- Milton [2]
Milton (spr. millt'n), John, einer der größten Dichter Englands, geb. 9. Dez. 1608 in London, gest. 8. Nov. 1674 in Bunhill Fields (London), stammte aus einer begüterten Familie, die ihren Sitz auf dem Landgut Milton bei Thame in Oxfordshire hatte. Sein Vater, ein Notar, war wegen seines Übertritts zur anglikanischen Kirche von dem streng katholischen Großvater enterbt worden. Er erzog M. mit großem Ernst, sandte ihn auf die Schule von St. Paul, 1624 nach Christ's College in Cambridge und wurde von ihm in lateinischen Versen gefeiert. Den mädchenhaft schönen und behüteten Knaben nannten die Kameraden neckend »the lady«. Er war erhaben über ihre Ausgelassenheit, über die Abrichtungsmanier der Lehrer und den Hochmut der Prälaten, von denen er sich aus der Kirche gedrängt fühlte, so daß er es aufgab, Theolog zu werden. Als Magister artium kehrte er 1632 zum Vater zurück, bezog mit ihm ein Landhaus in Horton bei Windsor und lebte der Literatur. Hier schrieb er seine ersten namhaften Dichtungen, die Idyllen »Allegro« und »Penseroso«, in denen er das Tun eines heitern und eines ernsten Geistes durch alle Tageszeiten verfolgte: es sind Reihen der schönsten Stimmungsbilder, die auf die Landschaftspoesie des 18. Jahrh. einen beherrschenden Einfluß übten. Seine Vorbilder waren Theokrit und Vergil, Spenser, Ben Jonson, Burton und Brown. Mit Motiven aus Peele und Ben Jonson gestaltete er das Maskenspiel »Comus«, zu Ehren der befreundeten Grafenfamilie Bridgewater auf Ludlow Castle, worin er zugleich in Spenserisch-allegorisierender Art den Sieg keuscher Weiblichkeit über die faunischen Waldgeister der Sinnlichkeit darstellte (1634). Um dieselbe Zeit ehrte er die verwitwete Gräfin von Derby, deren dichterfreundliches Haus bereits die Huldigung von Spenser erfahren hatte, in der kürzern Maske »Arcades« und bald darauf den verlornen Freund King, der 1637 im Irischen Meer ertrank, in der Schäferelegie »Lycidas«, die zwischen Spensers »Astrophel« und Tennysons »In memoriam« eine markante Mittelstellung einnimmt. In diesen Jugenddichtungen offenbart sich am deutlichsten seine Zugehörigkeit zur Renaissance, sein Schönheitssinn und seine plastische Bilderkraft. So war M. bereits ein namhafter Autor, als er 1637, erschüttert vom Verluste der Mutter, eine Reise nach dem Kontinent antrat. In Paris verkehrte er mit Hugo Grotius und hielt sich dann längere Zeit in Italien (Florenz, Rom, Neapel) auf, dessen Poesie er liebte, und mit dessen Gelehrten er mehrfach in sympathische Beziehung trat. Eben gedachte M. nach Griechenland überzufahren, als ihn die Kunde vom Ausbruch der bürgerlichen Unruhen nach England zurückrief (1639). Hiermit begann seine politische Periode. Anfänglich enthielt er sich jeder Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten und lebte in London der Erziehung junger Leute als aufmerksamer Beobachter. Erst Bischof Halls Verteidigung des Prälatentums veranlaßte ihn zu Streitschriften (»Prelatical episcopacy«, »Reason of church-government« etc., 1641 u. 1642), in denen er sich gegen den Versuch erhob, die anglikanische Kirche durch Verschärfung der bischöflichen Verfassung dem Katholizismus wieder anzunähern. Die Schenkung Konstantins, welche die weltliche Macht und den Reichtum der Papstkirche begründet hatte, bezeichnet M. mit Dantes Worten als »die wahre Büchse der Pandora«. Nachdem er sich 1643 mit Mary Powell, der Tochter eines jovialen royalistischen Landedelmanns in Oxfordshire, vermählt und die junge Frau ihn nach Monatsfrist wieder verlassen hatte, verfaßte er vier Schriften über die Ehescheidung (1643–45; deutsch von Holtzendorf, Berl. 1855), die er, entgegen den Anschauungen jener Zeit, lebhaft verteidigte, und zwar wollte er die Entscheidung über die Trennung der Ehe nicht den Gerichten, sondern, der altjüdischen Anschauung entsprechend, nur dem Gewissen des Mannes überlassen. Auch schrieb er ein Buch über Erziehung, worin er einen freiern, wahrhaft klassischen Jugendunterricht forderte. Mittlerweile hatten die Presbyterianer im »langen Parlament« die Oberhand gewonnen; sie bewiesen aber die gleiche Unduldsamkeit wie die gestürzten Bischöflichen und beschlossen 1644, daß für den Druck jeder Schrift wieder eine Lizenz eingeholt werden müsse. Da richtete M. an das Parlament die »Areopagitica«, jene berühmte Rede zum Schutz der Preßfreiheit, die schönste seiner prosaischen Schriften, wo er unter anderm den Gedanken ausspricht: wer ein Buch vernichte, töte die Vernunft selbst; denn es sei möglich, daß eine Wahrheit, einmal gewaltsam unterdrückt, in der Geschichte nie wiederkehre. In den vier nächsten Jahren (1645 bis 1649) war er mit einer »Geschichte Englands in der angelsächsischen Epoche« beschäftigt, gedruckt 1669 als »History of Britain«. Seine Frau kehrte jetzt, da es den Royalisten schlecht ging, zu ihm zurück (1645) und schenkte ihm drei Töchter. Als Cromwell 1649 den Staatsrat neu formierte, wurde M. dessen Geheimschreiber für die lateinischen Ausfertigungen (Latin Secretary). In dieser wichtigen Stellung, die er während der ganzen Dauer der Republik bekleidete. veröffentlichte er 1649 die schon vor dem Tode des Königs begonnene Schrift »The tenure of kings and magistrates«, eine unbedingte Rechtfertigung der Hinrichtung Karls I. mit Gründen des Naturrechts. Indes entfesselte die Hinrichtung des Königs einen Sturm der Entrüstung bei vielen Engländern und schien die Sicherheit jedes Bürgers zu bedrohen; zugleich wurde das Mitleid mit der geköpften Majestät geweckt durch die Schrift »Eikon basilike, das Bildnis Seiner geheiligten Majestät in Seiner Einsamkeit und Qual«, die sich für ein nachgelassenes Werk des Königs selbst ausgab und bald in 47 Auflagen im Land verbreitet war.
Unverzüglich antwortete M. mit seinem »Eikonoklastes« (»Bilderstürmer«, 1649), worin er sich heftig über die Schwäche aussprach, mit der das Volk gern die großen öffentlichen Sünden eidbrüchiger Fürsten über den kleinen Tugenden ihrer Häuslichkeit vergißt. Als dann der gelehrte Salmasius auf Wunsch Karls II. (M. behauptete, »für den Judaslohn von 100 Jakobstalern«) die »Defensio regia« schrieb, antwortete M. mit der »Defensio pro populo anglicano« (1650): gegenüber den Angriffen jenes französischen Reformierten verkündet er die Freiheit als ein angebornes Recht der Völker und spricht der Nation das Recht zu, einen verräterischen Tyrannen zu richten und zu strafen. Das Buch ist eine Oppositionsschrift von weltgeschichtlicher Bedeutung; es wurde in ganz Europa begierig gelesen, in Paris und Toulouse durch Henkershand verbrannt, vom englischen Parlament aber mit 100 Pfd. Sterl. belohnt, die M. folgerichtig nicht annahm. Übermäßige Anstrengung bei Ausarbeitung dieser Schrift hatte seine Erblindung zur Folge. Einige kleinere Flugschriften im Interesse der Republik (»Defensio secunda«, »Upon tue model of common wealth«, »Ready and easy way to establish a free common wealth«) beschließen die Reihe seiner prosaischen Schriften. Sie dienten der Politik Cromwells, dessen Hoffnung es war, »den gesamten protestantischen Namen in brüderlicher Eintracht zusammenzuknüpfen« und diese gesammelte Macht dem Haus Habsburg entgegenzustellen. Doch war M. zugleich für volle bürgerliche Freiheit und volle Trennung des Staates von der Kirche. Nach dem Fall der Republik und der Wiedereinsetzung der Stuarts hatte M. von den Royalisten harte Verfolgung zu erwarten. Am 16. Juni 1660 wurde die »Defensio« auf Befehl des Parlaments durch den Henker verbrannt; der Verfasser selbst wurde verhaftet, aber nach kurzem wieder freigelassen. Einsam, kränklich und mit beschränkten Mitteln kehrte M. ins Privatleben zurück. Seine erste Frau war 1652 gestorben. Von ihren Töchtern hatte die älteste einen Sprachfehler; den beiden jüngern machte es wenig Vergnügen, dem blinden Vater vorzulesen, oft aus Büchern, deren Sprache sie nicht verstanden; er nannte sie im Testament undutiful. 1656, noch in den Tagen seines politischen Wirkens, hatte er sich mit Katharine Woodcock vermählt, die aber 1658 ebenfalls starb. Die dritte Ehe, die der 54jährige, hilfsbedürftige Blinde auf das Zureden seiner Freunde mit Elisabeth Minshull 1662 einging, als seine älteste Tochter schon siebzehn Jahre zählte, war dauerhafter. Dazu war sein Vermögen in den Wirren des Bürgerkriegs zum großen Teil verloren, sein Haus im Londoner Brand (1666) zugrunde gegangen. Die Gicht, an der er sterben sollte, plagte ihn. Dennoch schuf er gerade in dieser letzten freudlosen Periode, in den Jahren 1658–65, das Werk, auf dem sein Dichterruhm vornehmlich beruht: »The Paradise lost« (12 Gesänge, in reimlosen Jamben gedichtet). Dies gedankenschwere Epos, das mit gedrängten Worten weite Ausblicke in Vorgeschichte der Welt, die Seelen der handelnden Personen und die Nachwirkung der Erbsünde eröffnet, beginnt mit einer vielbewunderten Schilderung des Satans: ihn quält der doppelte Gedanke an die verlorne Glückseligkeit und das Glück der neuerschaffenen Menschen; geblieben sind ihm »der unzähmbare Wille, der Rache Drang, der unsterbliche Haß, der Mut, der nie sich unterwirft und beugt«. Vieles, was dieser Höllenfürst sagt, wurzelt in der eigensten Empfindung des Dichters. Minder ansprechend hat er die Frömmigkeit Adams dargestellt. Eva läßt sich durch die gleißende Schlange betören, wie England durch den Glanz des Königtums. Unter den Hauptstrafen des Sündenfalls erscheinen Tyrannen und Eroberungskriege. Das Werk fand nicht sogleich einen Verleger; es erschien erst 1667 (faksimiliert von Masson, Lond. 1876), in 2. Aufl. 1674, in 3. Aufl. nach Miltons Tod 1678. An Honorar bekam M. im ganzen 10 Pfd. Sterl. Unter den nächsten Ausgaben sind die liebevolle des Bischofs Th. Newton 1749 und die kühn nachbessernde von Bentley hervorzuheben. Addison verhalf dem Werke durch sein Lob im »Spectator« 1712 zu Berühmtheit auf dem Kontinent, wo es Klopstock zum »Messias« anregte. Sein bedeutendster Nachahmer in England war Byron im »Cain«. Deutsche Übersetzungen versuchten Th. Haake , E. G. v. Berge (1682), Bodmer (Zürich 1732), Zachariä (Altona 1762), Bürde (Berl. 1793), Prieß (Rost. 1813), Rosenzweig (Dresd. 1832). Kottenkamp (Stuttg. 1841), A. Böttger (s. unten; auch mit den Illustrationen von G. Doré, 2. Aufl., Berl. 1899), Schuhmann (2. Aufl., Stuttg. 1877), Eitner (Hildburgh. 1867); vgl. G. Jenny, Miltons »Verlornes Paradies« in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (St. Gallen 1890). Dem großen Einfluß von Vondels »Lucifer« auf dies klassisch-religiöse Nationalepos der Engländer ist G. Edmundson nachgegangen (»Milton and Vondel«, 1885); allerdings nicht ohne Übertreibung (vgl. Aug. Müller, Miltons Abhängigkeit von Vondel, Berl. 1891). M. hat später noch ein »Paradise regained« geschrieben. das die Versuchung Christi in der Wüste zum Stoff hat, aber zu lehrhaft und frostig ist. Sein letztes Werk ist das in griechischer Form geschriebene Trauerspiel »Samson Agonistes« (1671), das den Untergang des geblendeten Samson und seine wuchtige Rache an den Philistern mit autobiographischer Wärme darstellt. Es wurde die Unterlage für Händels Oratorium »Samson«. Nach Miltons Hingang begrub man ihn in der St. Gileskirche; sein Denkmal in der Westminsterabtei stammt erst aus dem Jahre 1747. Seine »Poetical works« wurden gesammelt und mit wertvollem Kommentar versehen von Todd (Lond. 1801, 7 Bde., u. ö.).
Es folgten unter anderm die Aldine-Edition mit Lebensbeschreibung von Phillips 1826, Ausgaben von Mitford 1832, von Bradshaw 1892, Masson (Cambridge 1877, 3 Bde., u. ö.; auch als »Globe Edition« 1877 in 1 Bd.). Seine »Prosaic works« gaben Toland (1698), Birch (1738 u. 1753), Symmons (1806), Fletcher (1833) und St. John in Bohns »Standard Library« (1848–53, 5 Bde.) heraus; die »Complete works« derselbe Fletcher (1834 bis 1838, 6 Bde.) und Mitford (1851, 8 Bde.; neue Ausg. 1862). Eine Übersetzung der »Poetischen Werke« lieferte A. Böttger (7. Aufl., Leipz. 1894), der »Politischen Hauptschriften« Bernhardi (Berl. u. Leipz. 1871–79, 3 Bde.). Sein Leben beschrieb zuerst E. Phillips (1694), dann Irland 1698 und viele andre, unter denen S. Johnson (in den »Lifes of English poets«) den klassischen Ausdruck für die Auffassung des 18. Jahrh. gibt; weiter ist hervorzuheben die Biographie von D. Masson (Lond. 1859–80, 6 Bde., Index 1895; Bd. 1–3 in 2. Aufl. 1881–96); reiches Material für Miltons politische Beziehungen bietet Alfred Stern, M. und seine Zeit (Leipz. 1877–1878, 2 Bde.). Treitschke im 1. Band der »Historischen und politischen Aufsätze« und Macaulay in den »Essays« haben glänzende Skizzen entworfen. Pattison (Lond. 1880), R. Garnett (das. 1889), Trent (das. 1899), W. Raleigh (das. 1900) boten kürzere Übersichten des Tatsächlichen; in Zusammenhang mit der zeitgenössischen englischen Literatur behandelte ihn J. Masterman, The age of M. (2. Aufl. Lond. 1903). Vgl. auch M. Telleen, M. dans la littérature française (Par. 1904).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.