- Gehirn
Gehirn (Hirn, Cerebrum, Encephalon; hierzu Tafel »Gehirn des Menschen«), bei den Wirbeltieren der im Kopf gelegene umfangreiche und hochorganisierte vordere Teil des Zentralnervensystems, der sich nach hinten in das Rückenmark fortsetzt; bei Wirbellosen wird meist die vor oder über dem Schlund gelegene Nervenmasse (das Oberschlundganglion) als G. bezeichnet (s. Nervensystem). – Das G. der Wirbeltiere bildet bei seiner Entstehung mit dem Rückenmark ein gemeinsames Rohr, das durch Abfaltung vom obern Blatt (Ektoderm) entstand und vorn geschlossen ist; hier entstehen als Anschwellungen an ihm zuerst die drei primären und aus ihnen die fünf sekundären Hirnbläschen: Vorder-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Nachhirn. Anfangs hintereinander liegend, erfahren sie dadurch eine Lageveränderung, daß zwischen Mittel- und Hinterhirn eine Knickung erfolgt; der Hohlraum wird mit der fortschreitenden Entwickelung eingeengt, bleibt jedoch dauernd in Form der mit seröser Flüssigkeit erfüllten Hirnhöhlen erhalten. Nach vorn bildet das G. die beiden Riechlappen (Textfig. 1 u. 2, a), von denen die Riechnerven entspringen; eine Ausbuchtung desselben Hirnteils bildet jederseits die Anlage des Auges. Mit zunehmender Intelligenz wird das Vorderhirn immer umfangreicher, so daß es bei vielen Säugetieren als Großhirn (Cerebrum b) die übrigen Teile nahezu und beim Menschen sogar ganz bedeckt. Seine beiden Hälften (die Hemisphären oder Lappen des Großhirns) sind an der Oberfläche und zwar zur Vergrößerung derselben reich mit Furchen und Falten versehen.
Die Ausbildung der einzelnen Hirnabschnitte ist den verschiedenen Abteilungen der Wirbeltiere eine sehr differente, bei den Säugetieren pflegt Hinter- und Nachhirn als Kleinhirn (Cerebellum c) und verlängertes Mark (Medulla oblongata d) gut entwickelt zu sein, während Zwischen- und Mittelhirn e gewöhnlich an Masse unbedeutend sind.
Beim Menschen wiegt das G. etwa 1400 g beim Mann und 1300 g beim Weib (Genaueres s. unten, S. 472). Von den schon erwähnten fünf Teilen faßt man drei als Unter- oder Mittelhirn (subencephalon, mensencephalon) zusammen und bezeichnet außerdem noch besonders das Groß- und Kleinhirn. Ersteres beträgt etwa sechs Siebentel der ganzen Hirnmasse und bedeckt sie völlig. Von oben her trennt eine tiefe Längsspalte die beiden Hemisphären (Tafel, Fig. 3), die durch den sogen. Balken (corpus callosum, Fig. 1 u. 2) mit dem Mittelhirn durch die beiden Großhirnschenkel (pedunculi cerebri, Fig. 2) verbunden sind, mit dem Kleinhirn aber direkt nicht zusammenhängen. Die Oberfläche der Hemisphären zeigt die Hirnwindungen (gyri), Wülste (Fig. 3) von 5–17 mm Breite, die durch enge, aber 14–27 mm tiefe Täler äußerlich voneinander gesondert werden und die Oberfläche des Gehirns etwa acht- bis zehnmal größer machen, als sie sonst sein würde. Eine besonders tiefe Falte, die Sylviussche Grube (fossa Sylvii, Fig. 4), auf der untern Fläche (Basis) der Hemisphären scheidet sie in zwei Lappen, den vordern und mittlern; letzterer geht ohne scharfe Grenze in den hintern (Fig. 3) über. Die Höhlen der Hemisphären (Seitenventrikel, ventriculi cerebri, Fig. 2) sind sehr eng und durch eine Scheidewand getrennt, deren hinterer Teil das Gewölbe (fornix, Fig. 1 u. 2) heißt, an der Basis des Gehirns von den Markhügeln (corpora candicantia, Fig. 1 u. 4) ausgeht und durch eine kleine Öffnung, das sogen. Monrosche Loch (foramen Monroi), die Seitenventrikel mit der dritten Hirnhöhle (s. unten) kommunizieren läßt. Jeder Ventrikel erstreckt drei Ausläufer (Hörner) weit in die Lappen des Großhirns, ihre Wandungen führen besondere Namen (Ammonshorn, Seepferdefuß etc.). Das Großhirn besteht aus einer etwa 5 mm dicken Rindenschicht (Hirnrinde) von grauer Farbe und großem Reichtum an Ganglienzellen und der darunter gelegenen weißen, aus Nervenfasern gebildeten Markschicht. Die Rinde beträgt etwa 40 Proz. des Gesamtvolumens des Großhirns und enthält gewiß viele Millionen Ganglienzellen. Die Höhle des wenig umfangreichen Zwischenhirns, der dritte Ventrikel, geht nach der Hirnbasis zu in den kleinen geschlossenen Tri chter (Infundibulum, Fig. 2) über, an dem ein solider Körper sitzt, der sogen. Hirnanhang (hypophysis cerebri, auch Schleimdrüse, glandula pituitaria, genannt, Fig. 1; s. ferner Textfigur 2 und Tafel »Nerven I«, Fig. 1). Dieser, von der Größe einer kleinen Kirsche, geht beim Embryo zum größten Teil aus einem sich abschnürenden Stück der Rachenschleimhaut hervor; seine Bedeutung ist unbekannt. Wahrscheinlich ein rudimentäres Organ wie sie ist auch die an der Decke des Zwischenhirns gelegene Zirbeldrüse (Epiphyse, glandula pinealis, epiphysis cerebri), in der man früher den Sitz der Seele suchte. In ihrem Innern finden sich Kalkkörperchen von der Größe eines Mohnkorns, der sogen. Hirnsand. Den Hauptteil des Zwischenhirns bilden die Sehhügel (thalami nervi optici), von denen ein Teil der Fasern des Sehnervs herkommt. Die Höhle des Mittelhirns ist ein sehr enges Rohr, die sogen. Silviussche Wasserleitung (aquaeductus Sylvii), und kommuniziert vorn mit dem dritten Ventrikel, hinten mit der Höhle des Hinterhirns. Am Mittelhirn selbst sind die Vierhügel (corpora quadrigemina) bemerkenswert. Das Hinter- oder Kleinhirn (cerebellum) zerfällt gleich dem großen G. in zwei Hemisphären (Fig. 4) und einen sie verbindenden mittlern Teil (Wurm, vermis). Die etwa 3 mm dicke Rindenschicht zeigt tiefe Falten, die auf einem senkrechten Schnitt als baumförmige Zeichnung hervortreten (Lebensbaum, arbor vitae, Fig. 1). Die Höhle im Kleinhirn bildet zusammen mit der im verlängerten Mark den sogen. vierten Ventrikel. Das Nach hirn oder verlängerte Mark (medulla oblongata, Fig. 4) geht in das Rückenmark über und gleicht diesem in der Verteilung der sogen. weißen und grauen Substanz (s. Rückenmark). Es wird durch die Varolsbrücke (Brücke, pons Varolii, Fig. 1 u. 4) mit dem übrigen G. verbunden (s. auch Tafel »Nerven I«, Fig. 4).
Das G. ist wie das Rückenmark von mehreren Häuten (Gehirnhäuten, meninges) umgeben. Die äußerste oder harte Hirnhaut (dura mater, Fig. 2) ist stark, sehnig, außen mit dem Schädelknochen verwachsen, innen glatt und feucht. An einzelnen Stellen spaltet sie sich in zwei Blätter, in deren Zwischenraum (Blutleiter, sinus durae matris, Fig. 1 u. 2, und Tafel »Nerven I«, Fig. 1) je eine Vene verläuft. In die Masse des Hirns hinein gehen von ihr aus zur Stütze der Hirnmasse und als Bahn der großen Venen mehrere Fortsätze ins Innere: die große und kleine Hirnsichel (falx cerebri und f cerebelli, Fig. 2) sowie das Hirnzelt (tentorium cerebelli, Fig. 1). Die innere, weiche oder Gefäßhaut (pia mater) ist zart und reich an Gefäßen, die von ihr aus zur Ernährung des Gehirns in dieses eindringen. Zwischen ihr und der harten Haut liegt die Spinnwebenhaut (arachnoidea), die ebenfalls sehr zart ist, aber nicht wie die Gefäßhaut in die Furchen eindringt, sondern über sie hinwegzieht. Die Räume zwischen beiden Häuten sind mit Lymphe erfüllt. Dem G. wird das Blut durch vier Gefäße zugeführt (s. Tafel »Blutgefäße«, Fig. 5, und »Nerven I«, Fig. 1), nämlich durch ein Paar Gehirnschlagadern (carotis interna) und ein Paar Wirbelschlagader (arteria vertebralis); das verbrauchte Blut sammelt sich aus den Hirnvenen in den beiden Querblutleitern und ergießt sich von da in die beiden innern Drosselvenen (vena jugularis interna).
Von der Hirnbasis gehen zwölf Paar Gehirnnerven ab (vgl. Tafel, Fig. 4, u. Tafel »Nerven I«): 1) die Riechnerven (nervi olfactorii), von den Riechlappen ausgehend, verlassen den Schädel durch die Löcher der Siebplatte des Riechbeins und verbreiten sich in der Schleimhaut der Nasenscheidewand (s. Nase). 2) Die Sehnerven (n. optici) entspringen von dem Sehhügel und den Vierhügeln und endigen in der Netzhaut des Augapfels. Sie bilden kurz nach ihrem Ursprung eine Kreuzung (s. Tafel »Auge II«, Fig. 1). 3) Die Augenmuskelnerven (n. oculomotorii) kreuzen sich gleichfalls noch in der Schädelhöhle und versorgen diejenigen Augenmuskeln, die nicht vom vierten und sechsten Nervenpaar innerviert werden; dienen auch zur Verengerung der Pupille. 4) Die Rollmuskelnerven (n. trochleares s. pathetici) entspringen aus den Vierhügeln und gehen zu dem schiefen obern Augenmuskel. 5) Die dreigeteilten Nerven (n. trigemini) haben eine vordere Wurzel, die aus der Brücke, und eine hintere Wurzel, die aus dem verlängerten Mark hervorgeht. Sie besitzen je ein großes Ganglion (ganglion Gasseri) und lösen sich in drei Äste auf, die gesondert die Schädelhöhle verlassen. Von diesen tritt der erste in die Augenhöhle und ist für deren Weichteile und die Stirn bestimmt; der zweite verbreitet sich in der Gegend des Oberkiefers; der dritte geht zu den Kaumuskeln und verbreitet sich im Bereich des Unterkiefers und der Zunge. 6) Die äußern Augenmuskelnerven (n. abducentes) entspringen aus dem verlängerten Mark und versorgen den äußern geraden Augenmuskel. 7) Die Gesichtsnerven (n. faciales) kommen vom verlängerten Mark und vom Boden der vierten Hirnhöhle her, treten durch einen besondern Kanal des Felsenbeins hindurch und sind für die sämtlichen Muskeln des Kopfes und Gesichts, mit Ausnahme der Kaumuskeln, bestimmt. 8) Die Hörnerven (n. acustiel) entspringen vom Boden der vierten Hirnhöhle und endigen in der Schnecke und in dem Säckchen des Vorhofs (s. Ohr). 9) Die Zungen-Schlundkopfnerven (n. glossopharyngei) stammen aus dem verlängerten Mark, versorgen die Rachengebilde und verbreiten sich in der Schleimhaut des Zungenrückens. Sie sind die eigentlichen Geschmacksnerven (s. Zunge). 10) Die herumschweifenden oder Lungen-Magennerven (n. vagi) stammen gleichfalls aus dem verlängerten Mark und geben Nerven für Schlundkopf, Kehlkopf, Herz, Lungen, Speiseröhre und Magen ab (s. Vagus). 11) Die Beinnerven (n. accessorii Willisii) entspringen aus dem Halsmark, steigen nach oben durch das Hinterhauptsloch in die Schädelhöhle, legen sich an den Nervus vagus und endigen im Kopfnicker und in dem Kappenmuskel an der Schulter. 12) Die Zungenfleischnerven (n. hypogiossi) stammen aus dem Rückenmark und verbreiten sich an den Muskeln des Zungenbeins und der Zunge.
Feinerer Bandes Gehirns. Zwischen Nervenfasern und Ganglienzellen liegt ein Gerüst von Stützzellen (sogen. Nervenkitt, Neuroglīa). Die Ganglienzellen bilden meist Gruppen (Nester), bis zu denen sich in manchen Fällen der Ursprung der einzelnen Hirnnerven verfolgen läßt, und die daher als Nervenkerne bezeichnet werden. Der Verlauf der Fasern dieser Nerven ist für die Ermittelung der Zentren einzelner Funktionen im G. von großer Wichtigkeit,. aber bisher nur teilweise bekannt. Noch weniger ist dies der Fall hinsichtlich der theoretisch wahrscheinlichen Zurückführung der Hirnnerven auf Spinalnerven (s. Rückenmark).
Physiologisches.
Vergleichend-anatomische Untersuchungen, die zeigten, daß sich in der Tierreihe eine um so bedeutendere Entwickelung der psychischen Leistungen findet, je mächtiger entwickelt das G. ist, Beobachtungen am Krankenbett und am Seziertisch, die ergaben, daß der normale Ablauf seelischer Funktionen an die normale Beschaffenheit des Gehirns, bez. bestimmter Abschnitte desselben geknüpft ist, und endlich das physiologische Experiment haben dargetan, daß das G., speziell das Großhirn, als das Organ der Seelentätigkeit aufgefaßt werden muß. Als Seele kann man den Inbegriff aller Vorstellungen bezeichnen; diese haben ihre Quelle in den Sinnesempfindungen. Die Fähigkeit, durch Verknüpfung der Vorstellungen zu Begriffen und Urteilen zu gelangen und diese zur Anpassung an die wechselnden Verhältnisse der Außenwelt zu benutzen, charakterisiert das intellektuelle Leben. Der physiologischen Forschung ist für die Erklärung der seelischen Funktionen kein Angriffspunkt geboten; nicht das Wesen der Seele, sondern nur ihr Eingreifen in materielle Prozesse, z. B. die Erregung motorischer Nervenfasern durch das Willensorgan, kann Gegenstand des physiologischen Experiments sein.
Je tiefer ein Tier in der Tierreihe steht, desto geringer sind die Veränderungen, die es durch die Fortnahme seines Großhirns erleidet. Bei Fischen macht sich gar kein Ausfall bemerklich; bei Fröschen nur ein gewisser Mangel an Initiative und der maschinenmäßige Ablauf mancher Reflexbewegungen, die ein unversehrtes Tier nach Belieben zulassen oder hemmen kann. Vögel verlieren die Fähigkeit der selbständigen Nahrungsaufnahme, verschlucken aber in den Schnabel gebrachtes Futter und können durch künstliche Fütterung monatelang am Leben erhalten werden. Sie können gehen und auch fliegen, ihre Bewegungen machen aber einen automatenhaften Eindruck, da ihr Ablauf von vorauszubestimmender Regelmäßigkeit ist; alle Instinkte, die Pflege der Jungen, die sexuellen Neigungen, die Furcht vor Raubtieren und. Katzen, sind verschwunden. Weit größer sind die Defekte, die man nach der Entfernung des Großhirns bei den höherstehenden Säugetieren beobachtet.
Die Untersuchungen von Goltz an großhirnlosen Hunden haben gezeigt, daß ein solches Tier zwar noch die Fähigkeit besitzt, sich aufrecht zu erhalten und, durch Hunger oder Schmerz getrieben, auch Ortsbewegungen auszuführen, daß es auch, freilich in stumpfer Weise, auf stärkere Sinnesreize reagiert, daß ihm aber alle richtigen Auslegungen des Empfundenen, Überlegung und Gedächtnis fehlen, daß bei ihm alle Äußerungen des Verstandes weggefallen sind.
Mit diesen Beobachtungen stimmen auch die Erfahrungen über die Entwickelung des Seelenvermögens beim Kind überein, das mit einem noch ganz unfertigen Großhirn zur Welt kommt, und dessen geistige Tätigkeit sich dementsprechend fast ausschließlich auf den Ausdruck und die Befriedigung des Hungers und auf die Abwehr andrer Unlustgefühle beschränkt. Auch die Erfahrungen der Irrenärzte an kranken Menschen lassen sich mit den Ergebnissen des Tierversuches in Einklang bringen. Mangelhafte Ausbildung des Großhirns bedingt Idiotismus.
Die experimentellen Untersuchungen von Hitzig und Fritsch, H. Munk, Ferrier u. a., nicht minder die anatomischen und entwickelungsgeschichtlichen Forschungen von Flechsig über den Verlauf der von den verschiedenen Teilen der Körperperipherie zur Hirnrinde leitenden Nervenbahnen haben gezeigt, daß gewisse psychische Leistungen, besonders solche, die an unmittelbare Sinneseindrücke oder an das Sinnesgedächtnis geknüpft sind, auf bestimmte Regionen der Hirnrinde verteilt (lokalisiert) sind. Wir wissen, daß in ihr Sinnessphären unterschieden werden müssen, die den letzten Endigungen der einzelnen Sinnesnerven entsprechen, und deren Verlust die betreffenden sensorischen Leistungen schädigt oder gar aufhebt. Von ihnen liegt die dem Gesichtssinn zugeordnete in den Windungen des Hinterhauptlappens (Sehsphäre), die dem Gehör entsprechende im Schläfenlappen (Hörsphäre). Eine kleine Partie an der medialen Hirnfläche gehört dem Geruch (Riechsphäre), ein bedeutender Abschnitt im Gebiete des obern Stirn- und vordern Scheitelhirns wird als Fühlsphäre oder auch als Körperlastsphäre bezeichnet.
Textfig. 3 und 4 (S. 469) stellen zwei Ansichten des Menschenhirns dar, in denen auf Grund anatomischer Untersuchung die Lage der Sinnessphären durch Punktierung angegeben ist. Die dichter punktierten Gegenden bezeichnen die Stellen, wo die meisten Sinnesnerven in der Hirnrinde enden.
Die Fühlsphäre enthält die Endstationen aller derjenigen Nervenbahnen, welche die Tastempfindungen, das Muskelgefühl, die Vorstellungen von der Lage und Haltung und dem Bewegungszustand der einzelnen Körperteile vermitteln. Zugleich aber nehmen in derselben Region diejenigen Nervenbahnen ihren Anfang, mittels deren die meisten Muskeln des Körpers in Tätigkeit gesetzt werden: wir haben hier den Ursprung der den willkürlichen Bewegungsantrieben dienenden Nervenleitungen zu suchen.
Bevor man die Beziehungen der Fühlsphäre zu den Gefühlen schärfer erkannte, hat man sie deshalb auch als motorische Region den andern Sinnessphären, den sensorischen Regionen, gegenübergestellt. Innerhalb dieser Sphäre sind, wie das Tierexperiment und nach ihm auch die Beobachtung an kranken Menschen ergeben hat, die den einzelnen Muskelgruppen entsprechenden motorischen Nervenbahnen so gegliedert, daß von jedem Teil derselben aus ganz bestimmte Muskeln der entgegengesetzten Körperseite in Tätigkeit gesetzt werden. Zuerst waren es die von Hitzig und Fritsch am Hundegehirn unternommenen Versuche, aus denen hervorging, daß es gewisse Stellen der Großhirnrinde (motorische Stellen oder motorische [psychomotorische] Zentren) gibt, auf deren elektrische Reizung ganz bestimmte Bewegungen auf der gegenüberliegenden Körperseite erfolgen, während nach Zerstörung dieser Stellen mehr oder weniger ausgesprochene Lähmungen eintreten. Diese Stellen liegen sämtlich in den vordern Regionen des Gehirns zwischen der Riechwindung und der Sylviusschen Spalte. Großes Interesse wegen der anatomischen Ähnlichkeit mit dem menschlichen G. besitzen die Experimente, die behufs Auffindung der motorischen Punkte am G. des Affen angestellt wurden. Die motorischen Rindenfelder liegen hier (Textfig. 5) hauptsächlich in den beiden Zentralwindungen.
Der hier vorhandenen Gliederung entspricht fast vollständig diejenige, die man aus Beobachtungen an Kranken für die Großhirnrinde des Menschen erschlossen hat. Auch in dieser liegt das motorische Gebiet größtenteils in den beiden die Zentralfurche (c c, Textfig. 6) begrenzenden Windungen und in deren Nachbarschaft. Wie die Abbildung erkennen läßt, enthält von diesem motorischen Rindenabschnitt das obere Drittel die Zentren für die Bewegungen der verschiedenen Abschnitte des Beines, das mittlere für die der obern Extremität, das untere für die Gesichtsmuskeln, Zunge und Kehlkopf. Die Lähmungen, die bei Verletzung oder Erkrankung dieser Regionen entstehen, erfolgen auf der entgegengesetzten Körperseite; sie bestehen in einer Aufhebung des Willenseinflusses auf die Muskeln, zu der sich später nicht selten dauernde Kontrakturen gesellen. Ist die Rindenzerstörung von begrenzter Ausdehnung (Herderkrankung), so sind nur diejenigen Muskeln oder Muskelgruppen gelähmt, deren Rindenzentrum beteiligt ist. Reizungszustände in dieser Region erzeugen mehr oder minder lokalisierte Krämpfe in den Muskeln der Gegenseite. Hiermit hängt die Erscheinung der Rindenepilepsie oder kortikalen Epilepsie zusammen.
Besonders bemerkenswert sind die Beziehungen dieser Rindengegend zur Sprache. Die Rindensubstanz an der vordern und untern Grenze der Sylviusschen Spalte, wozu sich noch das Gebiet des Insellappens gesellt, ist als das Zentrum der Sprachfunktionen zu bezeichnen. Zahlreiche Beobachtungen haben indessen ergeben, daß für die artikulierten Sprachbewegungen und für die Auffassung der Sprachlaute eigne Zentralgebiete bestehen. Man kann sie als motorische und als sensorische Sprachregion bezeichnen. Aphasie, d. h. Aufhebung oder Störung des Sprachvermögens, die häufig mit Agraphie, d. h. Aufhebung des Schreibvermögens, verbunden ist, ist an Läsionen der untersten Stirnwindung (Brocasche Windung) gebunden, während Worttaubheit, d. h. Störung der Wortperzeption, zu der sich in gewissen Fällen Wortblindheit, d. h. Unvermögen, die Schriftbilder der Worte zu verstehen, gesellt, bei Affektionen der ersten Schläfenwindung, bez. einer weiter nach hinten liegenden Rindenpartie beobachtet wird. Man nimmt deshalb an, daß in den zuletzt erwähnten Regionen das Wort- und Schriftgedächtnis seinen Sitz hat (Textfigur 6). Aphasie tritt meistens nur nach Zerstörung der linken dritten Stirnwindung ein; nur bei Linkshändern, d. h. solchen Menschen, die ihre rechte Gehirnhälfte vorzugsweise in Anspruch nehmen, entsteht Aphasie nach Erkrankung der rechten Brocaschen Windung. Das Sprachzentrum wird demnach nur auf einer Seite eingeübt, und zwar auf derjenigen, die auch für die Bewegungen der Extremitäten bevorzugt wird. Das ist aber meistens die linke. Bei besonders redebegabten Menschen hat man eine bedeutendere Ausbildung der linken untersten Stirnwindung beobachtet. Möbius verlegt in dieselbe Gegend das mathematische Organ, weil er sie bei großen Mathematikern besonders ausgebildet gefunden haben will.
In bezug auf die Lokalisation der sensorischen Rindenfelder stimmen die experimentellen Beobachtungen am Tier wie die klinischen Erfahrungen am Menschen mit den oben erwähnten anatomisch-entwickelungsgeschichtlichen Ermittelungen überein; besonders gilt dies für die zentrale Vertretung des Gesichtssinnes und des Gehörsinnes. Durch Erkrankung des Hinterhauptlappens entsteht demgemäß Blindheit, durch Erkrankung des Schläfenlappens Taubheit. Nach unvollständiger Zerstörung dieser Regionen hat man Seelenblindheit und Seelentaubheit beobachtet, d. h. Zustände, bei denen Gegenstände wohl noch gesehen und Töne noch gehört, in ihrer Bedeutung aber nicht mehr erkannt werden können. Verletzungen der mit der Bewegungssphäre sich zumeist deckenden Tast- oder Fühlsphäre haben Gefühlsstörungen auf der gegenüberliegenden Körperseite zur Folge.
In den von den motorischen und sensorischen Zentren nicht besetzten Teil der Hirnrinde verlegt Flechsig die von ihm so genannten Assoziationszentren. Auf Grund seiner entwickelungsgeschichtlichen Forschungen hält Flechsig diese Rindenpartien für Apparate, welche die Tätigkeit mehrerer Sinnesorgane zu höhern Einheiten zusammenfassen, also zur Assoziation von Sinneseindrücken verschiedener Qualität (Gesichts-, Gehörs-, Tasteindrücken) dienen. Da die höhere geistige Tätigkeit, das Denken, auf einer solchen in den verschiedensten Richtungen sich geltend machenden assoziativen Verknüpfung der durch die Sinne gewonnenen Eindrücke beruht, glaubte Flechsig diese Zentren geradezu als Denkorgane bezeichnen zu sollen.
Die Hirnganglien stehen nicht allein mit der grauen Substanz des verlängerten Markes und des Rückenmarkes und hierdurch mit der Körperperipherie, sondern auch mit den höhern Sinnesorganen in Verbindung. Diese Verbindungen sichern der Tätigkeit des Rückenmarkes einen bestimmten, durch die höhern Sinne beeinflußten Charakter, der sich in der Koordination der Bewegungen äußert. Nach Verletzung der Hirnganglien, aber auch andrer Hirnteile hat man oft Zwangsbewegungen (s.d.) beobachtet.
Dem Kleinhirn, das wie eine Nebenleitung in die vom Rückenmark zum Großhirn verlaufenden Leitungsbahnen eingeschaltet ist, hat man früher auch psychische Funktionen zugeschrieben. Indes sind nach Entfernung des Kleinhirns die willkürlichen Bewegungen zwar noch möglich, sie erscheinen aber geschwächt, ungeordnet und unsicher, und das Organ besitzt daher eher eine Bedeutung für die Regelung der Körperbewegungen.
Was die Geschwindigkeit der Hirnverrichtungen betrifft, so ist durch Messung der sogen. Reaktionszeit ermittelt, daß die einfachsten psychischen Prozesse keineswegs momentan ablaufen, daß vielmehr z. B. für das Zustandekommen einer Tastempfindung ein Zeitraum von ca. 1/7 Sekunde, für eine Lichtempfindung ca. 1/5 Sekunde, für eine Geschmacksempfindung ca. 1/6-1/5 Sekunde erforderlich ist.
Über die physiologische Bedeutung der zwölf Gehirnnervenpaare ist das Nachfolgende ermittelt: 1) Der Riechnerv (nervus olfactorius) vermittelt die Geruchs-, 2) der Sehnerv (n. opticus) die Gesichtsempfindungen (s. Geruch und Gesicht). 3) Der gemeinschaftliche Augenmuskelnerv (n. oculomotorius) beherrscht den größern Teil der äußern Augenmuskeln und damit die Bewegungen der Augen. Der Nervenzweig, der an die Iris tritt, vermag reflektorisch von der Netzhaut aus verengernd auf die Pupille einzuwirken, sobald ein starker Lichtstrahl ins Auge tritt. Wird der Nerv durchschnitten oder gelähmt, so zeigen sich beständige Einstellung des Auges für die Ferne, Schielen nach auswärts, Erweiterung der Pupille, Herabhängen des obern Augenlides. 4) Der Rollmuskelnerv (n. trochlearis) ist der motorische Nerv für den Rollmuskel. 5) Der dreigeteilte Nerv (n. trigeminus) versorgt mit seinen motorischen Fasern die Kaumuskeln, während die in ihm in weit größerer Zahl vorhandenen sensibeln Fasern fast an alle Haut- und Schleimhautbedeckungen des Kopfes treten und hier nicht allein Empfindungen vermitteln, sondern auch eine ganze Reihe von Reflexbewegungen (z. B. Blinzeln und Niesen) auslösen. Ferner enthält der Nerv noch vasomotorische Fasern; bei Reizung einiger seiner Äste zeigt sich in deren Gebiet eine starke Füllung der Blutgefäße und Rötung der Haut. 6) Der äußere Augenmuskelnerv (n. abducens) ist der motorische Nerv für den äußern geraden Muskel des Auges; nach seiner Lähmung oder Durchschneidung gewahrt man Schielen nach innen bei sonst erhaltener Beweglichkeit des Auges. 7) Der Gesichtsnerv (n. facialis) versorgt mit seinen motorischen Fasern hauptsächlich die Gesichtsmuskeln; er ist der »mimische Nerv«. Weiter enthält er sekretorische Fasern für gewisse Speicheldrüsen. Nach der Lähmung des Facialis einer Seite erschlaffen die Gesichtsmuskeln der betreffenden Seite, das Gesicht wird deshalb nach der gesunden Seite hingezogen und erscheint verzerrt. Bei beiderseitiger Lähmung des Nervs wird das ganze Gesicht bewegungslos und erhält einen schlaffen, blöden Ausdruck. 8) Der Hörnerv (n. acusticus) vermittelt die Hörempfindungen (s. Gehör) und durch seine im Bogengangapparat endenden Fasern Vorstellungen von der Lage des Kopfes im Raum. 9) Der Zungen-Schlundkopfnerv (n. glossopharyngeus) vermittelt die Geschmacksempfindungen auf den hintern Regionen der Zunge, während der Nervus lingualis, ein Zweig des fünften Gehirnnervs, die vordern Regionen dieses Organs beherrscht (s. Geschmack). Die motorischen Fasern des Nervs treten an den weichen Gaumen; mit sekretorischen versorgt er die Ohrspeicheldrüse. 10) und 11) Der Lungen- Magennerv (n. vagus) und Beinerv (n. accessorius) sind mit ihren Fasern so innig verbunden, daß eine getrennte physiologische Betrachtung untunlich ist. Diese Nerven stehen den wichtigsten Geschäften des Verdauungs-, Atmungs- und Zirkulationsapparates vor, ihre Leistungen sollen deshalb nach diesen Apparaten gesondert betrachtet werden. Der Verdauungsapparat erhält sowohl motorische als sensible, ferner auch sekretorische Fasern. Die erstern lassen sich vom Rachen an bis zum obern Teil des Dünndarmes verfolgen und regeln die Bewegungen des Verdauungsapparates (Peristaltik). Die sensibeln Fasern lösen eine Anzahl von Reflexbewegungen, z. B. Schlingen und Erbrechen (s.d.), aus; von den sekretorischen ist die Absonderung des Magensaftes und des Bauchspeichels abhängig. Auch der Atmungsapparat empfängt motorische und sensible Nervenfasern; erstere verbreiten sich im Kehlkopf, in den Muskelfasern der Bronchien und in den Lungen. Von den an den Kehlkopf tretenden Nerven hat der N. laryngeus inferior s. recurrens besonderes Interesse. Bereits Galen war die hohe Bedeutung dieses Vagusastes für die Stimmbildung bekannt; er fand, daß Schweine nicht mehr schreien konnten, nachdem er beiderseits den Recurrens durchschnitten hatte; er nannte ihn deshalb den Stimmnerv. Die sensibeln Fasern haben die höchste Bedeutung für die Regulation der Atembewegungen (s. Atmung), außerdem wird von ihnen aus der Husten (s.d.) ausgelöst. Hinsichtlich der Wirkung auf den Zirkulationsapparat ist vor allen Dingen zu bemerken, daß der Vagus der Hemmungsnerv für das Herz ist (s. Blutbewegung). Entsprechend der Vielseitigkeit seiner Verrichtungen ist der N. vagus von großer Bedeutung für die Erhaltung des Lebens; Tiere, denen beide Vagusnerven durchschnitten werden, gehen deshalb sehr bald zugrunde. 12) Der Zungenfleischnerv (n. hypoglossus) ist der Bewegungsnerv der Zunge.
Vgl. Leuret, Anatomie comparée du système nerveux (Par. 1838–57, 2 Bde. mit Atlas; Bd. 2 von Gratiolet); Luys, Recherches sur le système nerveux cérébrospinal (mit Atlas, das. 1864) und Iconographie photographique des centres nerveux (das. 1872–74); Miklucho-Maclay, Beiträge zur vergleichenden Neurologie der Wirbeltiere (Leipz. 1870); Flatau und Jacobsohn, Handbuch der Anatomie und vergleichenden Anatomie des Zentralnervensystems der Säugetiere (Bd. 1, Berl. 1899); Kronthal, Schnitte durch das zentrale Nervensystem des Menschen (das. 1892); Retzius, Das Menschenhirn (Stockh. u. Jena 1896, 2 Tle.); Edinger, Vorlesungen über den Bau der nervösen Zentralorgane (7. Aufl., Leipz. 1904, 2 Bde.); Flatau, Atlas des menschlichen Gehirns und des Faserlaufes (2. Aufl., Berl. 1899, 2 Bde.); Wernicke, Atlas des Gehirns (Bresl. 1897–1900, 2 Tle.); Hasse, Handatlas der Hirn- und Rückenmarksnerven (2. Aufl., Wiesbad. 1900); Krause, Untersuchungen über den Bau des Zentralnervensystems der Affen (Bresl. 1899); Marchand, Über das Hirngewicht des Menschen (Leipz. 1902); His, Die Entwickelung des menschlichen Gehirns während der ersten vier Monate des intrauterinen Lebens (Bresl. 1904); Thudichum, Die chemische Konstitution des Gehirns des Menschen und der Tiere (Tübing. 1901); Obersteiner, Anleitung beim Studium des Baues der nervösen Zentralorgane (4. Aufl., Wien 1901); Eckhard u. Exner, Physiologie der nervösen Zentralorgane (in Hermanns »Handbuch der Physiologie«, Bd. 2, Leipz. 1879); Luys, Das G., sein Bau und seine Verrichtungen (das. 1877); Charlton Bastian, Das G. als Organ des Geistes (deutsch, das. 1882, 2 Bde.); Goltz, Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches (Berl. 1869) und Über die Verrichtungen des Großhirns (Bonn 1881); Munk, Über die Funktionen der Großhirnrinde (2. Aufl., Berl. 1890); Ferrier, Vorlesungen über Hirnlokalisation (deutsch von Weiß, Wien 1892); Meynert, Sammlung von populärwissenschaftlichen Vorträgen über den Bau und die Leistungen des Gehirns (das. 1892); Sachs, Vorträge über Bau und Tätigkeit des Großhirns und die Lehre von der Aphasie und Seelenblindheit (Bresl. 1893); Flechsig, Die Leitungsbahnen im G. und Rückenmark des Menschen (Leipz. 1876), G. und Seele (2. Aufl., das. 1896); Loeb, Einleitung in die vergleichende Gehirnphysiologie und vergleichende Psychologie (das. 1899); Steiner, Die Funktionen des Zentralnervensystems und ihre Phylogenese (Braunschw. 1885–1900,4 Abt.); Möbius, Über die Anlage zur Mathematik (Leipz. 1900); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. 1 (5. Aufl., das. 1902). Über Gehirnkrankheiten s. d.
Anthropologisches.
Sowohl hinsichtlich der Gesamtmasse des Gehirns als bezüglich des Hirngewichts und der Entwickelung der Hirnwindungen lassen sich zwischen den menschenähnlichen Affen (Anthropoiden) und dem Menschen sowie zwischen verschiedenen Menschenrassen erhebliche Unterschiede nachweisen. Das durchschnittliche Hirngewicht des Europäers beträgt für die Männer 1362 g, für die Weiber 1219 g. Das männliche Geschlecht erreicht das durchschnittliche Maximum seines Gehirns mit 1419 g zwischen 30 und 35 Jahren, das weibliche Geschlecht die völlige Entwickelung seines Gehirns schon zwischen 25 und 30 Jahren. Die Chinesen haben ein höheres Hirngewicht als die Europäer, dagegen beträgt das mittlere Hirngewicht des männlichen Negers nur 1244 g, dasjenige des Schimpansen 350–400 g. Während das Gewicht des erwachsenen Schimpansengehirns zum Gesamtkörpergewicht im Verhältnis von 1:70–80 steht, beträgt das besagte Verhältnis beim normalen, d. h. nicht fettleibigen Menschen 1:35–40. Beim jungen Schimpansen verhält sich das Hirngewicht zum Körpergewicht wie 1:25, beim menschlichen Kind wie 1:18, was mit der größern Menschenähnlichkeit junger Anthropoiden übereinstimmt. Im absoluten Hirngewicht wird der Mensch von Elefant und Walfisch, im relativen von kleinern Affen und Singvögeln übertroffen. Die Feststellung geringer Hirngewichte bei geistig bedeutenden und hoher Gewichte bei unbedeutenden Personen oder unkultivierten Menschenrassen ist auf manche andre Momente, wie Alter, Beziehungen zum Gesamtkörpergewicht etc., zurückzuführen (s. unten). Jedenfalls steht aber die Entwickelung der Vorderlappen des Großhirns als Sitz der höhern geistigen Funktionen zur geistigen Befähigung in direkter Beziehung. Ranke fand das Gewicht größer bei Stadtbewohnern als bei Landleuten, und Broca glaubte an Pariser Kirchhofsschädeln der verschiedenen Jahrhunderte eine Zunahme des Volumens nachweisen zu können. Entsprechend dem verschiedenen Grade der geistigen Entwickelung beim Anthropoiden, Naturmenschen und Kulturmenschen ist auch die Entwickelung der grauen Hirnsubstanz (Hirnrinde), die in der größern oder geringern Ausbildung der großen Windungszüge (Konvolutionen) und der kleinen Hirnwindungen (gyri) zum Ausdruck kommt, verschiedengradig. Rudolf Wagner hat an den Gehirnen von Gauß und Dirichlet nachgewiesen, daß das G. von geistig hervorragenden Männern charakterisiert ist durch die verwickelte Anordnung und Asymmetrie der Gyri beider Hirnhälften, wodurch unter Umständen ein Mindergewicht ausgeglichen werden kann. Gewisse Differenzen, die man zwischen dem Menschen- und Affengehirn zu finden glaubte, erwiesen sich als nicht stichhaltig, so das Fehlen bestimmter Partien des Menschenhirns im hintern Großhirnlappen der Anthropoiden (Owen), die Affenspalte, d. h. die durch Fehlen der innern obern Scheitelwindung bedingte Vertiefung der Hinterhauptspalte, die man mit Unrecht für ein Charakteristikum des Gehirns der Affen hielt. Die Oberfläche des Gehirns der Anthropoiden stellt nach Huxley eine Art von Umrißzeichnung des menschlichen dar, nur wenig von diesem sich unterscheidend. Gering entwickelt sind bei den Affen die als Sitz des Sprachzentrums (Brocasche Hirnwindung) gedeuteten Partien. Der Menschencharakter des Gehirns beruht nach I. Ranke auf dem Übergewicht des nicht automatisch wirkenden Teiles der Großhirnhemisphären über die automatisch wirkenden Gehirnabschnitte. Übrigens weisen auch gewisse Menschenrassen (Wedda und Tamilen auf Ceylon, Kurumba der Nilgiri) einen so kleinen Schädel und ein so geringes Hirnvolumen (Nanokephalie) auf, daß die Maximalgrenze des Anthropoidenhirns und die Minimalgrenze der Hirnentwickelung bei diesen Völkern sich sehr nahekommen. Beim Kulturmenschen (weniger bei Naturvölkern) hat das G. des Mannes vor demjenigen des Weibes sowohl das größere durchschnittliche Gewicht (s. oben) als auch die bedeutendere Entwickelung der Hirnwindungen voraus. Schon gleich nach der Geburt lassen sich erhebliche Unterschiede in der Entwickelung der die Sylviussche Spalte umgebenden Windungszüge bei beiden Geschlechtern nachweisen. Während beim G. von Affen und unkultivierten Völkern (Neger- und Hottentottengehirne) die Interparietalfurche (die großen Scheitelwindungen voneinander trennende Vertiefung) mit der Sagittalebene (von vorn nach hinten durch den Körper gelegte Vertikalebene) einen nach vorn offen stehenden spitzen Winkel bildet, verfolgt nach Rüdinger die Interparietalfurche beim Europäer einen mehr der Richtung der Sagittalebene sich annähernden Verlauf. Bei geistig hervorragenden Männern (I. v. Liebig u. a.) soll das Wachstum und die gesteigerte Entwickelung mitunter sogar zur Folge haben, daß die Interparietalfurche mit der Sagittalebene einen nach hinten offen stehenden spitzen Winkel bildet.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.