- Schwurgericht
Schwurgericht (Assisen, Jury, Geschwornengericht, engl. Jury, franz. Jury, Cour d'assises), das Gericht, in dem nichtrechtsgelehrte Richter aus dem Volke (Geschworne, engl. jurymen, franz. jurés) im Zusammenwirken mit rechtsgelehrten Staatsrichtern (Schwurgerichtshof) urteilen. Die Eigentümlichkeit dieser auf dem europäischen Kontinent nur für Strafsachen bestehenden Einrichtung liegt in der Nichtständigkeit der Gerichtsorgane, in der Verteilung der Rechtsprechung auf zwei ihrem Wesen nach verschiedene, in der Beratung und Urteilsfällung getrennte Kollegien, in der Verpflichtung der Bürger zu unentgeltlichen ehrenamtlichen Gerichtsdiensten und in der Anwendung besonderer Regeln des Verfahrens, die sich von dem nur durch rechtsgelehrte Richter gehandhabten Strafprozeß unterscheiden. Ihren Ursprung haben die Schwurgerichte in dem Beweisverfahren der karolingischen Monarchie, von wo sie durch die normannische Herrschaft nach England verpflanzt wurden, um sich dort eigentümlich zu entwickeln. Sie sind also eine normannisch-englische Schöpfung. Die älteste Form des Schwurgerichts ist die noch gegenwärtig in England bestehende, aber auf dem Kontinent nicht aufgenommene Ziviljury, d. h. die Entscheidung über zivilrechtliche Ansprüche durch Geschworne. Weit später als die Ziviljury entwickelte sich die Jury für Strafsachen und zwar in einer doppelten Grundgestalt: 1) als Anklagejury und 2) als Urteilsjury, von denen auch die erstere noch heute den Engländern verblieben ist, ohne auf dem Kontinent Wurzel fassen zu können.
Die Anklagejury ist hervorgegangen aus dem Rügeverfahren der Sendgerichte (s. d.), das durch die Normannen nach England kam, wo es verschiedene Wandlungen durchmachte. Gegenwärtig reicht der öffentliche oder Privatankläger seine Anklageschrift bei der Anklagejury oder Großen Jury (grand jury) ein, damit diese auf Grund ihrer Prüfung und vorläufigen Ermittelungen entscheide, ob die beschuldigte Person in den förmlichen Anklagestand versetzt werden solle oder nicht. Die Stimmen über den Wert dieser Einrichtung sind jedoch sehr geteilt. Die Urteilsjury für Strafsachen ist gleichfalls kontinentalen Ursprungs. Während in Kriminalsachen nach altgermanischem Rechte der Ankläger seinen Beweis durch Zweikampf und bei Kampfunfähigkeit durch Gotte urteil zu erbringen hatte, wurde zuerst in der Normandie und dann in England Angeklagten durch Gnadenakt des Königs gestattet, ihre Unschuld durch eine Beweisjury (genau geregeltes Beweisverfahren vor Geschwornen) darzutun. Da nach dem Grundbrief der englischen Verfassung, der Magna Charta von 1215 (Art. 36), sich jeder Beklagte auf eine Jury berufen konnte und bereits 1219 die Gottesurteile in England reichsgesetzlich verboten worden waren, auch der gerichtliche (Zweikampf nach und nach abgekommen war, blieb überhaupt kein andres Beweismittel außer der Jury übrig. Diese Urteilsjury besteht jetzt aus 12, in Schottland aus 15 Mitgliedern.
Aus diesem Entwickelungsgang der englischen Schwurgerichte erklären sich folgende Eigentümlichkeiten: 1) Der Ausspruch der Geschwornen heißt Verdikt oder Wahrspruch, weil die Jury in dem Stadium der alten Beweisführung dahin vereidigt wurde, nach ihrem Gewissen die Wahrheit zu sagen, was offenbar nur für die Bezeugung von Tatsachen passend war. 2) Die in England konsequent eingetretene Scheidung der Tatfrage (d. h. Beweisfrage) von der Rechtsfrage (d. h. Urteilsfrage). Über die Tatfrage allein urteilen die Geschwornen, über die Rechtsfrage der königliche Richter, dessen Rechtsbelehrung für die Geschwornen noch heutzutage bindend ist. 3) Das in England festgehaltene Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit der Geschwornen für ihre Verdikte, denn ein »Wahrspruch« im Beweisverfahren ist bei widersprechenden Aussagen nicht zu erlangen. Trotz verschiedener schwerwiegender Angriffe auf diese Stimmeneinhelligkeit ist doch die öffentliche Meinung der Einstimmigkeit günstig, da man darin eine Garantie gründlicher Beratung erblickt. 4) Sobald ein Angeklagter des Verbrechens geständig ist, bleibt für die Beweisjury kein Platz mehr. Nur der leugnende Angeklagte hat einen Anspruch auf das Zeugnis der Jury. In Erinnerung an diese anfängliche Einrichtung wird auch heute der Angeklagte vor dem Beginn der Verhandlung gefragt, ob er sich schuldig bekenne (guilty) oder nicht schuldig (not guilty). Geschieht ersteres, so wird ohne Mitwirkung der Geschwornen die Verurteilung vom Richter ausgesprochen. 5) Auch darin ist beim englischen S. die mittelalterliche Sitte festgehalten, daß der Angeklagte seinerseits vor einem Gericht, das bestimmt war, ihm als Entlastungszeugnis zu dienen, nicht genötigt werden kann, sich einem Verhör zu unterwerfen. Dem englischen Strafprozeß fehlt daher auch diese auf dem Kontinent überall wesentliche Prozedur der Wahrheitsermittelung.
In manchen wesentlichen Stücken abweichend gestaltet sich das S. in Schottland, Irland und Nordamerika. In Frankreich stand das S. unter den Forderungen der ersten französischen Revolution in erster Linie. Die Nationalversammlung beantragte 1789 die Einführung des Schwurgerichts und veranlaßte damit zuerst das Gesetz vom 16. Aug. 1790 und das Gesetz vom 29. Sept. 1791. Allein erst unter Napoleon I., der anfangs ein Gegner des Schwurgerichts war, fand eine eingehende gesetzliche Regelung in der französischen Strafprozeßordnung (Code d'instruction criminelle) von 1808 statt. Napoleon hatte sich davon überzeugt, daß die Geschwornen, denen man ja die Beurteilung der schweren politischen Verbrechen entziehen könne, nicht nur ungefährlich sein würden, sondern auch bei richtiger Handhabung der administrativen Mittel dem Einfluß der Regierung zugänglich seien. Namentlich ergab sich ein starkes Element der Beeinflussung durch den Zusammenhang der in England fehlen den, in Frankreich völlig abhängigen Anklagebehörde mit den Verwaltungsstellen der Polizei. Während man ferner in England an dem Erfordernis der Stimmeneinhelligkeit der Verdikte festhielt, schwankte unter den verschiedenen Regierungen in Frankreich das zu einer Verurteilung des Angeklagten erforderliche Stimmenverhältnis zwischen größern und kleinern Majoritäten, wobei die auf größere Machtentfaltung bedachten Regierungen sich an einfachen Majoritäten von sieben zu fünf genügen ließen. Der Vorsitzende des Schwurgerichtshofs erhielt zudem ein weitgehendes Ermessen in der Leitung der Verhandlungen, in der Behandlung und Vorführung der Beweismittel, in der Begünstigung der Anklagebehörde auf Kosten der Verteidigung, in der Einrichtung seines Schlußvortrags (sogen. Resümé) an die Geschwornen, in dem er, nicht gehindert durch irgendwelche Rücksichten und nicht gehemmt durch Rechtsmittel, seiner persönlichen Auffassung über Schuld oder Unschuld als Vormund der Geschwornen Ausdruck geben konnte. Die Gesamtheit dieser weitgehenden Rechte bezeichnete man als diskretionäre Gewalt (pouvoir discrétionnaire). Das Resümé ist übrigens in neuester Zeit in Frankreich ebenso wie in Deutschland abgeschafft. Was endlich die Zuständigkeit der Schwurgerichte in Frankreich anbelangt, so sind die schwersten Fälle der sogen. Verbrechen im engern Sinne (crimes), die eine entehrende oder peinliche Strafe nach sich ziehen können, den Schwurgerichten zugewiesen. In einem Punkte geht freilich die Funktion der französischen Geschwornen über die in England üblichen Grenzen hinaus. Die Geschwornen können nämlich das Vorhandensein mildernder Umstände (circonstances atténuantes) in ihrem Schuldspruch erklären und damit einen bedeutenden Einfluß auf die Festsetzung der Strafe ausüben.
In dieser französischen Gestalt gewann sich das S. auch in Deutschland viele Freunde, vornehmlich in West- und Süddeutschland, in den Rheinlanden blieb das S. aus der Zeit ihrer vorübergehenden Zugehörigkeit zu Frankreich bestehen. Namentlich fand das S. Verteidiger unter den Germanisten, die darin Anknüpfungspunkte an die alte deutsche Gerichtsverfassung erkennen wollten. Daher erklärt es sich, daß der Germanistenkongreß 1847 in Lübeck sich für die Einführung des Schwurgerichts aussprach. Entscheidend für die allgemeine Einführung der Schwurgerichte in den verschiedenen deutschen Staaten war jedoch erst die politische Bewegung von 1848. Als später die Vorbereitungen zur einheitlichen Ordnung des Strafprozeßrechts für das neue Deutsche Reich in Angriff genommen wurden, stellte man das S. noch einmal in Frage. Das preußische Justizministerium wünschte die Ersetzung der Schwurgerichte durch sogen. Schöffengerichte, und der erste Entwurf zur deutschen Strafprozeßordnung war auf das Schöffengericht basiert. Auch die Stimmen unter den Theoretikern waren geteilt. Eine Anzahl hervorragender Männer (Schwarze, Zachariä, Meyer) wirkte für die Verallgemeinerung der Schöffen-, andre (Mittermaier, Gneist, Glaser, Wahlberg) verteidigten mit Geschick und Eifer die Institution der Schwurgerichte. In Süddeutschland war das S. so volkstümlich geworden, daß man es vorzog, den Plan einer allgemeinen Durchführung des Schöffeninstituts aufzugeben und das S. lieber beizubehalten, als sich im Reichstag oder schon im Bundesrat einer Niederlage auszusetzen. Der Wert des Schwurgerichts ist von einer Reihe von Ta sachen und Umständen abhängig; es kann zu verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern ungleiche Resultate liefern. Seine Freunde machen folgendes geltend: Die Feststellung des Sachverhaltes im Strafverfahren ist, sobald der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt, nicht mehr von Rechtsregeln, sondern nur von den Regeln der Logik und der Erfahrung abhängig. Letztere anzuwenden, sind die Laien geeigneter als die Juristen; denn einmal steht der rechtsgelehrte Richter dem Leben und Treiben, aus dem die Verbrechen unmittelbar herauswachsen, zu ferne, um seine Erfahrung an der Quelle zu schöpfen; er schöpft sie vielmehr aus der Wiederkehr derselben und ähnlicher Verbrechensfälle in seiner Praxis; allein gerade dadurch gerät er anderseits in die Gefahr, bloßer Routinier zu werden. Er bildet sich aus seiner Praxis abstrakte Regeln für die Auffassung und Beurteilung bestimmter Verbrechenserscheinungen, die schließlich ihn die Individualität des einzelnen Verbrechensfalles nicht mehr scharf von andern unterscheiden lassen und ihm so die Möglichkeit einer wirklich gerechten Beurteilung rauben. Die Laienrichter hingegen, unmittelbar aus dem Volke heraus auf den Richterstuhl berufen, stehen in viel innigerm Kontakt mit den sozialen Ursachen des Verbrechens und werden daher von vornherein ein schärferes Auge und feineres Gefühl haben für die objektiven Anlässe und für die subjektiven Triebfedern zum Verbrechen, und damit auch für die Individualität des einzelnen Verbrechensfalles. Sie werden aber überdies, da sie nur von Zeit zu Zeit den Richterstuhl betreten, ihrer Aufgabe ein nicht durch ermüdende Wiederholungen ertötetes, reges Interesse, eine frische Auffassung jedes Falles in seiner Individualität entgegentragen und so die seinen Unterschiede, wie sie jeder Straffall dem andern gegenüber im Leben aufweist, auch vor Gericht zur Geltung bringen. Von der andern Seite wird darauf hingewiesen, daß auch die Richterbeamten aus dem Volke entsprungen sind und sich nicht etwa aus einer abgesonderten Kaste rekrutieren, in der sich mit dem Amt auch Vorurteile und beschränkte Anschauungen vererben. Wären die für das S. angeführten Gründe wirklich zutreffend, so müßte man konsequenterweise das ganze Beamtenrichtertum abschaffen und die Strafrechtspflege ausschließlich Laien übertragen. Dies würde gleichzeitig die Bedeutung der Strafrechtswissenschaft und des Studiums derselben auf das denkbar niedrigste Niveau herabdrücken, nicht minder aber auch dem Erfahrungssatze widersprechen, daß man gewisse Berufsgeschäfte besser versehen kann, wenn man sich die dazu nötigen Vorkenntnisse erworben hat, als wenn man lediglich auf gut Glück und mit bloßem »gesundem Menschenverstand« denselben gerecht zu werden sucht. Auch aus dem Gesichtskreis der größern politischen Unabhängigkeit hat man das S. gepriesen oder angefochten. Im allgemeinen läßt sich nun zwar nicht nachweisen, daß Geschworne überall unabhängiger sind als Staatsrichter. wenn diesen alle Bürgschaften verfassungsmäßiger Unabhängigkeit geboten sind und die Regierung auch keine Mittel indirekter Beeinflussung zur Herbeiführung politischer Verurteilungen anzuwenden vermag. Überhaupt vermögen politische Erwägungen eine juristische Institution nicht zu rechtfertigen, wenn sie nicht auch juristischen Wert besitzt. Von der technischen Seite her ist gegen das S. eingewendet worden, daß die Scheidung der Tal frage von der Rechtsfrage oder (nach der neuern Formel) der Schuldfrage von der Straffrage nicht folgerecht durchzuführen sei, daß überhaupt die Fragestellung schwere Verwickelungen herbeiführe, und daß das Ansehen der Justiz durch die Häufigkeit der durch fehlerhafte Fragestellung verursachten Richtigkeitsbeschwerden (Revisionen) beeinträchtigt werde. In neuester Zeit macht sich in juristischen Kreisen eine ziemlich allgemeine Strömung gegen die Schwurgerichte bemerklich, die nicht etwa, wie die Tagespresse mitteilt, eine Ausschaltung des Laienelementes bezweckt, sondern gerade umgekehrt dem Laien durch die Einführung mittlerer und großer Schöffengerichte einen Einfluß auf fast die gesamte Strafrechtspflege geben will. Anderseits sollen allerdings aber auch die augenfälligen Schattenseiten des heutigen Schwurgerichtsverfahrens durch eine Reihe von Bestimmungen beseitigt werden durch welche die Macht des Laienelementes keineswegs geschmälert, sondern nur eine gewisse Garantie gegen Fehlsprüche infolge von handgreiflichen Irrtümern oder Willkür statt Gesetzesanwendung gegeben werden soll. Auch die Kommission zur Reform der Strafprozeßordnung hat sich für Umwandlung der Schwurgerichte in mittlere und große Schöffengerichte ausgesprochen. Die Regierungen, innerlich vollständig überzeugt, daß das S. keineswegs die fehlerlose und wünschenswerte Einrichtung ist, als die es hingestellt wird, hat, da die Schwurgerichtsfrage eine politische Frage geworden ist, dem Drucke der Öffentlichkeit nachgegeben; denn man will die Schwurgerichte.
Durch das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 sind dem S. alle eigentlichen Verbrechen (im Gegensatz zu den Vergehen und Übertretungen) überwiesen, soweit sie nicht, wie das gegen Kaiser oder Reich gerichtete Verbrechen des Hochverrats oder des Landesverrats, vor das Reichsgericht oder ausnahmsweise vor die landgerichtlichen Strafkammern gehören. Die politischen und Preßvergehen, welche die belgische Gesetzgebung den Geschwornen zuweist, gehören nicht vor die Schwurgerichte; doch ist es in denjenigen Staaten, in denen die Geschwornen vor 1. Okt. 1879 für Preßprozesse zuständig waren, bei den bisherigen Bestimmungen der Landesgesetzgebung geblieben, nämlich in Baden, Bayern, Oldenburg und Württemberg. Auch in Österreich wurden 1869 die Preßsachen den Geschwornen überwiesen, obgleich dort angesichts des Kampfes zwischen widerstrebenden Nationalitäten die Bedingungen eines gedeihlichen Wirkens weitaus weniger günstig lagen als in Deutschland. Nach dem Zeugnis eines der erfahrensten Kenner der Schwurgerichtseinrichtungen, Julius Glaser, des frühern österreichischen Justizministers, eignen sich Preßdelikte aus juristischen Gründen vorzugsweise für Schwurgerichte, und auch in Bayern hat sich dieser Ausspruch bewahrheitet. – Nach dem deutschen Gerichtsverfassungsgesetz sind alljährlich die Urlisten in den Gemeinden auszustellen, in welche die Namen aller zum Schwurgerichtsdienst verpflichteten und berechtigten Personen einzutragen, und die zum Zweck etwaiger Berichtigungen öffentlich bekannt zu machen sind. Die Regeln, die für den Schöffengerichtsdienst gelten, beziehen sich auch auf das S. Aus den Urlisten des Amtsgerichtsbezirks ergibt sich dann im Wege der Sichtung die sogen. Vorschlagsliste (gleichfalls jährlich), bei deren Anfertigung gerichtliche Beamte mit der Verwaltung und unabhängigen Männern zusammenwirken. Aus den Vorschlagslisten der Amtsgerichte stellt dann das Landgericht die Jahreslisten der Haupt- und Hilfsgeschwornen zusammen. Als Hilfsgeschworne für den Fall der Verhinderung von Hauptgeschwornen sind Personen zu wählen, die am Sitzungsort des Schwurgerichts oder in dessen nächster Umgebung wohnen. Auf Grund der Jahresliste der Hauptgeschwornen werden für die Sitzungsperiode 30 Geschworne von dem Präsidenten des Landgerichts ausgelost. Auf diesem Weg entsteht die sogen. Spruchliste. Für die Aburteilung des einzelnen Falles wird die Geschwornenbank alsdann durch Auslosung von zwölf Geschwornen gebildet, wobei das Ablehnungsrecht der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten in der Weise geübt wird, daß jeder von beiden Teilen die Hälfte der möglichen Ablehnungen bewirken, d. h. die Hälfte der Gesamtzahl der Geschwornen abzüglich zwölf, ablehnen kann. Bei ungleicher Anzahl der anwesenden Geschwornen kann der Angeklagte einen mehr ablehnen als der Staatsanwalt. Der Schwurgerichtshof besteht aus drei Richtern mit Einschluß des Vorsitzenden (Schwurgerichtspräsidenten). Letzterer wird für jede Sitzungsperiode von dem Präsidenten des zuständigen Oberlandesgerichts ernannt. Die Beisitzer bestimmt der Präsident des Landgerichts aus der Zahl der Mitglieder des letztern. Als Eigentümlichkeit des schwurgerichtlichen Verfahrens ist zu erwähnen der nach dem Abschluß des Beweisverfahrens und der Parteivorträge stattfindende Schlußvortrag des Schwurgerichtspräsidenten (sogen. Rechtsbelehrung) über die rechtlichen Gesichtspunkte, welche die Geschwornen bei Losung der ihnen gestellten Fragen in Betracht zu ziehen haben. Die Geschwornen haben die ihnen über den Gegenstand der Hauptverhandlung vorgelegten Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten. Es ist ihnen aber auch gestattet, eine Frage teilweise zu bejahen und teilweise zu verneinen. Die Fragen selbst scheiden sich in Hauptfragen, Nebenfragen und Hilfsfragen. Die Hauptfrage bezieht sich auf die dem Angeklagten in der Anklage zur Last gelegte Tat selbst; die Nebenfragen betreffen regelmäßig Strafmilderungs-, Strafschärfungs- und Strafausschließungsgründe; eine Hilfsfrage endlich wird gestellt, wenn während der Verhandlung sich Anlaß zu einer von der Anklage abweichenden Beurteilung der dem Angeklagten zur Last gelegten Tat ergibt. Zur Leitung ihrer geheimen Beratung und Abstimmung wählen die Geschwornen einen Obmann. Dieser gibt dann im Sitzungszimmer den Wahrspruch kund und zwar indem er die Worte spricht: »Auf Ehre und Gewissen bezeuge ich als den Spruch der Geschwornen«, hierauf aber die von dem Vorsitzenden gestellten Fragen samt den von den Geschwornen gegebenen Antworten verliest. Zur Verurteilung ist eine Stimmenmehrheit von zwei Dritteln erforderlich. In Gemäßheit des von ihnen gefällten Wahrspruchs (Verdikts) ergeht dann entweder Freisprechung oder die Strafverhängung seitens des Schwurgerichtshofs, nachdem die Parteien noch einmal gehört worden sind. – In Österreich (Gesetz vom 23. Mai 1873) wird die Urliste nach denselben Gesetzen wie in Deutschland gebildet. Aus derselben wählt eine Kommission, bestehend aus dem Präsidenten und 3 Richtern des Gerichtshofes erster Instanz, sowie aus drei Vertrauensmännern, die Haupt und bez. die Ergänzungsliste der Geschwornen, die für das bevorstehende Kalenderjahr zum Dienst berufen werden können (Jahreslisten). Aus dieser wird sodann 14 Tage vor Beginn jeder Schwurgerichtsperiode in öffentlicher Sitzung des Gerichtshofes erster Instanz durch das Los die Dienstliste, bestehend aus 36 Haupt- und 9 Ergänzungsgeschwornen, gebildet. Die österreichische Strafprozeßordnung (§ 316 ff.) unterscheidet neben der Hauptfrage Zusatzfragen und Eventualfragen; erstere sind für den Fall der Bejahung, letztere für den der Verneinung einer andern Frage zu stellen. Ihrem Inhalt, wenn auch nicht der Klassifizierung nach entsprechen die Zusatz- und Eventual fragen den Neben- und Hilfsfragen des deutschen Rechtes. Der österreichische Schwurgerichtsvorsitzende hat nicht nur eine Rechtsbelehrung zu geben, sondern auch eine gedrängte Darstellung (Resümé) der für und wider den Angeklagten sprechenden Beweise, wobei er jedoch seine eigne Ansicht über die Schuld des Angeklagten nicht kundgeben darf. Der Obmann der Geschwornen leitet die Bekanntgabe ihres Wahrspruches mit den Worten ein: »Die Geschwornen haben nach Eid und Gewissen die an sie gestellten Fragen beantwortet, wie folgt«; hierbei ist auch das Stimmenverhältnis bekannt zu geben. Zur Bejahung der Schuldfrage ist ebenfalls eine Mehrheit von mindestens zwei Drittteilen erforderlich (§ 325 ff.). Fast alle europäischen Staaten, auch Rußland, haben sich nach und nach für Schwurgerichte entschieden; doch fehlt das S. in Holland, Spanien und Dänemark.
Vgl. Mittermaier, Die öffentliche mündliche Strafrechtspflege u. das Geschwornengericht (Landsh. 1819) und Erfahrungen über die Wirksamkeit der Schwurgerichte (Erlang. 1865); Biener, Das englische Geschwornengericht (Leipz. 1852–55, 3 Bde.); Brun ner, Die Entstehung der Schwurgerichte (Berl. 1872); Schwarze, Das deutsche S. (Erlang. 1865); Glaser, Zur Juryfrage (Wien 1864); H. Meyer, Tat- und Rechtsfrage im Geschwornengericht (Berl. 1860); v. Bar, Recht und Beweis im Geschwornengericht (Hannov. 1865); Binding, Die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts (Leipz. 1876); H. Seuffert, Erörterungen über die Besetzung der Schöffengerichte und Schwurgerichte (Bresl. 1879); Dalcke, Fragestellung und Verdikt im schwurgerichtlichen Verfahren (2 Aufl., Berl. 1898); Kalau vom Hofe, Der Vorsitz im S. (das. 1901); Görres, Der Wahrspruch der Geschwornen und seine psychologischen Grundlagen (Halle 1905); Weidlich, Die englische Strafprozeßpraxis und die deutsche Strafprozeßreform (Berl. 1906); de Niem, Berufsrichter oder Laienrichter (Leipz. 1906); »Schwurgerichte und Schöffengerichte, Beiträge zu ihrer Kenntnis und Beurteilung« (eine Sammlung von Beiträgen der Freunde und Gegner des Schwurgerichts, hrsg. von Mittermaier und Liepmann, Heidelberg 1906 ff.); Oetker, Das Verfahren vor den Schwur- und den Schöffengerichten (Leipz. 1907); Sirey und Malepeyre, Code d'instruction-criminelle annotée (4. Aufl., Par. 1903), und die beim Artikel »Schöffengerichte« zitierten Schriften.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.