Graubünden

Graubünden

Graubünden (Bünden, franz. les Grisons, rätoroman. ils Grischuns, ital. i Grigioni), Kanton der Schweiz, ihren Südosten umfassend, grenzt östlich an Tirol, südlich an die Lombardei, westlich an Tessin und Uri, nördlich an Glarus, St. Gallen, Liechtenstein und Vorarlberg, hat ein Areal von 7132,8 qkm (129,5 QM.), wovon 9 qkm auf Seen entfallen, und ist somit der größte Kanton. G. ist ein Gebirgsland im strengsten Sinne des Wortes, ohne Ebenen, mit schmalen Talflächen und dem ausgeprägten Charakter der Massenerhebung (Adula-Alpen, Rätische Alpen mit ihren einzelnen Gruppen, wie Albula-, Silvretta-, Bernina-, Spöl-, Münstertaler- und Plessur-Alpen, s. Alpen, S. 363 ff., und die einzelnen Artikel). Die Massenerhebung kommt mannigfach zum Ausdruck, einmal durch die Hochtäler (Davos 1560 m, Rheinwaldtal 1400–1600 m, Engadin 1000 bis 1800 m), die relativ kleine Gipfelhöhe, die im allgemeinen sanften Böschungen und ihre vorherrschende Bekleidung mit Wald und Weiden, die hohe obere Waldgrenze für Nadelholz (im Prätigau 1900 m, Engadin 2200 m), das Hinaufrücken der Schneelinie (in der Silvretta 2750 m, im Bernina 2950 m), die relativ kleine Gletscherfläche von nur 395 qkm (5 Proz.) und die hohe Lage der Siedelungen. 1900 lebten 53,3 Proz. der Bewohner dauernd in einer Hohe von mehr als 1000 m, darunter 17,9 Proz. in mehr als 1500 m Höhe. Das Dörfchen Cresta im Avers liegt 1950 um. M.; die höchste ständige Wohnung ist das Hospiz auf dem Flüelapaß (2388 m).

Wappen des Kantons Graubünden.
Wappen des Kantons Graubünden.

Die Täler, soweit sie zum Rheingebiet gehören, bilden hauptsächlich das Gebiet des Vorderrheins (Bündner Oberland) und des Hinterrheins (s. d.); unterhalb des Zusammenflusses beider Rheine offnen sich gegen das Rheintal nur noch das Schanfigg und Prätigau, die von der Plessur, bez. der Lanquart durchflossen werden. Das Pogebiet ist durch vier Täler vertreten: Misox und Calanca, Bergell und Puschlav; die entsprechenden Pozuflüsse heißen Moësa, Calancasca, Maira und Poschiavino. Der Ram, der Bach des Münstertals, fließt zur Etsch; zum Donaugebiet gehören das vom Inn durchströmte Engadin und dessen Nebentäler. Der Kanton ist reich an Seen, doch sind nur wenige von größerm Umfang, wie die Seen von Sils und Silvaplana im Oberengadin, der See von Poschiavo und der Lago bianco am Berninapaß.

Zugänge, Straßen, Pässe. Die Hauptpforte der Nordseite bildet das Rheintal, durch das die Eisenbahn über Chur nach dem Bündner Oberland bis Ilanz und anderseits nach Thusis vordringt; an die letztere schließt sich neuerdings die nach Samaden und St. Moriz im Engadin führende Albulabahn an. Die übrigen Zugänge sind, abgesehen von dem durch Befestigungen geschützten Luciensteig (727 m), bloße Gebirgspfade, wie das Schweizertor (2170 m) und andre den Rätikon von Montafon her überschreitende Passe, der Segnes- (2625 m) und der Panixer Paß (2407 m) nach dem Sernftal, der Kreuzlipaß (2350 m) nach Uri. Die Hauptverbindung mit Uri, auf der Westseite, bildet die Oberalpstraße (2052 m), während südwärts nach Tessin und Italien mehrere fahrbare Übergänge führen. Lukmanier (1917 m), Bernardino (2063 m), Splügen (2117 m) und Bernina (2330 m); von Bergpfaden der Greinapaß (2360 m) und der wilde Murettopaß (2557 m). Die natürliche Pforte nach O. bildet der Inn, dessen finstere Ausgangsschlucht bei Finstermünz die Straße aus dem Unterengadin über Nauders umgeht; eine kleine Straße führt über den Ofenpaß (2155 m) ins Münstertal und von hier die 1900 eröffnete Umbrailstraße über das Wormser Joch (2512 m) nach der Stilfser Jochstraße. Der Verkehr zwischen den einzelnen Talern des Landes selbst benutzt eine Menge einsamer Bergpfade; die Strela (2377 m), die Scaletta (2619 m), der Septimer (2311 m) u. a. dienen auch der Touristenwelt, während Lenzerheide (1551 m), Julier (2287 m) und Albula (2315 m) die fahrbare Verbindung mit dem Oberengadin, die Straße über den Flüelapaß (2388 m) diejenige mit Davos und dem Unterengadin vermitteln. Von Landquart, einer Station an der Eisenbahn Chur-Sargans, zweigt eine schmalspurige Adhäsionsbahn durch das Prätigau über Klosters nach Davos ab. Das Klima Graubündens ist dasjenige eines Hoch- und Gebirgslandes, weist aber große Verschiedenheiten auf. Das untere Rheingebiet und die Täler auf der Südseite der Alpen haben ein mildes Klima (Jahresmittel für Chur in 610 m Höhe 8,4°, für Castasegna, 700 m, 9,4°); je höher man in den Tälern steigt, um so mehr sinkt die mittlere Jahrestemperatur: Schuls (1200 m) 5,2°, Splügen (1430 m) 3,1°, Davos (1560 m) 2,8°, Sils-Maria (1810 m) 1,5°. Aber die leichte und trockene Luft, der heitere Himmel und die starke Sonnenstrahlung machen auch im Winter höhere Kältegrade erträglich. Die Niederschläge sind gering, im Rheintal unterhalb Chur 83 cm, in Davos und im Oberengadin je 100 cm.

Die Bevölkerung beträgt (1900) 105,065 Einw. (14 auf 1 qkm); davon sprechen 49 Proz. deutsch, 36 Proz. rätoromanisch (am Vorderrhein, in einigen Gegenden am Hinterrhein, im Engadin und Münstertal), 14 Proz. italienisch (in den vier Tälern des Pogebiets). Von der Wohnbevölkerung (104,520 Kopfe) gehörten (1900) 55,371 (53 Proz.) dem reformierten, 49,585 (47 Proz.) dem katholischen Bekenntnis an. Bei der deutschen Bevölkerung überwiegen die Reformierten, während unter den Rätoromanen und Italienern das katholische Bekenntnis vorherrscht. Die Katholiken stehen unter dem Bistum Chur. Die Bündner sind ein ausgesprochenes Bergvolk; sie sind im allgemeinen hochgewachsen, dunkelhaarig, intelligent, energisch, genügsam, etwas bequem, zäh am Alten hängend, ober von hohem Unabhängigkeitsdrang. Sie wandern vielfach (besonders die Engadiner) des Erwerbs halber nach fremden Städten (s. Engadin). Für die Volksbildung sorgen Primar-, Real- und Fortbildungsschulen, die meist Winterschulen (mit 24–26 Schulwochen) sind. Von höhern Bildungsanstalten sind zu nennen: die vereinigte Kantonschule (mit Lehrerseminar) und ein katholisches Priesterseminar in Chur, daneben ein (privates) Lehrerseminar nebst Gymnasium und Realschule in Schiers, die Klosterschule in Disentis, das Gymnasium Fridericianum in Davos, das Kollegium in Roveredo (Misox), eine landwirtschaftliche Schule bei Landquart. Die Kantonsbibliothek zählt über 20,000 Baude.

Von der Gesamtfläche sind nur 3851,6 qkm (53,6 Proz.) produktiv, davon 2625,6 qkm Äcker, Gärten, Wiesen und Weiden, 2,9 qkm Rebland und 1223,1 qkm Wald. Nicht weniger als 60 Proz. der Bevölkerung beschäftigen sich mit Urproduktion, vor allem mit Land- und Alpenwirtschaft. Der Ertrag des Ackerbaues reicht nicht für den Bedarf aus. Man baut besonders Roggen, daneben Weizen, Gerste, Hafer, Kartoffeln und Mais, im Puschlav Tabak. Der Weinbau ist auf das untere Misox und das untere Rheintal bis Reichenau beschränkt. In den Weinbergen von Malans, in der sogen. Herrschaft, wächst ein vortrefflicher Weißwein (»Kompleter« geheißen), sonst sind die Bündner Weine meist rot. Große Mannigfaltigkeit herrscht an Obst, von den Kastanien des Bergell und den Südfrüchten des Misox bis zu den nur im Oberengadin nicht mehr vorkommenden Kirschen. Nadelwald, darunter die Arve, herrscht vor; nur im Prätigau ist die Buche häufig. Holzausfuhr findet nach Glarus und Zürich statt. Wichtiger als der Ackerbau ist die Viehzucht. 1901 zählte man 4554 Pferde, 77,861 Rinder, mit 71,414 Stück die meisten Schafe in der Schweiz, 45,206 Ziegen und 22,004 Schweine; dazu kommen etwa 20,000 Bergamasker Schafe und 4–5000 Rinder aus dem benachbarten Italien zur »Sömmerung« in die Engadiner Berge. Von Rindern unterscheidet man zwei Rassen, das Braunvieh und das Grauvieh; ersteres vorherrschend im Rheintal, letzteres im Oberland, Die Kühe werden vielfach zur Aufzucht von Jungvieh behalten; daneben überwiegt die Produktion von Butter gegenüber der Käsefabrikation. 1890 zählte man 800 Alpen mit etwa 68,000 Stoßen (Weideland für je eine Kuh ausreichend). Die Bienenzucht ist weit verbreitet und liefert in einigen Tälern (Tavetsch, Bergell) vortrefflichen Honig; im Untermisox wird etwas Seidenzucht getrieben. An Hochwild findet man: Steinadler (der Lämmergeier ist seit kurzem verschwunden), Bär (seltener), Fuchs, Dachs, Gemse, Murmeltier, Hirsch und Reh (im Prätigau und Unterengadin), seltener Hafen. Die kristallhellen Seen und Bäche sind reich an Forellen. Für die Hebung der Fischzucht wird durch Aussetzung von Fischeiern viel getan; es bestehen vier Fischzuchtanstalten. – Der früher nicht unbedeutende Bergbau liegt danieder, doch fehlt es nicht an brauchbarem Gestein (Griffelschiefer, Lavezstein, Marmor etc.) und nutzbaren Erzen (Eisen, Mangan, Kupfer, Zink, Silber etc.). Sehr groß ist der Reichtum an Mineralquellen. Mehrere von ihnen haben europäischen Ruf, so die Sauerbrunnen von St. Moriz, Tarasp-Schuls, St. Bernhardin, Fideris, Andeer und Passugg, die schwefelhaltigen Gipswasser in Alvaneu, Serneus und Le Prese. Noch zahlreicher sind die Luftkurorte im Oberengadin, Prätigau, dem Oberlande, Bergell etc. Ein berühmter Standort für Touristen ist Pontresina; Davos und Arosa sind vielbesuchte Winterkurorte. Der Fremenindustrie dienten 1900 mehr als 280 größere Hotels mit ca. 6000 Betten. Die Industrie ist nicht bedeutend und Fabrikanlagen vereinzelt. Die Herstellung von grauem Tuch wird als Hausindustrie betrieben. Es bestehen mehrere Stickereien, eine Baumwollzwirnerei, ferner eine Pulver-, eine Maschinen-, eine Tuchfabrik in Chur, eine Papierfabrik bei Landquart etc. Der einheimische Handel ist Vieh- und Holzhandel. Das Speditionsgeschäft Churs hat seit Eröffnung der Brenner- und oer Gotthardbahn sehr verloren.

Der Kanton zerfällt in 14 Bezirke, 39 Kreise, 224 Gemeinden, bildet einen Nationalrats-Wahlkreis mit 5 Mandaten u. gehört in militärischer Beziehung zum 8. Divisionskreis. Die Verfassung, 2. Okt. 1892 vom Volk angenommen und 1. Jan. 1894 in Kraft getreten (s. S. 251), ist demokratisch. Der Volksabstimmung unterliegen alle Verfassungsänderungen, die Staatsverträge, Konkordate, gewisse Kategorien von Gesetzen, neue Ausgaben von mindestens 100,000 Fr. oder wiederkehrende Ausgaben von mindestens 20,000 Fr. etc. Das Recht der Initiative ist einer Zahl von 3000 stimmberechtigten Einwohnern eingeräumt. Das Stimmrecht beginnt mit Vollendung des 20. Lebensjahres. Das gesetzgebende Organ des Volkes bildet der Große Rat, der auf zwei Jahre (je ein Mitglied auf 1300 Einw.) gewählt wird. Ihm steht die Vorberatung der der Volksabstimmung unterliegenden Fragen, die Vollziehung der Bundes- und Kantonsgesetze, der Erlaß von Verordnungen in Landesangelegenheiten, der Entwurf des Budgets, die Aussicht über die Landesverwaltung etc. zu. Die Exekutive übt der Kleine Rat aus, der aus 5 Mitgliedern besteht, die vom Volk auf 3 Jahre gewählt werden und zweimal wieder wählbar sind. Alle drei Sprachen, die deutsche, italienische und romanische, dürfen als Landessprachen in der Verwaltung und vor Gericht gebraucht werden. Als Organe der Rechtspflege dienen die Vermittlerämter (Friedensrichter), Kreisgerichte (7 Mitglieder), Bezirksgerichte (7 Mitglieder) und das Kantonsgericht (9 Mitglieder). Die Mitglieder der erstern beiden werden auf 2 Jahre, die der beiden letztern auf 3 Jahre gewählt, sind aber immer wieder wählbar. Die Staatseinnahmen betrugen 1902: 1,204,975 Fr., die Ausgaben 2,186,682 Fr., das Defizit wird durch eine direkte Landessteuer gedeckt. Das Wappen von G. (s. Abbildung, S. 248) zeigt drei Schilde: 1) von Silber (auch Gold) und Schwarz gespalten (Oberer oder Grauer Bund); 2) mittlerer Schild: in Silber ein schwarzer Steinbock (Gotteshausbund); 3) von Blau und Gold geviertet, mit einem von Gold und Blau gevierteten Kreuz (Zehngerichtebund). – Die Landesfarben des Kantons sind Grau, Weiß und Blau. Hauptstadt ist Chur.

Geschichte.

Zur Zeit der römischen Herrschaft bildete G. einen wegen seiner Alpenstraßen über den Julier, Septimer und Splügen wichtigen Teil der Provinz Raetia prima (s. Rätien). Von der Völkerwanderung wurde es nicht stark berührt, weshalb sich in seinen Tälern die rätoromanische Bevölkerung und Sprache erhalten haben. 536 wurde das durch die Bayern und Alemannen stark beschränkte Rätien von den Ostgoten an die Franken abgetreten. Anfänglich bildete es ein Ganzes unter einem Präses oder Herzog, welche Würde im 7. uno 8. Jahrh. in dem Geschlecht der Viktoriden erblich war, die oft zugleich das Bistum zu Chur, wo seit 451 Bischöfe erwähnt werden, innehatten. Unter Karl d. Gr. zerfiel Rätien in mehrere Gaue, von denen Churrätien, im ganzen das heutige G. und Vorarlberg, der wichtigste war. Durch Burkhart, den Grafen von Churrätien, der sich 917 zum Herzog von Alemannien aufschwang, wurde es mit Alemannien vereinigt. Durch Teilung der Grafschaften und Verleihung von Immunitäten zerfiel Churrätien allmählich in eine Menge von weltlichen und geistlichen Herrschaften; die größte war die des Bischofs von Chur, die im 14. Jahrh. die Stadt Chur, das Domleschg, Oberhalbstein, Engadin, Münstertal, Puschlav, Bergell u. a. umfaßte. Als Bischof Peter im Begriff stand, die weltliche Verwaltung des Bistums an Österreich zu übertragen, vereinigten sich 1367 das Domkapitel, der bischöfliche Dienstadel, die Stadt Chur und die dem Gotteshaus zugehörigen »Täler« zum Schutz der Selbständigkeit des Bistums. So entstand der Bund des »gemeinen Gotteshauses« oder der Gotteshausbund, der bald regelmäßige Tage abhielt uno dem Bischof seine Mitwirkung bei allen wichtigen Staatshandlungen aufnötigte. 1395 schlossen der Abt von Dissentis und die im Vorderrheintal begüterten Herren von Sax und Räzüns nebst ihren Gemeinden ein Bündnis zur Aufrechthaltung des Landfriedens, dem bald auch die Grafen von Werdenberg für ihre Besitzungen am Vorderrhein sowie verschiedene Gemeinden am Hinterrhein beitraten. 1424 wurde dieser obere oder graue Bund unter dem Ahorn zu Truns neu beschworen und erweiterte sich 1480 und 1496 noch durch den Beitritt der Herren des Misox- und Calancatales. Nach dem Hinscheiden des letzten Grafen von Toggenburg knüpften auch die »Gerichte«, die er in Maienfeld und Malans, Prätigau, Davos, Schanfigg und Churwalden besessen, eine Verbindung unter sich, den Zehngerichtebund (1436), um den Folgen einer Teilung des Erbes vorzubeugen. Die drei Bünde traten dann untereinander wieder in dauernde Verbindungen, zuletzt der Zehngerichtebund mit dem Obern Bund (1471); aber schon vorher (1468) erscheinen die »dry bünd« als gemeinsam handelnder Staatskörper, der schon gegen Ende des 15. Jahrh. von dem dem Range nach voranstehenden Obern Bund den Namen G. empfing. Ein alle drei Bünde umfassender ewiger Bundesvertrag wurde erst 23. Sept. 1524 zu Ilanz ausgerichtet. Die demokratische Entwickelung des neuen Gemeinwesens wurde dadurch begünstigt, daß Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrh. alle alträtischen Dynastengeschlechter ausstarben. Durch eine Reihe von Loskaufstraktaten bis ins 19. Jahrh. gingen bald nur einzelne Rechtsame, bald die Gesamthoheit der geistlichen und weltlichen Herren auf die Gemeinden oder Gerichte über. So wurde nach und nach jedes der letztern ein souveräner Kleinstaat mit eigner Verfassung und Verwaltung; zwei oder mehrere Gerichte bildeten ein Hochgericht, das schon eine Art Bundesstaat war. So zerfiel der Obere Bund in 8 Hochgerichte und 19 Gerichte, der Gotteshausbund in 11 Hochgerichte und 21 Gerichte, der Zehngerichtebund in 7 Hochgerichte und 11 Gerichte. An der Spitze des Obern Bundes stand der alljährlich auf dem Bundestag zu Truns erwählte »Landrichter«, an der des Gotteshausbundes der Bürgermeister von Chur (seit 1700 ein »Bundespräsident«) und an derjenigen der Zehngerichte der »Bundeslandammann«. Die gemeinsamen Behörden aller drei Bünde waren der »Bundestag«, an dem der Obere 28, das Gotteshaus 23 und die Zehngerichte 15 Stimmen hatten, und der anfänglich zu Vazerol, seit 1524 aber abwechselnd zu Ilanz, Chur und Davos tagte, und für die laufenden Geschäfte der »Beitag«, der gewöhnlich aus den drei Bundeshäuptern bestand, mitunter aber auch noch durch Boten der Hochgerichte bis auf die Hälfte der gewöhnlichen Anzahl verstärkt wurde. Bundesbeschlüsse erlangten jedoch erst Gültigkeit, wenn die Mehrheit der Gemeinden sie bestätigte (Referendum). ein »Kongreß«, bestehend aus den drei Bundeshäuptern und je drei Boten jedes Bundes, verifizierte die Abstimmung. Die Übergriffe Österreichs, das, bereits im Besitz gewisser Herrschaftsrechte im Unterengadin und Münstertal, 1477–97 den größten Teil des Zehngerichtebundes sowie Räzüns im Obern Bund erwarb und G. gänzlich von sich abhängig zu machen suchte, bewirkten, daß 21. Juni 1497 der Obere und 13. Dez. 1498 der Gotteshausbund mit den sieben alten Orten der Eidgenossenschaft (ohne Bern) einen ewigen Freundschaftsvertrag schlossen. Der unmittelbar darauf folgende Schwabenkrieg, in dem die Bündner den glorreichen Sieg an der Calven (22. Mai 1499) erfochten, gab dieser Verbindung die Bluttaufe. Seitdem galt G. als ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft und nahm teil an ihren Feldzügen und Bündnissen. In den Mailänder Feldzügen erwarb es 1512 die Landschaften Veltlin, Bormio und Cläven als Untertanenland. Die Reformation fand auch in G. Eingang; nach einem Religionsgespräch zu Ilanz (7. Jan. 1526) erklärte der Bundestag den Bischof aller weltlichen Gewalt verlustig und gewährte Glaubensfreiheit. Die religiöse Entzweiung sowie die Bündnisse mit dem Ausland machten G. im 17. Jahrh. zum Schauplatz grauenvoller Parteikämpfe. Das ganze Land spaltete sich in eine spanisch-österreichische und in eine französisch-venezianische Faktion; so oft eine Partei siegte, proskribierte sie die Gegner durch ein »Strafgericht«. 1620 erhoben sich die von Mailand aus fanatisierten Veltliner im Einverständnis mit den geächteten Häuptern der spanischen Partei und ermordeten die im Land anwesenden Protestanten (Veltliner Mord 20. Juli); ein entsetzlicher Bürgerkrieg entbrannte, zugleich rückten die Spanier in Veltlin, die Österreicher im Münstertal ein. Die katholischen Eidgenossen leisteten im Interesse des Glaubens den beiden Mächten Vorschub, die Züricher und Berner, die den evangelischen Bündnern zu Hilfe kamen, wurden von den Spaniern bei Tirano (11. Sept. 1620) geschlagen, worauf G. sich in den Mailänder Verträgen (15. Jan. 1622) zur Abtretung des Zehngerichtebundes, des Unterengadins, Münstertals und Veltlins an Österreich-Spanien bequemen mußte. Ein Aufstand der gewaltsam bekehrten Prätigauer scheiterte (1622). Allein Richelieu wollte die Bündnerpässe nicht in den Händen der Habsburgerlassen, ein französisch-schweizerisches Heer trieb die Österreicher 1624 aus G. heraus, und 1635 entriß Herzog Rohan auch das Veltlin den Spaniern. Die Bündner waren indes damit nur von einer Fremdherrschaft in die andre gefallen, bis ihre feindlichen Parteien unter der Leitung des verschlagenen Georg Jenatsch (s. d.) sich einigten und durch ein Bündnis mit Spanien-Österreich den Abzug der Franzosen erzwangen (1637). Durch diese Ereignisse sowie durch die daraus hervorgehende dauernde Anlehnung Graubündens an Österreich lockerte sich das Verhältnis des Landes zur Eidgenossenschaft derart, daß man es seitdem wieder als ein besonderes Staatswesen neben der Schweiz betrachtete, wiewohl Zürich und Glarus 1590 auch mit den Zehngerichten und 1602 Bern mit allen drei Bünden ewige Bünde geschlossen hatten. Die französische Revolution fand den rätischen Freistaat, wie die Eidgenossenschaft, ohne einigende Organisation und von Parteien zerrissen. Die Untertanen empörten sich, und als G. zögerte, nach Bonapartes Vorschlag die drei Landschaften als gleichberechtigten vierten Bund anzunehmen, vereinigte sie dieser mit der Zisalpinischen Republik (10. Okt. 1797), wobei das dort befindliche Vermögen bündnerischer Privatpersonen konfisziert wurde. 1798 richtete die neubegründete Helvetische Republik an G. die Einladung, sich ihr anzuschließen; allein die Mehrheit der Gemeinden sprach sich dagegen aus. Als G. sogar österreichische Truppen aufnahm, rückte Masséna ebenfalls ein (im März 1799), und das Land wurde der Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Österreichern und Franzosen. Durch die Mediationsakte (1803) wurde G. endgültig der Schweiz einverleibt und bekam eine Verfassung, die zwar die Einteilung in Bünde und Hochgerichte sowie das Referendum beibehielt, aber den ehemaligen Bundestag in einen Großen Rat, den »Beitag« in einen permanenten Kleinen Rat, den »Kongreß« in eine »Standeskommission« verwandelte und für Zentralisation der wichtigsten staatlichen Befugnisse sorgte. Am 4. Jan. 1814 wurde durch einen Auflauf von der österreichischen Partei die Aufhebung der Mediationsverfassung und die Einberufung des alten Bundestages erzwungen; doch stimmte die neue Verfassung vom 11. Nov. 1814, die noch Nachträge erhielt und erst 1820 als vollständig ins eidgenössische Archiv gelegt wurde, in allem Wesentlichen mit der Mediationsverfassung überein. Die Bemühungen Graubündens beim Wiener Kongreß, wieder zu den ihm entrissenen italienischen Provinzen zu gelangen, waren fruchtlos; doch ließ sich Österreich, das in deren Besitz blieb, 1833 herbei, den dabei beraubten Personen eine Abfindungssumme zu bezahlen. Durch eine Verfassungsrevision vom 1. Febr. 1854 wurde die historische Einteilung durch eine moderne in Bezirke, Kreise und Gemeinden ersetzt, durch eine weitere vom 23. Mai 1880 zum Referendum die Volksinitiative für Gesetze hinzugefügt. Am 2. Okt. 1892 wurde eine neue Verfassung angenommen (s. S. 249), welche die Ausübung der Volksrechte erleichterte, die Wahl der Regierung durch das Volk einführte und in dieser das Kollegialsystem durch das Departementalsystem ersetzte.

Vgl. Röder und Tscharner, Der Kanton G. (St. Gallen 1838); Theobald, Das Bündner Oberland (Chur 1861) und Naturbilder aus den Rätischen Alpen. Führer durch G. (3. Aufl., das. 1893); Lechner, G., illustrierter Reisebegleiter (das. 1903); E. v. Moor, Geschichte von Currätien und der Republik gemeiner drei Bünde (das. 1870–74, 3 Bde.); Planta: Das alte Rätien (Berl. 1872), Die currätischen Herrschaften in der Feudalzeit (Bern 1881) und Geschichte von G. in ihren Hauptzügen (2. Aufl., das. 1894); v. Juvalt, Forschungen über die Feudalzeit im Eurischen Ratien (Zürich 1871); Sprecher, Geschichte der Republik der drei Bunde im 18. Jahrhundert (Chur 1872–75, 2 Bde.); Planta, Die letzten Wirren des Freistaates der drei Bünde (das. 1859); Th. u. C. v. Mohr, Sammlung der Urkunden zur Geschichte Currätiens und der Republik G., fortgesetzt von Jecklin und Muoth (das. 1848–98, 6 Bde.); Th. v. Mohr, Archiv für die Geschichte der Republik G. (das. 1853–58, 5 Bde.); »Rätia, Mitteilungen der Geschichtforschenden Gesellschaft Graubündens« (das. 1863–69, 4 Bde.); Jecklin, Volkstümliches aus G. (das. 1874–84, 3 Bde.); Plattner, Die Entstehung des Freistaates der drei Bünde (Davos 1895); C. u. F. Jecklin, Der Anteil Graubündens am Schwabenkrieg, Festschrift zur Calvenfeier (das. 1899), Wagner u. v. Salis, Rechtsquellen des Kantons G. (Basel 1887); »Jahresberichte der Historisch-antiquarischen Gesellschaft« (Chur 1871 ff.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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