkeit herrschte und herrscht in allen islamischen Ländern ein Klassenunwesen, das die Gesellschaft bis auf die Knochen verdirbt. Vor allem wurde durch das Eindringen persischer Unsitte die Frau zum Menschen zweiter Klasse gemacht. Finden sich bereits in Koran und Sunna herabwürdigende Bestimmungen (Prügelrecht des Mannes, halbes Recht der Frau in Erbschafts- und Zeugnissachen, Ehetrennung des Mannes nach Belieben, der Frau nur durch Erringung richterlichen Urteils), so bleiben ihr doch noch bedeutende persönliche und Vermögensrechte. Die spätere Praxis sieht in ihr nur das Fortpflanzungsmittel, eine Sache, die der Mann nimmt und forttut, ein Wesen, dessen geistige und sittliche Kräfte zu entwickeln unnütz, ja gefährlich ist. Daneben die Ordnung der Gesellschaft, die ein Hohn auf die Gleichheit aller Muslime ist: die Gegensätze von arm und reich, von Gelehrten und Ungelehrten treten schroff hervor, der Besitz- und der Wissensdünkel können sich alles erlauben. Für das unerfreuliche Bild, das der I. in den Ländern, wo er herrscht, von Staat, Gesellschaft, Recht, Geisteskultur immer bot und in erhöhtem Maße heute bietet, ist einzig das Überwiegen der religiösen Richtung verantwortlich zu machen, die in Gott den unstet hin und her fahrenden Despoten sieht, in dem Koran das mit und in, ja, als Gott von Urewigkeit her bestehende Wort, und in den nur allzu menschlichen Auslegern des Wortes die berufenen Bestimmer aller Normen des Lebens und Richter über die Handlungen aller Glieder der Gemeinde.
Die Ausbreitung des Islams ist Pflicht jedes Muslims, und so waren und sind die zahlreichen Händler und Reisenden in Heidenländern oft Bekehrer. Hauptsächlich wurde die Predigt aber durch das Schwert betrieben. Wo der I. Wurzel gefaßt, ist er wegen der Leichtfaßlichkeit seines Bekenntnisses und der Lehre vom Abfall (irtidâd) als einer nur mit dem Tode zu sühnenden Sünde nicht zu beseitigen. Die christliche Mission hat unter Muslimen keinen Erfolg. Der numerische Stand der Islambekenner war 1897 folgender:
Bei Schätzung der Gesamtbevölkerung der Erde auf 1,521,600,000 entfallen davon auf den I. 16,5 Proz. (etwas weniger als ein Sechstel); s. die »Religions- und Missionskarte der Erde«. Ein Anwachsen dieser Ziffer anders als durch natürliche Vermehrung, deren Prozentsatz nicht beträchtlich ist, ist bei der gegenwärtigen Weltlage unwahrscheinlich. Denn weder äußere noch innere Eroberungen zu machen ist der I. jetzt und künftig in der Lage, da überall die europäischen Kulturstaaten die Bewegung der islamischen Gebiete überwachen. Von dem sogen. Panislamismus droht keine Gefahr. Denn diese Bewegung, die nichts Neues, sondern ein im Wesen des Islams Liegendes ist, hat in der großen Masse der heutigen Muslime keinen Boden, ist vielmehr die weit über die wahre Bedeutung aufgebauschte Agitation einiger kleiner Gruppen, die politische, sektiererische oder auch nur niedrig persönliche Ziele verfolgen.
Vgl. Dozy, Het Islamisme (Haarlem 1863; franz. von Chauvin, Leiden-Paris 1879); v. Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams (Leipz. 1868) und Kulturgeschichte des Orients unter den Kalifen (Wien 1875–76, 2 Bde.); Snouck Hurgronje, De I. (in »De Gids«, 1886, Nr. 5); Goldziher, Muhammedanische Studien (Halle 1889–90, 2 Bde.); T. W. Arnold, The preaching of I. (Lond. 1896); Jansen, Verbreitung des Islams (Friedrichshagen-Berlin 1897); Hartmann, Der islamische Orient (Berl. 1899–1902,5 Hefte).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.