Genf [2]

Genf [2]

Genf (hierzu der Stadtplan), Hauptstadt des schweizer. Kantons G., liegt 379 m ü. M., am Ausfluß der Rhone aus dem Genfer See, ist Knotenpunkt der Eisenbahnen G.-Lausanne-St. Maurice und G.-Mâcon sowie mehrerer Schmalspurbahnen. G. ist wegen seiner unvergleichlichen Lage an dem belebten See und dem klaren Strom, durch die reiche Abwechselung in seiner Umgebung (im N. die sanften Abhänge des Jura, im S. der schroffe Salève, dahinter die gletscherreiche Montblanc-Kette) eine der schönsten Städte Europas und deshalb von Fremden viel besucht. Die Stadt besteht aus St.-Gervais am flachen, sanft nach dem Vorort Petit Saconnet (6408 Einw.) ansteigenden Ufer und der Altstadt (Vieille Cité) auf dem die Kathedrale tragenden und ca. 29 m über dem See gelegenen Sandsteinhügel St.-Pierre. Beide Stadtteile werden durch sieben Brücken verbunden, darunter den auf zwölf Bogen ruhenden Pont du Montblanc, der vom Grand Quai zu dem durch den Überblick auf die Berge Savoyens berühmten Quai du Montblanc führt. Zwischen dieser Brücke und dem Pont des Bergues, von letzterm aus zugänglich und eine herrliche Aussicht über den See, die beiden Uferseiten und das Gebirge darbietend, liegt die von Bäumen überschattete Rousseau-Insel mit dem Erzstandbild des Philosophen (1834, von Pradier). Unterhalb liegt eine größere Insel, die sogen. Ile, die durch Brücken mit den beiden Stadtteilen verbunden ist. Am Seeufer und teilweise an der Rhone ziehen sich aussichtsreiche Kais hin. Im Jardin des Alpes steht das Mausoleum des Herzogs Karl von Braunschweig (1879, von Franel), eine Nachahmung des Denkmals der Scaliger in Verona (das Reiterstandbild des Herzogs [von Caïn] steht in den Gartenanlagen); jenseits steht am Grand Quai das die Vereinigung Genfs mit der Schweiz feiernde Nationaldenkmal (von Dorer). Östlich davon liegt der Englische Garten oder die Promenade du Lac mit Fontaine, den Büsten der Maler Calame und Diday und einem Montblanc-Relief. Von Denkmälern sind noch zu nennen das Reiterstandbild des Generals Dufour (von Lanz) vor dem Theater und das Denkmal des Genfer Schriftstellers R. Töpffer. Unter den Kirchen ragt die reformierte Kathedrale St.-Pierre, 1124 in byzantinischem Stil vollendet, neuerdings restauriert, mit guten Holzschnitzereien und den Grabmälern des Herzogs von Rohan (Chefs der Protestanten unter Ludwig XIII.) und des Agrippa d'Aubigné (des Freundes Heinrichs IV.), hervor; daran schließt sich die gotische Makkabäerkapelle, 1406 erbaut, neuerdings restauriert. Sonst sind zu erwähnen der reformierte Temple de la Fusterie, die altkatholische Kirche St.-Germain, die römisch-katholische Kirche du Sacré-Coeur, eine russische, eine englische Kirche und eine Synagoge; ferner von Profanbauten das Rathaus, ein altertümliches Gebäude im florentinischen Stil, Sitz der Kantonsregierung, das neue Theater (1872–79, von Goß), die Universität (1868 bis 1872 erbaut) mit dem archäologischen und naturhistorischen Museum sowie einer Bibliothek von 150,000 Bänden und 16,000 Handschriften, das Gebäude der medizinischen Fakultät, der Kursaal, in dessen Nähe 1898 die Kaiserin Elisabeth von Österreich ermordet wurde, die Victoria Hall im florentinischen Stil (seit 1894, ein Konzerthaus), das Athenäum (für Vortragszwecke) u. a. Unter den Privatgebäuden bieten das ehemalige Wohnhaus Calvins (Rue Calvin) und das Geburtshaus Rousseaus (Grand' Rue) das meiste Interesse. G hatte 1900 mit den einverleibten Vororten Carouge (7420 Einw.), Eaux Vives (11,836 Einw.) und Plainpalais (20,066 Einw.) 105,521 Einw., wovon 43,21 Proz. Ausländer sind. Die Stadt ist Hauptsitz der im Kanton (s. oben) betriebenen Industriezweige, hat einen Hafen, der gegen den See durch zwei Dämme (Jetée des Pâquis rechts und Jetée des Eaux Vives, mit Leuchtturm, links) abgeschlossen ist, drei Markthallen, eine Handelskammer und beträchtlichen Handel mit Bodenprodukten und Industrieerzeugnissen. Auch ist G. Sitz eines deutschen Konsuls. Der Verkehr wird durch ein ausgedehntes Netz elektrischer Straßenbahnen gefördert. Unter den Bildungsanstalten tritt besonders hervor die 1873 aus der 1559 gegründeten Calvinischen Akademie hervorgegangene Universität (mit fünf Fakultäten), 1902 von 1075 Studierenden (darunter viele Ausländer, besonders Russen, und 372 Frauen) besucht. Ferner bestehen ein Collège, eine Uhrmacherschule, eine Handelsschule, eine Kunstgewerbeschule und ein Technikum (s. oben, Kanton G.). Unter den Kunstsammlungen sind zu nennen das Musée Rath, vom russischen General Rath angelegt und 1825 der Stadt geschenkt, mit Gemälden und Skulpturen, das Musée Fol mit griechischen, römischen und etruskischen Altertümern etc., das Musée Ariana, vom Schriftsteller G. Revilliod 1890 geschenkt, eine Sammlung von Gemälden, Kupferstichen und Autographen u. a. G. ist der Sitz von 27 gelehrten Gesellschaften und zahlreichen Vereinen; es erscheinen daselbst 80 periodische Druckschriften, darunter 9 politische Zeitungen. Dem Reichtum der Stadt entspricht die große Zahl wohltätiger Anstalten, die z. T. kantonal (wie das große Kantonspital), meist aber Privatanstalten (wie die beiden Spitäler Butini, die vom Baron A. v. Rothschild gegründete Augenheilanstalt, ein Kinderspital u. a.) sind. Die städtischen Einnahmen betrugen 1901: 7,712,296 Fr., die Ausgaben 8,270,415 Fr.

Geschichte der Stadt und des Kantons Genf.

G. (Genava) erscheint zuerst als befestigte Grenzstadt der Allobroger gegen Helvetien und fiel mit jenen um 120 v. Chr. unter die Herrschaft der Römer. Von G. aus hinderte Cäsar 58 v. Chr. den Übergang der Helvetier über die Rhone. Früh drang das Christentum von Lyon her in die Stadt, die schon 450 Sitz eines Bischofs war. 443 fiel G. an die Burgunder und wurde eine ihrer Hauptstädte; 534 kam es mit Burgund an die Franken, 888 an das neuburgundische Reich und 1033 mit diesem unter den Kaiser. Frühzeitig erlangten die Bischöfe die weltliche Herrschaft über die Stadt; doch hatten sie stets gegen die Übergriffe der Grafen des Genfer Gaues zu kämpfen, bis diese durch die mächtigern Grafen von Savoyen beiseite geschoben wurden, die 1290 das Recht erlangten, den »Vidomne« (vicedominus) einzusetzen, der im Namen des Bischofs einen Teil der Gerichtsbarkeit in der Stadt ausübte. Um dieselbe Zeit legte aber die Genfer Bürgerschaft den Grund zu ihrer Freiheit, indem sie das Recht erlangte, jährlich vier Syndiks (Bürgermeister) zu wählen; 1387 erhielt sie vom Bischof Adhémar ein Stadtrecht, das die kommunale Selbstverwaltung sicherte. Nachdem das Haus Savoyen durch das Erlöschen der Grafen von G. (1394) in den Besitz der Landschaft Genevois gekommen war und 1416 den Herzogstitel erlangt hatte, trachtete es danach, die Stadt, die gleichsam den Schlußstein seines den Genfer See umgebenden Gebietes bildete und Sitz einer berühmten Messe war, ganz in seine Gewalt zu bringen; aber an dem Freiheitssinn der Genfer scheiterten alle seine Anschläge. Der patriotische Verein der »Kinder Genfs« (enfants de Genève) suchte, geleitet von Philipp Berthelier, Besançon Hugues und Bonivard, gegen die Gewalttaten Herzog Karls III. (1504–53) Rettung durch Anschluß an die Eidgenossenschaft. Als sich Freiburg 1519 zu einem Bündnis bewegen ließ, gelang es dem Herzog, die Schweizer Tagsatzung zu dessen Aufhebung zu bestimmen, worauf er G. mit Truppen besetzte. Zwar mußte er es vor den Drohungen Freiburgs bald wieder räumen, allein der Bischof gab sich zum Werkzeug des Herzogs her, Berthelier wurde enthauptet, und mehrere Jahre lastete die Tyrannei Savoyens auf der Stadt, bis es dem entflohenen Besançon Hugues gelang, außer Freiburg auch Bern 8. Febr. 1526 zu einem Bund mit G. und die Zustimmung des Bischofs dazu zu gewinnen. Als nunmehr die Bürgerschaft die Gewalt des Vidomne nicht mehr anerkannte und sich nach dem Vorbilde der Schweizerstädte eine neue Verfassung gab, wurde sie von dem »Löffelbund«, einer Verbindung des savoyischen Adels, schwer bedrängt, bis ein Auszug Berns und Freiburgs den Herzog zwang, im Frieden von St.-Julien 19. Okt. 1530 Genfs Unabhängigkeit bei Strafe des Verlustes der Waat anzuerkennen. Die Reformation stürzte G. in neue Wirren. Während Bern für Farel freie Predigt verlangte, forderte Freiburg, daß man sie ihm verbiete und erklärte, als der Rat von G. schwankte und der Bischof deshalb die Stadt verließ, sein Bündnis für erloschen (März 1534). Dies ermutigte den Herzog, G., das sich jetzt ganz der Reformation zuwendete, aufs neue zu bedrängen. Als Frankreich Miene machte, die Stadt zu besetzen, kam ihm Bern zuvor, nahm dem Herzog die Waat weg und befreite G. (Februar 1536). Im Juli d. J. kam Calvin nach G. und begann, von Farel festgehalten, seine welthistorische Wirksamkeit. 1538 mit Farel wegen seiner Herrschsucht vertrieben, wurde er 1541 zurückberufen und setzte nun eine völlige Umgestaltung des politischen und sozialen Lebens in theokratischem Sinn ins Werk. Der von dem Konsistorium, das aus den Geistlichen und zwölf »Ältesten« bestand, gehandhabte Sitten- und Glaubenszwang, die Verpönung von Volksfesten, Theater, Tanz etc., erregten den Widerstand einer Freiheitspartei, der »Libertins«, unter denen sich die angesehensten Genfer Bürger befanden, so daß Calvin sein System nur durch eine Schreckensherrschaft halten konnte, die er mit Hilfe der auf seine Fürsprache hin zahlreich eingebürgerten fremden Religionsflüchtlinge gegen die alten Genfer Familien ins Werk setzte. Ein Sohn des Freiheitsmärtyrers Berthelier u. a., die nicht rechtzeitig flohen, mußten das Schafott besteigen. So gelang es Calvin, sich seit 1555 zum allmächtigen Beherrscher Genfs aufzuschwingen, das er dafür zum »protestantischen Rom« erhob. 1559 gründete er die berühmte Akademie, die Pflanzschule für reformierte Geistliche Frankreichs, der Niederlande, Englands und Schottlands. Nach seinem Tod 1564 folgte ihm als Vorsteher der Genfer Kirche und Akademie Theodor Beza (gest. 1605). Genfs Anschluß an die Schweiz wurde durch ein »ewiges Burgrecht« mit Bern und Zürich vom 30. Aug. 1584 noch enger; um so hartnäckiger aber wiesen die fünf katholischen Orte alle Anträge zur Aufnahme der Stadt als eines Gliedes der gesamten Eidgenossenschaft zurück, ja die mit ihnen seit 1560 im Bunde stehenden Herzoge von Savoyen bedrohten Genfs Freiheit immer wieder. In der Nacht vom 11. zum 12. Dez. (alten Kalenders) 1602 suchte Karl Emanuel-die Stadt zu überrumpeln; schon hatten 300 Savoyarden mittels geschwärzter Leitern die Mauern erstiegen, als sie entdeckt und aufgerieben wurden. Noch immer feiert G. den Jahrestag dieser glücklich abgeschlagenen »Eskalade«.

Auch in G. gestaltete sich nach der Reformation das Staatswesen immer aristokratischer. Die Staatshoheit ging völlig auf den Kleinen Rat und den Rat der Zweihundert über, die sich an den jährlichen Wahltagen gegenseitig bestätigten und die leeren Plätze mit Verwandten füllten. Die Erwerbung des Bürgerrechts wurde fast unmöglich gemacht. Die Bürger schieden sich in die regimentsfähigen »Citoyens« und die nicht regimentsfähigen »Bourgeois«. Ganz außerhalb der Bürgerschaft standen die zahlreichen »Natifs«, d. h. die in G. gebornen Nachkommen von nicht eingebürgerten Einwohnern, die wieder einige Vorrechte vor den frisch zugewanderten Ansäßen, den »Habitants«, besaßen; beide Klassen waren nicht nur von allen Staatsstellen, sondern auch von den höhern Berufsarten ausgeschlvffen. Dazu kamen noch die »Sujets«, die Bewohner der wenigen der Stadt untertänigen Ortschaften. Aber mit dem 18. Jahrh. begann G. durch eine Reihe von demokratischen Bewegungen die Aufmerksamkeit Europas auf sich zu ziehen. 1707 verlangte die Bürgerschaft unter der Führung des Rechtsgelehrten Fatio eine auf dem Prinzip der unzerstörbaren Volkssouveränität aufgebaute Verfassung; die Räte wußten jedoch die Bürger durch Konzessionen zu teilen, worauf Fatio u. a. als Verschwörer hingerichtet wurden. 1734 erhoben sich neue Unruhen zwischen den sogen. Représentants, d. h. den Bürgern, die Beschwerden gegen die Regierung erhoben, und den Aristokraten, bis durch die Vermittelung Frankreichs, Berns und Zürichs 1738 ein Vergleich zustande kam, welcher der Bürgergemeinde (Conseil général) die letzte Entscheidung über Krieg und Frieden, Gesetze und Steuererhöhungen zuerkannte. 1763 brach infolge der Verurteilung von Rousseaus »Émile« und »Contrat social« durch den Rat der Parteikampf wieder aus, und die Bürgerschaft erlangte 1768 das Recht, die Hälfte der Mitglieder der Zweihundert zu wählen. Jetzt regten sich aber auch die Natifs mit dem Verlangen nach Besserstellung; als der Rat sich weigerte, Zugeständnisse, die sie mit Hilfe der Représentants von der Bürgergemeinde erlangt hatten, zu bestätigen, vereinten sich die beiden Parteien zum Sturz der Regierung (9. April 1782) und übergaben die Staatsleitung einem »Sicherheitsausschuß«. Aber auf Einladung der gestürzten Machthaber rückten 6000 Franzosen, 3000 Piemontesen und 2000 Berner in die Stadt ein, die Führer der Volkspartei, Clavière, Duroveray, Dumont, Reybaz u. a., flohen, um später als Mitarbeiter Mirabeaus und der Girondisten eine Rolle in der französischen Revolution zu spielen, und der alte Zustand wurde wiederhergestellt (Juli 1782). Erst die französische Revolution brachte die herrschende Aristokratie zum Nachgeben; 22. März 1791 gewährte die Regierung eine freiheitliche Verfassung. Aber das Revolutionsfieber war damit nicht gestillt; schon 28. Dez. 1792 traten revolutionäre »Ausschüsse« an Stelle der gesetzlichen Regierung. G. hatte seine Nationalversammlung, seine Klubs, seine Montagnards, seine Sansculotten und nach einem Pöbelaufstand 19. Juli 1794 auch sein Revolutionstribunal, das binnen 18 Tagen 37 Personen zum Tode verurteilte, wovon 11 hingerichtet wurden, dann nach Robespierres Sturz seine ebenfalls nicht unblutige Gegenrevolution. Erst 1796 herrschten wieder geordnete Zustände. Nachdem ein erster Versuch der französischen Republik, sich Genfs zu bemächtigen, an der Wachsamkeit Berns und Zürichs gescheitert war (Oktober 1792), wurde nach dem Einrücken der französischen Heere in die Schweiz die Annexion gewaltsam vollzogen (15. April 1798).

Noch vor dem Sturze Napoleons erklärte sich G. wieder für unabhängig (1. Jan. 1814). Danach wurde es als 22. Kanton wieder mit der Schweiz vereinigt (12. Sept. 1814) und von den Mächten am Wiener Kongreß und im zweiten Pariser Frieden mit einer kleinen Gebietsvergrößerung auf Kosten Savoyens und Frankreichs bedacht, die es in direkte Verbindung mit der Schweiz setzte und zugleich der calvinischen Bevölkerung ein starkes katholisches Element beimischte. Die am 24. Aug. 1814 von der Bürgerschaft angenommene Verfassung trug aristokratischen Charakter; aber die leitenden Staatsmänner handhabten die Regierung in freisinnigem Geiste, weshalb 1830 die Bevölkerung sich durch einige leichte Modifikationen der Verfassung befriedigen ließ. Erst 1841 bildete sich ein politischer Reformverein (Association du 3 mars), der das Verlangen nach Einberufung eines vom Volke gewählten Verfassungsrats stellte, und ein drohender Volksauflauf zwang die Regierung nachzugeben (21.- 22. Nov.). Die neue 7. Juni 1842 angenommene Verfassung führte allgemeines Stimmrecht und Repräsentation im Großen Rat nach der Kopfzahl ein. Da jedoch die Neuwahlen in die Behörden vorwiegend konservativ ausfielen, erhob das Arbeiterviertel St.-Gervais 13. Febr. 1843 einen Aufstand, der erst mit der Zusicherung voller Amnestie an die Insurgenten ein Ende nahm. Die Weigerung des Großen Rates, die Tagsatzungsgesandten des Kantons für Auflösung des Sonderbundes zu instruieren, erweckte neue Erbitterung, die sich in stürmischen Volksversammlungen äußerte, und als der Journalist James Fazy, der Führer der Radikalen, verhaftet werden sollte, errichtete das Quartier St.-Gervais wieder Barrikaden, die es gegen die Regierungstruppen mit Glück verteidigte (6.- 7. Okt. 1846). Da die übrige Bürgerschaft gegen die Fortsetzung des Kampfes protestierte, legte die Regierung 8. Okt. ihre Gewalt nieder, und eine große Volksversammlung wählte als Conseil général eine provisorische Regierung mit Fazy an der Spitze. Die von dem neuen radikalen Großen Rat revidierte, am 24. Mai 1847 von 5541 gegen 3186 Stimmen angenommene Verfassung übergab dem Volk auch die Wahl des auf sieben Mitglieder reduzierten Staatsrats, die jährlich mit der des Großen Rates wechseln sollte, und führte Unentgeltlichkeit des Primärschulunterrichts, Geschwornengerichte und völlige Freiheit auch für den katholischen Kultus ein. Diese Umwälzung war von höchster Wichtigkeit für die Schweiz, indem mit G. die nötige Stimmenzahl für Auflösung des Sonderbundes gewonnen wurde. Das neue von Fazy geleitete, von den Radikalen und Ultramontanen gestützte Regierungssystem tat sein möglichstes, um das altcalvinische G. in eine glänzende moderne Stadt umzuwandeln. Allein Fazys diktatorische Haltung und verschwenderische Finanzwirtschaft entfremdeten ihm einen Teil der Radikalen, der sich mit den Konservativen zu der Partei der »Unabhängigen« vereinte. 1861 und 1863 wurde er bei den Neuwahlen in den Staatsrat übergangen, ebenso 1864 bei Besetzung einer Vakanz in demselben. Als sich hierauf das sazyanisch gesinnte Wahlbureau erlaubte, die Wahl seines Gegners zu kassieren, kam es 22. Aug. zu einem blutigen Konflikt zwischen den Parteien. Jetzt wurde G. mit eidgenössischen Truppen besetzt und eine gerichtliche Untersuchung angeordnet, die indes mit Freisprechung sämtlicher Angeklagten endete. Fazys Einfluß aber blieb gebrochen. Der kosmopolitische Charakter des neuen G. erhielt gleichsam seine Sanktion, indem 1864 (8.- 21. Aug.) der internationale Kongreß zur Verbesserung des Loses der im Kriege verwundeten Militärs, 1867 der erste Kongreß der internationalen Friedens- und Freiheitsliga, an dem Garibaldi teilnahm, und 1872 das Alabama-Schiedsgericht dort tagten. Am 19. Aug. 1873 starb der Exherzog Karl von Braunschweig in G., indem er die Stadt zur Erbin seines Vermögens einsetzte, das nach Abzug aller Kosten 16,5 Mill. Fr. betrug und für Errichtung eines prachtvollen Denkmals für den Erblasser, für Tilgung von 7 Mill. Fr. Schulden, Erbauung eines neuen Theaters etc. verausgabt wurde.

Nach dem Sturz Fazys hatte sich dessen Partei in ihre Bestandteile aufgelöst, die Radikalen und die Ultramontanen. Erstere erlangten unter der Leitung Carterets 1870 bei den Wahlen die Oberhand. Die Carteretsche Regierung erwarb sich Verdienste durch Erweiterung der alten Genfer Akademie zu einer vollständigen Universität (Oktober 1873), hat aber namentlich Aufsehen erregt durch den Kampf, den sie gegen die frühern Bundesgenossen der Radikalen, die Ultramontanen, zu führen hatte, die unter der Leitung des ehrgeizigen katholischen Stadtpfarrers Kaspar Mermillod das altberühmte Bollwerk des Protestantismus wieder in einen katholischen Bischofssitz umzuwandeln bestrebt waren. Schon 1864 hatte Bischof Marilley von Freiburg, zu dessen Diözese seit 1819 das katholische G. gehörte, auf höhere Weisung hin Mermillod als seinem »Hilfsbischof« die bischöflichen Gewalten über G. delegieren müssen. Als 1871 Marilley auf die direkte Aufforderung des Staatsrats sich weigerte, irgend welche Verantwortlichkeit für den genferischen Teil seiner Diözese zu übernehmen, untersagte jener Mermillod alle bischöflichen Funktionen und entsetzte ihn, da er sich weigerte, zu gehorchen, seiner Stelle als Pfarrer (20. Sept. 1872). Am 16. Jan. 1873 erfolgte die förmliche Ernennung Mermillods zum apostolischen Vikar von G. durch den Papst, worauf der Schweizer Bundesrat 11. Febr. diese Ernennung für nichtig erklärte und am 17. wegen der Widersetzlichkeit Mermillods dessen Ausweisung verfügte. In G. wurden, nachdem die nationalen Parteien bei den Großratswahlen 10. Nov. 1872 einen glänzenden Sieg über die Ultramontanen davongetragen, 1873 zwei Gesetze über den katholischen Kultus erlassen (19. Febr. und 27. Aug.), welche die Verfassung der katholischen Kirche auf die Gemeinde basierten und von den Geistlichen einen Eid auf die Staatsgesetze verlangten. Alle Pfarrer, die denselben verweigerten, wurden abgesetzt und, da nur die christ- (alt-) katholische Richtung sich den Gesetzen fügte, diese als Landeskirche anerkannt, während sich die römisch-katholischen Genossenschaften in die Stellung von Privatvereinen gedrängt sahen. Seit 1878 machten die Konservativen als »demokratische« Partei den Radikalen die Herrschaft öfters mit Erfolg streitig. Im übrigen folgte G. der demokratischen Strömung in der Schweiz, indem es durch ein Verfassungsgesetz vom 25. Mai 1879 das fakultative Referendum für Gesetze und Beschlüsse, 29. Okt. 1882 das Institut der gewerblichen Schiedsgerichte, 5. Juli 1891 die Volksinitiative für Gesetze nebst dreijähriger Amtsdauer für Großen Rat und Staatsrat, 6. Juli 1892 die Proportionalwahl für den Großen Rat, 17. Juni 1893 die Volkswahl für die Vertreter im Ständerat, 12. Jan. 1895 das fakultative Referendum in Gemeindesachen einführte und 21. Sept. 1901 die Einbürgerung für Schweizer aus andern Kantonen sowie für Ausländer erleichterte.

Vgl. »Mémoires et documents publiés par la Société d'histoire et d'archéologie de Geneve« (Genf 1842ff.); »Régeste genevois« (1866); Spon, Histoire de Genève (1730, 2 Bde.); Thourel, Histoire de Genève (1833, 3 Bde.); Pictet de Sergy und Gaullieur, Genève, origine et développement de cette république (1845–56, 3 Bde.); Jullien, Histoire de Genève (1843–63, 3 Bde.); Gautier, Histoire de Genève des origines à l'année 1691 (1896–98, Bd. 1–3); Roget, Les Suisses et Genève (1864, 2 Bde.) und Histoire du peuple de Genève depuis la Réforme jusqu'à l'Escalade (1870–84, 7 Bde.); Fazy, Histoire de Genève á l'époque de l'Escalade (1902); I. A. Galiffe, Matériaux pour l'histoire de Genève (1829–30, 2 Bde.); I. B. Galiffe, Genève historique et archéologique (1872); Rilliet, Histoire de la restauration de Genève (1849); Blavignac, Études sur Genève depuis l'antiquité jusqu'à nos jours (1872, 2 Bde.); Senebier, Histoire littéraire de Genève (1786, 3 Bde.); Cherbuliez, Genève, ses institutions, ses mœurs, etc. (1868); Marc Monnier, Genève et ses poètes (1875); Borel, Les foires de Genève an XV. siecle (1891); Mayor, L'ancienne Genève; l'art et les monuments (1896–98); Borgeaud, Histoire de l'Universite de Genève (1900, Bd. 1); Montet, Dictionnaire des Genevois et des Vaudois, etc. (Lausanne 1878, 2 Bde.); »Mémoires de l'Institut national genevois« (1854ff.); »Bulletin de l'Institut national genevois« (1853ff.); »Bulletin de la Société d'histoire et d'archéologie de Genève« (1897ff.). Über das geistige Leben in Genf vgl. auch Art. »Französische Literatur in der Schweiz« (S. 24 dieses Bandes).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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