Hessen-Kassel

Hessen-Kassel

Hessen-Kassel, bis zum Ausbruch des deutschen Krieges von 1866 ein Kurfürstentum und ein Staat im Deutschen Bund, 9581 qkm (174 QM.) groß mit (1864) 745,063 Einw., bildet jetzt im wesentlichen den Regierungsbezirk Kassel in der preußischen Provinz Hessen-Nassau (s. d.). Das Kurfürstentum bestand aus dem Stammland oder dem eigentlichen Hessen, dem Fürstentum Hersfeld, dem Großherzogtum Fulda, dem Fürstentum Hanau und einigen abgesonderten Teilen, wie der Grafschaft Schaumburg im N., der Herrschaft Schmalkalden im O. und einigen kleinern Gebieten, von denen Nauheim 1866 an das Großherzogtum Hessen kam.

Hessen-Kassel als Fürstentum des alten Reiches.

Bei der Teilung Hessens durch Landgraf Ph i Philipp den Großmütigen bei seinem Tode 1567 (s. Hessen, S. 263) erhielt der älteste Sohn, Landgraf Wilhelm IV., der Weise (1567–92), Niederhessen mit Ziegenhain und Schmalkalden und begründete die ältere Linie des hessischen Fürstenhauses, die bis 1866 herrschte. Er ordnete den Staatshaushalt und vergrößerte sein Gebiet 1583 durch den ihm zufallenden Anteil der Grafschaft Rheinfels, die Herrschaft Plessa, ein Stück von Hoya und den Rest von Schmalkalden. Unter seinem Sohn Moritz dem Gelehrten (1592 bis 1627) hatte H. alle Schrecken des Dreißigjährigen Krieges zu erdulden und war den Ligisten um so mehr verhaßt, als der Übertritt des Fürsten zur reformierten Lehre (1605), sein treues Festhalten an der Union und seine Absicht, seine Stammlande mit Heeresmacht zu verteidigen, ihn mit seiner Ritterschaft entzweiten und diese ihm die Mittel zur Abwehr der Feinde verweigerte. 1623 vom Kaiser gezwungen, den 1604 von seinem Oheim Ludwig ererbten Teil von Oberhessen an Darmstadt abzutreten (s. Hessen, Großherzogtum, S. 271), verzichtete er aus Kummer über den Ruin seines Landes 1627 auf das Regiment zugunsten seines ältesten Sohnes, Wilhelm V., und starb 1632. Seine übrigen drei Söhne aus zweiter Ehe, Hermann, Friedrich und Ernst, stifteten die Nebenlinien zu Rotenburg (bis 1658), Eschwege (bis 1655) und Rheinfels. Die letztere brachte die Besitzungen von Rotenburg und Eschwege nach deren Erlöschen an sich und teilte sich 1693 wieder in Rheinfels-Rotenburg (bis 1834) und Rheinfels-Wanfried (bis 1755).

Wilhelm V., der Beständige, schloß sich als einer der ersten im August 1631 an Gustav Adolf an, stellte ein treffliches Heer auf und erhielt zum Lohn die Stifter Paderborn, Korvei und Fulda. Nach Gustav Adolfs Tode geriet Wilhelm wiederholt in Bedrängnis, da die Ritterschaft die Mittel für das Söldnerheer fast ganz versagte; zweimal, 1636 und 1637, ward H. von den Kaiserlichen überschwemmt und geplündert, und Wilhelm starb 1637 zu Leer in Ostfriesland. Mit männlicher Tatkraft und Entschlossenheit führte seine Witwe Amalie Elisabeth für ihren unmündigen Sohn Wilhelm VI. (1637–63) die Regierung, eroberte die Stammlande wieder und behauptete im Bunde mit Schweden und Frankreich mit einem Heere von 20,000 Mann H. und einen Teil Westfalens. Im Westfälischen Frieden verlor sie die drei Stifter, erwarb aber Hersfeld und den größten Teil der Grafschaft Schaumburg, erlangte auch durch einen Erbvergleich mit Hessen-Darmstadt einen Teil von Oberhessen mit Marburg zurück und führte die Primogenitur ein. 1650 ward Wilhelm VI. selbständiger Herr, machte sich um die höhern Lehranstalten seines Landes sehr verdient und trat 1658 dem Rheinbund bei. Ihm folgte sein Sohn Wilhelm VII. unter Vormundschaft seiner Mutter Hedwig Sophie von Brandenburg, die, als Wilhelm VII. noch unmündig 1670 starb, auch für den jüngern Bruder, Karl (1670 bis 1730), bis 1675 die Vormundschaft führte; Karls jüngster Bruder, Philipp, stiftete die Nebenlinie Philippsthal, von der sich 1721 die Linie Philippsthal-Barchfeld abzweigte. Auf Karl folgte als Landgraf sein ältester Sohn, Friedrich I. (1730–51), der durch seine Vermählung mit Ulrike Eleonore, Schwester Karls XII., 1720 König von Schweden wurde; er ernannte seinen Bruder Wilhelm zum Statthalter in H., und dieser folgte ihm 1751 als Wilhelm VIII., beteiligte sich als Verbündeter Englands am Siebenjährigen Kriege, machte dadurch H. wiederholt zum Kriegsschauplatz, besonders für die Franzosen. Die Jesuiten hatten 1749 Wilhelms ältesten Sohn, Friedrich, zum heimlichen Übertritt zum Katholizismus bewogen; als dies 1754 bekannt wurde, verordnete Wilhelm VIII., unterstützt von Preußen und Hannover und im Einverständnis mit den Ständen, durch die Assekurationsakte, daß Friedrich als Landgraf weder einem Katholiken eine öffentliche Stellung geben, noch öffentlichen katholischen Gottesdienst in H. gestatten dürfe, und überwies schon damals Friedrichs ältestem Sohn, Wilhelm (später Wilhelm IX.), die 1736 an H. gefallene Grafschaft Hanau als selbständiges Fürstentum. Friedrich stimmte, um sein Erbrecht zu behalten, zu und hielt sie während seiner Regierung als Landgraf Friedrich 11. (1760–85) gewissenhaft ein. Gleich seinem Vater ein Begünstiger von Kunst und Wissenschaft, hob er die Kultur des Landes, sammelte Kunstschätze, schmückte Kassel mit Bauten und ließ um des für das Land wesentlichen finanziellen Vorteils willen seit 1776 mehrere Jahre ein hessisches Heer von 19,000 Mann in Nordamerika für die englische Regierung gegen die aufständischen Kolonien kämpfen. Bis in die neueste Zeit ist ihm dies schwer verübelt worden, aber eine gerechte Beurteilung darf nicht vergessen, daß es sich nicht um ein Volks-, sondern ein Söldnerheer handelte, und daß damals eine Beteiligung am Kampfe für andre gegen Bezahlung ganz gewöhnlich war. (Vgl. v. Werthern, Die hessischen Hilfstruppen im nordamerikanischen Unabhängigkeitskriege, Kassel 1895.) Landgraf Wilhelm IX., bisher Graf von Hanau, nahm 1792 an dem Kriege gegen Frankreich teil, erlangte 1793 von England den Solo für 8000 Mann, befehligte diese selbst als Hilfstruppen der preußischen Armee, erstürmte Frankfurt und eroberte Mainz. 1795 schloß er sich dem Frieden von Basel an, erhielt im Reichsdeputationshauptschluß für das 1735 erworbene Rheinfels (40 qkm und 2500 Seelen) die Reichsstadt Gelnhausen und die Enklaven Fritzlar, Holzhausen und Amöneburg (280 qkm mit 14,000 Einw.) nebst der Kurwürde, infolgedessen er 15. Mai 1803 den Titel eines Kurfürsten (Wilhelm I.) annahm. Zwar hielt er meist zu Preußen, wagte aber 1806 doch nicht vor Beginn des Krieges offen auf seine Seite zu treten und schloß sogar 3. Okt. einen Neutralitätsvertrag mit Napoleon, aber nach der Schlacht bei Jena nahm Napoleon I. Nov. 1806 des Kurfürsten eifrige Rüstungen zum Vorwand und erklärte ihn aller seiner Lande für verlustig; die Franzosen besetzten Kassel, und der Kurfürst floh. Nach dem Tilsiter Frieden wurde H. ein Bestandteil des neugeschaffenen Königreichs Westfalen; nur Hanau teilte Napoleon später dem Großherzogtum Frankfurt zu.

Verfassungskämpfe.

Die Herrschaft des leichtsinnigen, verschwenderischen Königs Jérôme, der in Kassel und Wilhelmshöhe residierte, brachte dem Lande neben großen finanziellen Opfern und der schweren Blutsteuer auch die auf Gleichberechtigung aller Staatsbürger begründete französische Verfassung. Ein Teil des gebildeten Bürgertums arbeitete treu an den beschlossenen und beabsichtigten Reformen zum Wohl der Heimat mit, der Adel verkehrte teilweise am Hofe des Emporkömmlings und überbot sich in Servilität. Wenn auch ein Aufstandsversuch, den v. Dörnberg (s. d.) 1809 unternahm, wegen Mangel an Umsicht scheiterte, so ertrug doch das Volk als Ganzes die Fremdherrschaft mit Unwillen, und als sie Ende Oktober 1813 nach der Schlacht bei Leipzig zusammenbrach, wurde Wilhelm I. bei der Rückkehr in seine Hauptstadt nach siebenjähriger Abwesenheit 21. Nov. begeistert empfangen. Auf dem Wiener Kongreß erhielt er auf Grund seines Vertrags mit den Verbündeten vom 2. Dez. 1813 alle seine früheren Lande zurück und für die Grafschaft Katzenelnbogen am Rhein als Entschädigung das Großherzogtum Fulda; da man ihm den Titel eines »Königs der Katten« nicht bewilligte, behielt er als einziger Fürst den bedeutungslos gewordenen Titel Kurfürst mit dem Prädikat »Königliche Hoheit« bei. Sofort beseitigte er, und zwar rücksichtslos, alle Reformen und Neuerungen der westfälischen Zeit in der Besteuerung, den Finanzen, dem Rechtswesen, der Verwaltung, der Schule und behielt nur die Maßregeln bei, die, wie die Herabsetzung der alten hessischen Landesschuld und neue Steuern, die Rechte und Einkünfte des Landesherrn vermehrten. Die westfälische Staatsschuld, die Verkäufe von Domänen, die Ablösungen der Kammergefälle von Zinsen, Zehnten und Diensten wurden einfach für nichtig erklärt. Alles sollte auf den Stand vom 1. Nov. 1806 zurückversetzt werden: die Beamten erhielten ihren damaligen Rang und Posten wieder, und die Soldaten legten nach ihrer Rückkehr vom Kriege gegen Frankreich die alte Uniform, auch den Zopf wieder an. Des Kurfürsten Hauptziel war die Erhöhung der Einkünfte, die aber sämtlich in seine von der Staatskasse nicht getrennte Kammerkasse flossen. Seinem im Vertrag vom 2. Dez. 1813 gegebenen Versprechen gemäß, berief er im März 1815 die alten Stände und verlangte 4 Mill. Tlr., die er für das Land ausgelegt zu haben behauptete. Mit Mühe wurde die Summe auf 400,000 Tlr. herabgesetzt und die Anerkennung der alten Landesschuld erlangt. Im Februar 1816 legte die Regierung den Ständen einen Verfassungsentwurf vor. Doch da diese eine Bestimmung über das Landesvermögen einzufügen und die neue Verfassung unter die Bürgschaft von zwei deutschen Staaten zu stellen wünschten, wurden sie im Mai entlassen und nicht wieder berufen. Die Regierung erließ 4. März 1817 nur ein Hausgesetz.

Wilhelm I. (gest. 27. Febr. 1821) folgte sein einziger Sohn, Wilhelm II., der den Zopf abschaffte, Verwaltung und Justiz trennte und erstere, allerdings mit einem großen Apparat (vier Regierungen und Finanzdirektionen für die vier Provinzen), neuorganisierte. Aus Haß gegen Preußen beteiligte sich der Kurfürst an dem 1828 gegründeten mitteldeutschen Handelsverein, nach dessen Auflösung 1834 sich H. dem preußischen Zollverein anschließen mußte. Den Wunsch nach Verleihung einer Verfassung erfüllte der Kurfürst nicht, reizte das Volk durch Willkürakte, besonders aber durch sein anstößiges Verhältnis zu Emilie Ortlöpp aus Berlin, zur Unzufriedenheit; er erhob letztere zur Gräfin von Reichenbach und beschenkte sie mit reichen Gütern in Mähren, während die allgemein geliebte Kurfürstin, eine preußische Prinzessin, vom Hof entfernt lebte. Unter diesen Umständen kam es 1830 nach der Julirevolution besonders in Kassel, Fulda und Hanau zu ernstlichen Unruhen, der Kurfürst genehmigte im September nach seiner Rückkehr aus Karlsbad die Berufung der Landstände des gesamten Landes, denen die Regierung im Oktober einen Verfassungsentwurf vorlegte. In erweiterter Form, die Monarchie fast beseitigend, erhielt er 5. Jan. 1831 Gesetzeskraft: die Volksvertretung, nach Ständen gewählt, bestand aus einer alle drei Jahre zu wählenden Kammer, hatte das Recht der Steuerbewilligung, der Feststellung des Staatshaushalts und der Mitwirkung bei der Gesetzgebung und setzte, während sie nicht tagte, einen Landesausschuß ein; die Minister waren voll verantwortlich, der Haus- und Staatsschatz wurde zur Hälfte dem Land überwiesen. Der Kurfürst verlegte seine Residenz nach Hanau und ernannte 30. Sept. 1830 den Kurprinzen Friedrich Wilhelm zum Mitregenten, um die alleinige Regierung zu führen, bis er selbst nach Kassel zurückkehren werde, was nie geschah. Der Kurprinz, zwar nicht roh und sittenlos wie sein Vater, aber wenig begabt und mißtrauisch, besaß doch dessen Eigenwillen und Geiz; seine Umgebung, namentlich Hassenpflug (s. d., seit 1832 Minister), übte einen ungünstigen Einfluß auf ihn aus. Hassenpflug verweigerte den Beamten, die Abgeordnete waren, den Urlaub, beantwortete jeden Beschluß des Landtags, der ihm nicht genehm war, jede Anklage gegen das Ministerium mit Auflösung des Landtags, dessen Beratungen daher für das Land wenig Früchte trugen; nur eine treffliche Gemeindeordnung kam 1834 zustande. Verschärft wurde der Streit zwischen dem fürstlichen Haus und dem Landtag, als 1834 die Linie H.-Rheinfels-Rotenburg (s. d.) ausstarb und der in H. gelegene Teil der sogen. Rotenburger Quart an H. zurückfiel: der Landtag nahm denselben als Staatsgut in Anspruch und wollte die Einkünfte unter den Staatseinnahmen verrechnet wissen, die Regierung erklärte das Land als ein dem Fürstenhause zugefallenes Fideikommiß und ließ ungeachtet aller Proteste und Beschlüsse des Landtags die Einkünfte in die Kammerkasse fließen. Durch Eingriffe bei den Wahlen, willkürliche Besetzung der Gerichte, Maßregelung und Verfolgung Mißliebiger, wie besonders den Prozeß gegen S. Jordan (s. d.), bekämpfte die Regierung die Opposition und setzte diese Politik auch nach Hassenpflugs Entlassung (1837) fort. Bei den Wahlen von 1842 und 1847 erlangte sie eine ihr günstige Mehrheit und setzte 1842 die Erhöhung des Militäretats und andre finanzielle Forderungen durch, aber die Ablehnung aller Reformen und die hartnäckige Verteidigung mißliebiger Vorlagen trieben jeden Landtag zuletzt zur Opposition.

Als der Kurprinz nach dem Tode seines Vaters (20. Nov. 1847) als Friedrich Wilhelm I. (s. Friedrich 26) Kurfürst geworden war, setzte er sofort eine Kommission ein, um die ihm unbequemen Artikel der Verfassung von 1831 zu beseitigen. Die Februarrevolution von 1848 brachte die allgemeine Erbitterung gegen die herrschende Mißwirtschaft zum Ausbruch; Hanau und Marburg schickten Deputationen nach Kassel, wo 5. März eine Volksversammlung eine energische Petition an den Kurfürsten richtete. Dieser hatte ebenso wie seine Minister den Mut verloren, entließ sofort den verhaßten Minister Scheffer, berief populäre Männer in die Regierung, führte 7. März durch eine landesherrliche Verkündigung eine Reihe zeitgemäßer Reformen ein und stellte andre in Aussicht. Am Tage der Landtagseröffnung, 11. März, erschienen mehrere Verordnungen, die allgemeine Amnestie, Religions- und Gewissensfreiheit, Aufhebung aller Beschränkungen des Petitions- und Versammlungsrechts, Preßfreiheit u. a. bewilligten. Der Landtag beschloß im Sommer 1848 im Verein mit dem neuen Ministerium Eberhard eine große Zahl Reformgesetze und die Einkünfte der Rotenburger Quart unter den Staatseinnahmen zu verrechnen, aber auf Rückerstattung der von der kurfürstlichen Kammer bezogenen Summen zu verzichten. Das im Herbst angenommene neue Wahlgesetz bestimmte allgemeine direkte Wahlen der 48 Abgeordneten (je 16 für die Städte, die Landgemeinden und die Höchstbesteuerten), Anfang 1849 wurden die deutschen Grundrechte und 30. April die Reichsverfassung veröffentlicht. Nach dem Scheitern der Reichsverfassungsreform schloß sich die Regierung der preußischen Union an, trat 6. Aug. dem Dreikönigsbündnis bei, ließ die Abgeordneten für das Erfurter Parlament wählen und nahm noch an den Verhandlungen über die Unionsverfassung teil. Aber ein Zwist zwischen dem Ministerium und dem Kurfürsten über die Wahl der Vertreter Hessens für das Erfurter Staatenhaus trieb letztern, der nur aus Furcht vor Unruhen die Politik des Ministeriums geduldet hatte, im Februar 1850, als Österreich wieder erstarkt und im Verein mit Bayern und Württemberg entschlossen war, den alten Bund herzustellen, dazu das Ministerium Eberhard zu entlassen und 23. Febr. 1850 Hassenpflug wieder an die Spitze der Regierung zu berufen. Dieser versprach 26. Febr. im Landtag, nach der Verfassung von 1831 zu regieren, aber weder Landtag noch Volk brachte ihm Vertrauen entgegen. Unbekümmert um deren feindselige Haltung arbeitete Hassenpflug für Herstellung des alten Bundestags und Beseitigung der Verfassung von 1831 nebst den Reformen von 1848; am 2. Sept. 1850 wurde der Landtag aufgelöst, 4. Sept durch kurfürstliche Verordnung die Forterhebung sämtlicher Steuern verfügt und 7. Sept. der Kriegszustand über das Land verhängt. Der Kurfürst verlegte seine Residenz von Kassel nach Wilhelmsbad bei Hanau, rief den am 1. Sept. zusammengetretenen sogen.en gern Rat des Bundestags um Beistand an und erhielt von diesem 21. Sept. den Rat, alle Mittel anzuwenden, um die bedrohte landesherrliche Autorität in H. wieder herzustellen. Dieser Bundesbeschluß ward 23. Sept. veröffentlicht, 30. Sept. die Dekrete vom 4. und 7. Sept. der Kognition der Gerichte entzogen und die Kompetenz der Militärgerichte erweitert. Dem verfassungstreuen General Bauer ward 1. Okt. der Oberbefehl über die hessische Armee entzogen und General v. Haynau an seine Stelle berufen, der die Bürger wehr auflöste, die Presse unterdrückte und eine Menge Verhaftungen vornahm. Haynaus Sohn, der Kriegsminister, forderte von den Offizieren unbedingten Gehorsam gegen alle Befehle, und als die meisten unter Berufung auf ihren auf die Verfassung geleisteten Eid sich dessen weigerten und 9. Okt. den Abschied forderten, rief Hassenpflug 15. Okt. die Intervention des Bundestags an, die von Österreich und den süddeutschen Königreichen in Bregenz schon beschlossen worden war; 1. Nov. rückte ein österreichisch-bayrisches Korps von 25,000 Mann, die sogen. Strafbayern, in H. ein. Da alle Proteste des Ständeausschusses, alle Adressen der Bevölkerung erfolglos blieben, bestand nur noch die Hoffnung, daß Preußen die Intervention des Bundestags nicht dulden werde. In der Tat rückten 2. Nov. zwei preußische Divisionen in das nördliche H. ein, 8. Nov. kam es zu dem Zusammenstoß mit den Bundestruppen bei Bronnzell, aber Friedrich Wilhelm IV. scheute vor einem Kriege zurück und gab in Olmütz H. dem Bundestage preis. Die preußischen Truppen räumten das Land, die kurhessischen Truppen wurden entlassen, die Steuern durch Bundesexekution eingetrieben und alle Beamten, welche die Septemberverordnungen nicht anerkannten, verabschiedet. Der beharrlich weiter protestierende Ständeausschuß wurde vom Bundeskommissar Grafen Leiningen suspendiert, und als er Hassenpflug beim Oberappellationsgericht verklagte, seine Mitglieder verhaftet und vom Bundesmilitärgericht zu gelinder Geldstrafe verurteilt.

Reaktionäre Herrschaft und Sturz des Kurfürsten.

Nachdem der Widerstand des Volkes gebrochen schien, verließen die Bundesexekutionstruppen 1851 das Land; im März 1852 setzte der Bundestag die Verfassung von 1831 mit den Zusätzen von 1848 und 1849 außer Wirksamkeit und genehmigte den von der Regierung vorgelegten Entwurf einer neuen. Diese am 13. April 1852 veröffentlichte provisorifche Verfassung führte zwei Kammern mit namentlich in finanzieller Beziehung sehr beschränkten Rechten ein und überließ dem Kurfürsten den größten Teil der Domänen. Zwar erlangte die Regierung bei den Wahlen eine ihr geneigte Mehrheit, aber auch mit dieser gab es auf die Dauer keine Verständigung, da der Kurfürst durch sein Streben, seinen Hausschatz zu vermehren, durch das Verbot, Eisenbahnen und Fabriken zu bauen, die materielle Entwickelung des Landes hemmte. Im Staatshaushalt war regelmäßig Defizit, die Verwaltung willkürlich, in Kirche und Schule herrschte eine verfolgungssüchtige Orthodoxie. Regten sich die Kammern und verlangten sie gar eine Revision der oktroyierten Verfassung, so wurden sie aufgelöst oder vertagt. Nach der Entlassung Hassenpflugs (im Oktober 1855) erzielte Scheffer durch Zulassung einiger Verfassungsänderungen und durch Versprechungen ein paar Jahre Ruhe; doch 1859, als auch im übrigen Deutschland das öffentliche Leben einen Aufschwung nahm, forderte man unter Führung Ötkers (s. d.) in H. die Wiederherstellung der Verfassung von 1831. Um dieser Agitation die Spitze abzubrechen, erließ die Regierung mit Genehmigung des Bundes 30. Mai 1860 eine neue Verfassung und ein neues Wahlgesetz für die Kammer (die Erste Kammer wurde fallen gelassen), das Volk wählte zumeist Anhänger der Verfassung von 1831, die sofort nach dem Zusammentritt des Landtags gegen die Verfassung von 1860 protestierten und die Wiederherstellung der von 1831 forderten; dreimal hintereinander wurde deshalb 1861–62 die Kammer aufgelöst, aber immer wieder gewählt. Endlich legte sich Preußen ins Mittel, stellte 8. März 1862 beim Bunde den Antrag, bei der kurhessischen Regierung auf die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 hinzuwirken, und gab demselben durch Anordnung der Kriegsbereitschaft des 4. und 7. Armeekorps Nachdruck. Dennoch empfing der Kurfürst den preußischen General v. Willisen, der mit einem Schreiben des Königs Wilhelm I. in Kassel erschien, in beleidigender Weise und stellte erst, als Preußen mit Okkupation drohte und der Bund 24. Mai 1862 die Wiederherstellung der Verfassung von 1831 beschloß, 22. Juni 1862 diese her. Gleich die erste nach dem alten Wahlgesetz gewählte Kammer wurde im November nach wenigen Wochen wieder aufgelöst. Erst als der König von Preußen 26. Nov. 1862 einen Feldjäger mit neuer Androhung einer Okkupation schickte, fügte sich der Kurfürst, ernannte aber nur Gegner der Verfassung zu Ministern und suchte den Liberalen ihren Sieg dadurch zu vergällen, daß er überhaupt alle Regierungstätigkeit einstellte, worunter der Wohlstand des Landes sehr litt. Alle Beschwerden blieben unbeachtet.

Als 1866 der Konflikt zwischen Österreich und Preußen ausbrach, beobachtete der Kurfürst aus Furcht vor Preußen lange strenge Neutralität, erst 13. Juni befahl er, von Österreich ermutigt, die Mobilmachung, stimmte 14. Juni im Bundestag gegen Preußen und lehnte 15. Juni dessen Ultimatum, das ihm unter der Bedingung der Neutralität und des Eintritts in den neuen Bund sein Gebiet zusicherte, ab. Die hessischen Truppen gingen in aller Eile nach Hanau, die preußische Division v. Beyer rückte 16. Juni von Wetzlar aus in H. ein und besetzte 20. Juni Kassel; der Kurfürst, der ruhig auf seinem Schloß Wilhelmshöhe geblieben war, 22. Juni vom General v. Röder nochmals aufgefordert, sich dem neuen Bunde bedingungslos anzuschließen, wurde nach wiederholter Weigerung 23. Juni als Staatsgefangener nach Stettin gebracht, wo er sich 17. Sept. durch Vertrag mit Preußen wenigstens die Einkünfte des Hausfideikommisses sicherte. H., 20. Sept. 1866 mit Preußen vereinigt, bildet seitdem einen Teil der neuen Provinz Hessen-Nassau. Die Bevölkerung hat den Wechsel der Herrschaft nicht bedauert, und die geschickte Verwaltung des Oberpräsidenten v. Möller sowie die großmütige Regelung der finanziellen Angelegenheiten hat den Übergang erleichtert. Die 1831 dem Lande zugewiesene Hälfte des Haus- und Staatsschatzes ward 16. Sept. 1867 dem kommunalständischen Verband des Regierungsbezirks Kassel überwiesen, und die Einkünfte kamen nun wirklich dem Lande zugute. Das Hausfideikommiß dagegen wurde wegen der Wühlereien des in Böhmen lebenden Kurfürsten und seiner wenigen Anhänger 1868 von Preußen mit Beschlag belegt, aber aus den Einkünften wurde dem ältesten Agnaten des Hauses Hessen-Kassel, dem Landgrafen Friedrich (gest. 14. Okt. 1884), 26. März 1873 die Erhöhung seines Einkommens auf 606,000 Mk. und 1880 den Nebenlinien Philippsthal und Philippsthal-Barchfeld eine jährliche Rente von 300,000 Mk. gewährt; jede der drei Linien (Haupt derselben ist Landgraf Alexander Friedrich in Philippsruhe bei Hanau, geb. 25. Jan. 1863) erhielt einige Schlösser. Die Unterhaltung der übrigen übernahm die Krone Preußen, die das Hausfideikommiß und das aus dem Nachlaß des Kurfürsten 1875 hinzugekommene Silberzeug durch die Regierung in Kassel verwalten läßt und auf Kosten desselben mehrere Bauten (Gemäldegalerie in Kassel, Restauration des Marburger Schlosses u. a.) ausführte. Vgl. Rommel, Geschichte von H. (Gotha u. Kassel 1820–58, 10 Bde.); K. Schomburg, Briefwechsel und Nachlaß mit biographischen Andeutungen, herausgegeben von Bernhardi (Kassel 1845); Wippermann, Kurhessen seit dem Freiheitskriege (das. 1850); Röth, Geschichte von H. (2. Aufl., fortgesetzt von Stamford, das. 1883–85); Gräfe, Der Verfassungskampf in Kurhessen (Leipz. 1851); »Kurhessisches Urkundenbuch«, die wichtigsten Schriftstücke in der kurhessischen Verfassungsangelegenheit (Frankf. a. M. 1861); »Kurhessen unter dem Vater, dem Sohne und dem Enkel« (Hamb. 1860); Fr. Ilse, Die Politik der beiden deutschen Großmächte und die Bundesversammlung in der kurhessischen Verfassungsfrage von 1830 bis 1860 (Berl. 1861); J. v. Schmidt, Die vormals kurhessische Armeedivision im Sommer 1866 (Kassel 1892); Strippelmann, Beiträge zur Geschichte Hessen-Kassels 1791–1814 (Marb. 1877–78, 2 Tle.); Bähr, Das frühere Kurhessen (Kassel 1895); Kimpel, Geschichte des hessischen Volksschulwesens im 19. Jahrhundert (Kassel 1900, 2 Bde.); E. R. Grebe, Friedrich Wilhelm I., Kurfürst von Hessen (das. 1902); Müller, Lebenserinnerungen eines alten Kurhessen 1806–1870 (Dresd. 1903).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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