Kaschmir [2]

Kaschmir [2]

Kaschmir (amtlich K. und Dschamu, engl. Cashmere [Kashmir] and Jammu oder Jummoo), Vasallenstaat an der Nordwestgrenze des britisch-ind. Reiches (s. die Karten »Ostindien« und »Zentralasien«), dem Vizekönig direkt unterstellt, zwischen 32°17'–36°58' nördl. Br. und 73°26'–80°30' östl. L., grenzt im N. und O. an das Chinesische Reich (Ostturkistan und Tibet), im S. und W. an Pandschab und Kasiristan und ist 209,500 qkm groß mit (1901) 2,905,578 Einw. Nach dem Zensus von 1891 verteilte sich die Bevölkerung folgendermaßen:

Tabelle

Physische Verhältnisse. In landschaftlicher Schönheit wird das eigentliche K. von wenigen Gegenden der Erde übertroffen. Es ist ein von Schneegipfeln umragtes Hochland von ovalem Umriß, 190km lang, bis 140 km breit, dessen mittlern ebenen Teil der im NO. entspringende Dschelam in nordwestlicher Richtung durchfließt. Die Pir Pandschal-Kette (bis 4730 m) bildet die südliche Umwallung; am Nordrand erreicht der Haramuk 5150 m. Tief eingeschnitten sind die Paßübergänge, der Pir Pandschal-Paß liegt in 3470 m, die Talebene bei der Hauptstadt in 1603 m Höhe. Unter den zahlreichen Seen ist der bedeutendste der 275 qkm große Wularsee (1580 m) am Westfuß des Haramuk, vom Dschelam durchströmt und seit 1876 mit einem kleinen Dampfer befahren. Der Dschelam, der zahlreiche Bergflüsse aufnimmt, in Bewässerungskanälen abgeleitet wird und durch die Baramulasschlucht (s. Baramula) aus dem Tal heraustritt, wird von 13 Brücken überspannt und ist von der Hauptstadt bis zum Wularsee für größere, aufwärts bis Islamabad für kleinere Boote schiffbar. Die mittlere Jahrestemperatur von Srinagar ist 13,8°. Die Winter sind verhältnismäßig kalt, doch ist der Dschelam nur selten ganz mit Eis bedeckt. Der kälteste Monat hat eine mittlere Temperatur von 4,5°, der wärmste von 24°; die Regenmenge beträgt 1160 mm. Erdbeben sind häufig; 1828 wurden in Srinagar 1200 Häuser zerstört, und 1000 Personen kamen um; 1885 war die Verheerung noch ausgedehnter. Von Metallen kommen vor: Eisen (sehr häufig, aber nicht gut), Kupfer, Blei, Graphit, Waschgold; auch Kohle ist vorhanden; Schwefelquellen sind zahlreich. Die Flora ist mit der europäischen eng verwandt; Deodar (Cedrus Deodara), Yar (Pinus excelsa), Tschil (Pinus longifolia) u. a. bilden bis 3350 m Höhe große Wälder. Haine von Pappeln, Kirsch-, Walnuß-, Pfirsich-, Aprikosen-, Apfel- und Maulbeerbäumen säumen die Flußläufe ein, dazu Rosen, Jasmin und Hunderte wilder Blumen. Die wichtigste Frucht ist Reis, dessen Felder mit denen von Weizen, Gerste, Mais, Flachs, Erbsen und allerlei Gemüse sowie mit grünen Wiesen abwechseln; Reben bedecken die Abhänge bis zu 2700 m, für Orangen und Zitronen ist das Klima zu kalt. Die Tierwelt ist außerordentlich reich. In größern Höhen finden sich Gazelle, Moschustier, Steinbock, Wolf, schwarzer und brauner Bär, Schakal, Fuchs, Affen, Fischottern; giftige Schlangen sind selten, Raubvögel zahlreich, ebenso Fasanen, Wasservögel aller Art, der Kuckuck und der Bulbul, die kaschmirische Nachtigall, die der unsern weit nachsteht; die Seen sind fischreich. Zucht von Schafen, Ziegen und Rindern, vornehmlich Yaks, wird erfolgreich auf den fetten Alpenweiden betrieben, Butter in großen Mengen ausgeführt. Dennoch hatte K. wiederholt von Hungersnot zu leiden, zuletzt 1878–80 (zugleich Cholera).

Die Bevölkerung bestand 1901 aus 2,154,695 Mohammedanern, 689,073 Hindu, 442 Dschaina, 25,828 Sikh und 422 Christen. Die Bewohner von K. sind meist groß und stark, mit regelmäßigen, bei den Mohammedanern jüdischen Gesichtszügen und olivenfarbiger Haut; heiter und witzig, aber auch falsch und ausschweifend. Die Mehrzahl stammt von arischen Einwanderern, die das Tal von K. von Westen über Baramula schon im 2. Jahrtausend v. Chr. besiedelten; im äußern Himalaja sitzen noch Reste der vorarischen wie der später in das indische Pandschab eingedrungenen türkischen Völker (vgl. A. Cunningham, Archaeological Survey of India, Bd. 2, Kalk. 1871). Die Sprache ist im Tal von K. Kaschmiri, im äußern Himalaja Dogra, Tochtersprachen des Sanskrits, letzteres dem modernen Hindi verwandter (vgl. Grierson, Essays on Kaçmiri grammar, Lond. 1899; weitere Literatur s. unten). Die Kleidung besteht in Beinkleidern und einem wollenen Umhang. Die Auswanderung nach Indien ist stets beträchtlich gewesen, auch in den letzten Jahren. Volksschulen gibt es längst überall, auch für höhere Schulen wird jetzt gesorgt; eine Summe von 3000 Pfd. Sterl. jährlich ist ausgesetzt worden zur Veröffentlichung von Übersetzungen wissenschaftlicher europäischer Werke und von klassischen Schriften in Sanskrit und Arabisch. Die Haupt industrie im Kaschmirtal ist die weltberühmte Weberei von Schals, zu denen teils die Unterhaare der zahmen Kaschmirziege, teils die der wilden Ziegen Tibets den Stoff liefern (s. Schal). Die Arbeit ist fabrikmäßig verteilt; an einem gewöhnlichen Schal arbeiten drei Weber drei Monate, an einem kostbarern 11/2 Jahr. Doch leidet dieser Erwerbszweig schwer unter der Mode; immerhin sollen noch jährlich für 180,000 Pfd. Sterl. Schals ausgeführt werden. Andre Fabrikate sind Teppiche, Rosenöl, Wollenzeuge, Seidenwaren (eine Fabrik besteht in Srinagar), Papier, Papiermaché, Silber-, Gold- und Steinwaren; dagegen hat die früher berühmte Fabrikation von Flinten- und Pistolenläufen und Schwertern bedeutend abgenommen. Der Handel richtet sich vornehmlich nach dem Pandschab, Afghanistan, Zentralasien. In Indien ist Amritsar Hauptmarkt für die Produkte Kaschmirs. Britische Beamte sind in Leh und Srinagar stationiert. Die vielfach verbesserten Hauptstraßen zwischen K. und Indien führen von Srinagar über den Banihalpaß (2804 m) nach Dschamu und Amritsar, über den Pir Pandschal nach Gudscharat, endlich von Srinagar nach Peschawar über Baramula und Muzaffarabad. Der Telegraph verbindet Srinagar und Dschamu mit Sialkot im Pandschab.

Der Fürst, mit dem Titel Maharadscha, hat einen formellen Tribut (1 Pferd, 12 Ziegen und drei Paar Kaschmirschals) an die britische Regierung zu zahlen und ist dem Generalgouverneur von Indien direkt unterstellt, sonst aber unbeschränkt. Die Einkünfte (67,450,000 Rupien) bestehen meist in Abgaben von Grund und Boden, dessen ausschließlicher Herr der Fürst ist. Zu Verwaltungszwecken ist K. in 2 Provinzen (K. und Dschamu mit zusammen 11 Kreisen) und 3 äußere Gouvernements (Gilgit, Skardo, Ladak) geteilt. Oberster Richter ist der Maharadscha; ein Strafgesetzbuch ist nach dem Muster des britisch-indischen abgefaßt. Politische Verbrecher und zu lebenslänglichem Gefängnis Verurteilte werden nach der Grenzfestung Bhundschi verbannt; die übrigen Verbrecher verbüßen ihre Strafe in Hatbak am Dalsee. Das wenig brauchbare Heer zählt 1393 Mann Kavallerie, 18,436 Mann Infanterie und 96 Geschütze. Hauptorte sind: die Hauptstadt Dschamu, Srinagar (s. d.), die Sommerresidenz, Islamabad und Leh (s. d.).

[Geschichte.] Vor Erforschung der Sanskritliteratur der alten Inder hatte man in K. das Paradies, später die Wiege des Menschengeschlechts gesucht; seither wissen wir, daß dieses schöne Gebirgsland von den Ariern (s. d.) bald nach ihrer Einwanderung in das Pandschab in Kultur genommen wurde. Die Überlieferung geht weiter zurück als in andern Teilen Indiens, reicht aber über den großen Kampf (s. Mâhâbhârata) nicht hinaus. Es hat sich zwar eine dunkle Erinnerung an 52 ältere Könige erhalten; chronologisch können wir aber die Landesgeschichte nur bis 1182 v. Chr. zurück verfolgen. Mitte des 7. Jahrh. bemächtigten sich Brahmanen von Gandhara (bei Peschawar) Kaschmirs; Mitte des 4. Jahrh. war die indische Kastenordnung bereits fest begründet. Ende des 3. Jahrh. bemächtigte sich Demetrios, der Sohn des baktrischen Königs Euthydemos, des Landes, nachdem dieses um 240 v. Chr. die Oberherrschaft Açokas von Maghada anerkannt hatte und der Durchgang für buddhistische Missionare geworden war. Im 1. Jahrh. v. Chr. kam in K. eine einheimische Dynastie auf. Bald danach herrschten Indoskythen über K. und das Pandschab; der König Kanischka (seit 78 n. Chr.) hielt hier das in der Geschichte des nördlichen Buddhismus berühmte vierte Konzil ab. Im 2. Jahrh. n. Chr. erweiterte Meghawahana aus der Gupta-Dynastie das Reich bis zum Windhya und an das Gestade des Bengalischen Meerbusens; nach ihm ward K. von 207 bis 240 eine Beute baktrischer Eroberer. Aber danach setzte der nordindische König Tschandragupta einen Fürsten ein. Im 4. und 5. Jahrh. ward K. der Tummelplatz der Weißen Hunnen (s. Hunnen, S. 658); dann kräftigte es sich unter Fürsten eigner Abstammung. 713 sandte K. eine Gesandtschaft an den Kaiser von China; im 8. Jahrh. ward die tibetische Provinz Ladak erobert. Doch 1013 erfolgte der erste Angriff von Mohammedanern unter dem Ghasnawiden Mahmud; 1152 ging Lahore an seine Nachkommen über. K., von jetzt an reiner Gebirgsstaat, war nun Angriffsobjekt der nördlichen Nachbarn, so Ende des 12. Jahrh. der Tibeter unter Rintschana, der als König von K. den Islam annahm. Der Vertreibung der Fremden folgten beständige Fehden; hierdurch war 1340 der Boden vorbereitet für die dauernde Ausrichtung der mohammedanischen Fremdherrschaft (1587 durch Akbar befestigt). K. blieb eine Provinz des Großmogulreiches, bis es 1752 in die Gewalt der Afghanen unter Ahmed Schah fiel, deren Beamte das Land aussogen. 1819 trat ein neuer Herrscherwechsel ein durch die Ausdehnung des Sikhreiches unter Randschit Singh; K. wurde dem Pandschabreich einverleibt und das inzwischen unter tibetischen Königen selbständig gewordene Ladak (s. d.) wieder erworben. Nach Randschit Singhs Tode (1839) wurden im Vertrag von Lahore die Berglandschaften zwischen Bias und Indus, einschließlich K., zur Entschädigung für die aufgewendeten Kriegskosten an die Briten abgetreten; sie überwiesen jedoch diese Gebiete 11. März 1846 im Vertrag von Amritsar Ghulab Singh, dem englandfreundlichen Radscha von Dschamu, als selbständiges Fürstentum gegen Zahlung von 750,000 Pfd. Sterl., während der Fürst gleichzeitig in ein Vasallenverhältnis zur britischen Krone trat, der er seitdem einen jährlichen Tribut (s. oben) entrichtet. 1859 folgte als Maharadscha Gulab Singhs Sohn Rangbir Singh (geb. 1832), diesem 1885 Pertab Singh, der 1889 von den Engländern, für die seit dem drohenden Vordringen der Russen der Besitz Kaschmirs von großer Bedeutung ist, wegen angeblicher Verschwendung gezwungen wurde, einen Staatsrat einzusetzen, der sich in allen wichtigen Fällen mit dem britischen Residenten zu verständigen hat. Die Finanzverwaltung wurde durch englische Beamte reformiert und der Fürst auf eine Zivilliste beschränkt. Vor unliebsamen Umtrieben in der Nachbarschaft sicherte sich England 1895 durch die Expedition nach Tschitral (s. d.). Vgl. v. Hügel, K. und das Reich der Sieck (Stuttg. 1840–48, 4 Bde.); H. v. Schlagintweit, Reisen in Indien und Hochasien, Bd. 2 (Jena 1871), Bellew, Kashmir and Kashgar, a narrative of the journey of the embassy to Kashmir 1873–1874 (Lond. 1875); Drew, The Jummo and Kashmir territories, a geographical account (das. 1875, Hauptwerk); Wakefield, Kashmir and the Kashmiris (das. 1879); Lawrence, The valley of Kashmir (das. 1895); Eckenstein, The Karakorams and Kashmir (das. 1896); Darrah, Sport in the highlands of Kashmir (das. 1898); A. Stein, Kalhana's Râjatavanginî, a chronicle of the Kings of Kasmîr (das. 1900; brauchbar für das 7.–12. Jahrh.); Knowles, Dictionary of Kashmiri proverbs (das. 1885) und Folk tales of Kashmir (das. 1888); »Kashmir Handbook« (das. 1886); Collett, Guide for visitors to Kashmir (Kalkutta 1898); Hunter, Imperial Gazetteer of India, Bd. 8 (2. Aufl., Lond. 1886); Wardle, Kashmir, its silk industry (das. 1905).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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