- Madras [2]
Madras (offiziell: Presidency of Fort Saint George), Präsidentschaft des britisch-ind. Kaiserreichs (s. Karte »Ostindien«), der südlichste Teil der vorderindischen Halbinsel, erstreckt sich vom Kap Komorin unter 8°4' nördl. Br. am Golf von Bengalen (Koromandelküste) 1930 km bis zum 20.°, am Indischen Ozean (Malabarküste) 870 km bis zum 14.° nördl. Br., wird ganz vom Meer umgeben außer im N., wo das nahezu von ihm umschlossene Maisur, Bombay, Haidarabad, die Zentralprovinzen und Bengalen die Grenze bilden, und besteht aus drei verschiedenen Teilen: den 22 britischen Distrikten mit den Lakkadiven, 278,984 qkm mit (1901) 30,960,089 Einw., den drei Agentschaften Gandscham, Wisagapatam und Godaweri, 86,681 qkm mit 7,248,520 Einw., und den fünf Tributärstaaten Vanganapalla, Sundur, Pudukota, Travankor und Kotschin, 24,886 qkm mit 4,190,322 Einw., so daß das ganze, dem Gouverneur von Madras unterstellte Gebiet ein Areal von 390,551 qkm mit (1901) 42,398,931 Einw. hat.
Physische Geographie. Das Land wird durchzogen von den Ost- und Westghats. Die Ostghats mit 500 m mittlerer Erhebung und bis 1500 m hohen Gipfeln gehören ganz zu M., sie lassen überall einen breiten, ebenen Streifen zwischen sich und dem Meer, werden von drei großen Flüssen: Godaweri, Kistna und Kaweri, durchbrochen und schließen sich im S., wo die Palni Hills 2233, die Anaimudi-Berge 2694 m und nördlich von letztern die Nilgiri 2630 m erreichen, an die Westghats, die, mit einer mittlern Höhe von 1000 m und in einer Entfernung von nur 20 bis 60 km der Küste parallel laufend, eine wirkliche Wasserscheide bilden. Das zwischen beiden Ketten eingeschlossene, 300–900 m hohe Plateau neigt sich nach O. Das Klima ist nur auf den Hochebenen gesund. Dürren und Hungersnot sind häufig, dazu kommen Sumpffieber, Cholera, Pocken. Im Winter wird das Gebiet vom Nordostpassat beherrscht, im Sommer vom Südostmonsun (Übergangszeit April und Oktober mit veränderlichen Winden, böigem Wetter und verheerenden Wirbelstürmen). Man unterscheidet die kühle Jahreszeit von Oktober bis März, die heiße von April bis zur allgemeinen Regenzeit und die Regenzeit. Temperatur Madras: Jahr 27,9°, kältester Monat Januar 24,7°, wärmster Mai 30,8°; mittlere Jahresextreme 42,7 und 16,1°; Regenmenge Madras 1230 mm. Die Koromandelküste hat vorwiegend Herbstregen beim Eintritt des Nordostpassats, mit dem sie südwärts fortschreiten. Die Mineralschätze werden noch wenig ausgebeutet, nur Eisen wird seit alters von den Eingebornen in primitiver Weise aus trefflichem Magneteisenstein dargestellt. Die Kohle der ziemlich mächtigen Lager des Godaweridistrikts ist sehr aschenreich und deshalb geringwertig, dagegen werden die Goldquarzgänge und Goldseifen des Wainad neuerdings stärker bearbeitet, hauptsächlich bei Devala, 44 km südöstlich von Manentavadi. Mangan findet sich in den Nilgiri und bei Bellari, Kupfer an mehreren Stellen der Ostghats, Antimon und Silber in Madura. Im N. und an der Koromandelküste führen die Sande der Flüsse und manche Alluvionen (Edelsande) neben andern Edelsteinen besonders Granaten und Zirkone; auch Diamanten kommen vor. Bedeutende Mengen von Salz gewinnt man aus den Strandlagunen, wofür eine Abgabe an die Regierung gezahlt wird. Die tropischen regengrünen Waldungen des Hochlandes von Dekkan, zum Teil freilich verwüstet, reichen bis M. Hier sind Charakterbäume: der wertvolle Tiekbaum (Tectona grandis), der Ebenholzbaum, der Sandelholzbaum (Pterocarpus santalinus), die Leguminose Butea frondosa, mehrere Palmen, darunter Borassus flabelliformis und Phoenix silvestris. Eingeführt sind zur Aufforstung australische Eukalyptusbäume, die jetzt in den Nilgiri ganze Wälder bilden. Die Waldungen nahmen (1901) rund 5,450,000 Hektar ein, wovon über die Hälfte unter Kontrolle der Regierung; die Holzausfuhr ergab 1903: 1,029,725 Rupien. Hinsichtlich der Tierwelt gehört M. zur indischen Subregion der orientalischen Region. Unter den Raubtieren stehen Tiger und Panther an der Spitze, zahlreich sind giftige Schlangen. Die als Haustiere gehaltenen Rinder und Schafe sind minderwertig.
Die Bevölkerung (18,841,284 männlich, 19,368,152 weiblich) gehört zu neun Zehntel zum drawidischen Volksstamm, von dem das Tamil 15,224,447, Telugu 14,276,509, Kanaresisch 1,557,644, Malayalam 2,861,297, Tulu 499,056 sprechen, während die Bewohner der Ostghats (Toda, Kota, Kodagu) verwandte Dialekte sprechen. Englisch sprechen 37,675, Portugiesisch 2011, Deutsch 314 Personen. Die Auswanderung betrug 1891–1901: 2,547,124, davon 491,583 nach andern Teilen von Britisch-Indien; jährlich ziehen 120,000 Tamulen in die Teepflanzungen von Ceylon, von denen viele mit ihren Ersparnissen zurückkehren; ferner viele nach Birma. Nach Malakka sind 1892–1901: 219,170 Personen gegangen, nach Natal 21,405, nach Mauritius 3542. Die Volksbildung steht auf sehr niedriger Stufe, nicht weniger als 937 vom Tausend waren 1901 Analphabeten. Unterricht empfingen 1901 über 700,000 Personen, darunter nur 60,000 weiblichen Geschlechts. Indes ist die Teilnahme der Bevölkerung und die Zahl der höhern Schulen, Gewerbeschulen, Seminare, Lehranstalten für Ärzte, Apotheker und Hebammen im Steigen. Die Universität in der Hauptstadt ist eine Prüfungsbehörde, die fast ausschließlich von Hindu besucht wird (1901: 1423 Studenten). Der Religion nach zählte man 1901: 34,048,097 Hindu, 2,467,351 Mohammedaner und 1,024,071 Christen, darunter 628,755 Katholiken, 2798 syrische Christen, 139,877 Anglikaner und 77,776 Lutheraner. Unter sämtlichen Christen befanden sich 13,998 Ausländer, vornehmlich Briten. Das Christentum wurde hier vielleicht schon seit dem ersten christlichen Jahrhundert verbreitet; neben englischen und amerikanischen Missionsgesellschaften arbeiten seit vielen Jahren auch deutsche (Baseler, Leipziger, Hermannsburger, Brecklumer Mission). Vgl. Penny, The Church in M., being the history of the ecclesiastical and missionary action of the East India Company, etc., in the 17. and 18. centuries (Lond. 1904). Jedenfalls gab es Manichäer oder Nestorianer, d. h. persische Christen, bereits im 7.–8. Jahrh. auf der Westküste, wie eine Inschrift in Pehlewi (Altpersisch) und ein in Kotschin aufgefundenes, jetzt in Cambridge aufbewahrtes Manuskript beweisen. Eigentümlich ist die Einteilung der Kasten der Hindu in rechtshändige (Valankai), zu denen sich die Paria (s. d.) und mehrere Händlerkasten rechnen, und in linkshändige (Idankai), denen die übrigen angehören. Als Reste des Urvolkes der Halbinsel sind die zwerghaften Naturanbeter der Waldgebirge anzusehen.
Von den Erwerbszweigen steht der Ackerbau voran, obschon das Land keineswegs als besonders fruchtbar gelten kann. Von dem Gesamtareal (ohne die Tributärstaaten) waren 1901 unter Kultur 24,509,613 Acres, davon ein Fünftel künstlich bewässert. Hauptkulturen sind Reis (in den Uferlandschaften), Hirse, viel Baumwolle, Ölsaaten, Indigo, Tabak, Zuckerrohr, Kaffee und Tee an den Abhängen der Berge, Cinchona namentlich auf den Nilgiri. Von Früchten werden Tamarinden, Mango, Arekanüsse in den Westghats, Kokosnüsse an den Lagunen der Malabarküste gewonnen. Der Viehstand bezifferte sich 1894 auf 42,838 Pferde, 124,695 Maulesel und Esel, 12,587,844 Rinder, 2,377,401 Büffel, 13,727,372 Schafe und Ziegen und nur 9 Kamele. Die Pferdezucht ist zurückgegangen, die Rinder sind klein und mager, die Schafe hochbeinig und grobwollig. Ernten und Viehstand haben wiederholt durch Dürren gelitten, und Hungersnot hat, zuletzt 1900–01, Hunderttausende hinweggerafft. Die Industrie zeichnete sich früher durch seine und schöne Baumwollgewebe aus; heute haben europäische Fabrikate ihre Stelle eingenommen. Von einheimischen Produkten stehen die Juwelierarbeiten von Tritschinapalli, die Horn- und Elfenbeinarbeiten von Wisagapatam und die Sandelholzarbeiten von Kanara noch in gutem Ruf (s. Tafel »Ostindische Kultur II«). In Gandscham werden durch Europäer Zucker, Rum und Arrak hergestellt. Größere Industriezweige sind nur Spinnerei, Weberei, Zucker-, Zigarrenfabrikation und Ölpresserei. Für den Handel ist die Stadt M. der wichtigste Zentralpunkt; nennenswert sind noch die Häfen Negapatam, Tutikorin, Kalikut, alle mit dem Innern durch Eisenbahnen verbunden. Die Ausfuhr im Fremdhandel betrug 1902: 120,006,021, die Einfuhr 86,998,668 Rupien, wovon auf Deutschland 3,831,011, bez. 1,371,760 entfallen; der Küsten- und Zwischenhandel betrug 101,354,912 Rupien. An Schiffen gingen 1902 ein 1974 von 1,117,006 Ton., davon 49 deutsche von 147,240 T. Drei große Schienenwege durchziehen die Präsidentschaft und verbinden die Stadt M. mit Bombay, Goa und Beypur im W. und mit Ponditscherri, Negapatam, Tutikorin im O. sowie mit Bangalor und Maisur. Auch die Kanäle, insbes. der zwischen Kistna und Kaweri, dienen dem Verkehr. Die Hauptausfuhrartikel bilden Kaffee, Baumwolle, Häute und Leder, Reis, Öle, Zucker, wogegen namentlich Baumwoll- und Metallwaren eingeführt werden.
Die Präsidentschaft steht unter einem Gouverneur, der zwar dem in Kalkutta residierenden Vizekönig von Indien unterstellt ist, aber auch direkt mit dem Minister für Indien in London korrespondiert; er residiert in der Stadt M., während der heißen Zeit in den Nilgiri. Ihm steht ein Rat aus den höchsten Beamten und acht vom Gouverneur ernannten Mitgliedern zur Seite. Eingeteilt wird die Präsidentschaft in 22 Distrikte, die wieder in Bezirke (Taluk) zerfallen. Für öffentliche Sicherheit sorgt ein Polizeikorps von 23,419 Mann. Das Militär der Präsidentschaft bildet ein besonderes, in sich abgeschlossenes Korps, die (1903) 43,787 Mann starke Madrasarmee, zu zwei Dritteln aus Eingebornen bestehend, wozu noch die Nairbrigade und die Maisurtruppen kommen. Sie sind in 21 Garnisonen untergebracht; einzelne Abteilungen stehen in Birma, den Straits Settlements und Aden. Die Madrasarmee hat von den indischen Truppen den auswärtigen Dienst bisher immer allein versehen.
Madras (patam) bestand schon im vorchristlichen Zeitalter der mächtigen Drawidareiche. Seit 1370 gehörte es dem Reiche der Jadawa an. Anfang des 17. Jahrh. machten die Engländer den ersten Versuch, in Palikat (nördlich von M.) eine Handelsniederlassung zu erwirken; 1639 wurden mit Bewilligung der regierenden Hindufürsten die Festungen St. George bei Madras, 1691 St. David bei Kudalur erbaut. Seit 1654 war der Bezirk von M. eine besondere Präsidentschaft der Ostindischen Kompanie. In den Kriegen des 18. Jahrh. traten die Engländer, die 1746–48 M. an die Franzosen verloren, wiederholt als Vermittler auf zwischen dem Nawab des Karnatik, dessen Gebiet um M. herumlag, und seinem südlichen Nachbar, dem Radscha von Tandschur; letzterer trat 1776 schimpflicherweise die Stadt Nagur mit 277 Dörfern an Warren Hastings ab, und 1799 ging sein ganzer Besitz an England über.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.