Gagern

Gagern

Gagern, 1) Hans Christoph Ernst, Freiherr von, politischer Schriftsteller und Staatsmann, geb. 25. Jan. 1766 zu Kleinniedesheim bei Worms, gest. 22. Okt. 1852, studierte die Rechte, trat 1786 in den nassau-weilburgischen Staatsdienst, ward 1791 Gesandter beim Reichstag, dann in Paris und bald darauf Geheimrat und Regierungspräsident. Napoleons I. Dekret, daß kein auf dem linken Rheinufer Geborner in einem nicht zum französischen Reiche gehörenden Staat ein öffentliches Amt bekleiden dürfe, zwang ihn 1811 zum Rücktritt. Er begab sich nach Wien, stand mit Hormayr und dem Erzherzog Johann in Verbindung, wurde wegen seiner Beihilfe zum neuen Aufstand der Tiroler 1812 aus Österreich ausgewiesen, ging in das preußisch-russische Hauptquartier und dann nach England, wo er für die Restitution des Prinzen von Oranien in den Niederlanden wirkte. Hierauf ernannte ihn der neue König der Niederlande zum leitenden Minister der oranischen Fürstentümer in Deutschland, sandte ihn 1815 als Gesandten zum Wiener Kongreß, wo er durch engen Anschluß an England und Österreich die Vereinigung Belgiens mit dem neuen Königreich der Niederlande und die Begründung eines oranischen Mittelstaats zwischen Preußen und Frankreich durchsetzte. Bis 1818 niederländischer Gesandter beim Bundestag, befürwortete G. stets die Einführung landständischer Verfassungen in den deutschen Bundesstaaten, lebte, seit 1820 pensioniert, auf seinem Gut Hornau bei Höchst literarisch tätig und stand mit den erleuchtetsten Zeitgenossen in lebhaftem schriftlichen Verkehr. Als lebenslängliches Mitglied der Ersten Kammer des Großherzogtums Hessen förderte er alle patriotischen und philanthropischen Bestrebungen und begrüßte auch, obwohl früher der Idee einer Volksvertretung am Bundestag stets abgeneigt, das Frankfurter Parlament mit Freuden. Von seinen zahlreichen Schriften verdienen neben seinen autobiographischen Denkwürdigkeiten (»Mein Anteil an der Politik«, Bd. 1–4, Stuttg. 1822–33; Bd. 5 u. 6, Leipz. 1845), die ein lebendiges Bild der Napoleonischen Zeit und der diplomatischen Lage während der Freiheitskriege liefern, noch Erwähnung: »Die Nationalgeschichte der Deutschen« (Wien 1813–26, 2 Bde.; 2. Aufl., Frankf. 1825–26) und »Kritik des Völkerrechts mit praktischer Anwendung auf unsre Zeit« (das. 1840).

2) Friedrich Balduin, Freiherr von, niederländ. General, ältester Sohn des vorigen, geb. 24. Okt. 1794 in Weilburg, gest. 20. April 1848, mußte 1812 wegen mehrerer Duelle die Universität Göttingen verlassen, erwarb sich in Paris eine mathematische Bildung, nahm im österreichischen Heer am Feldzug gegen Rußland teil und focht 1813 bei Dresden, Kulm und Leipzig. Den österreichischen mit dem niederländischen Dienst vertauschend, kämpfte er 1815 im niederländischen Heere, war als Generalstabsoffizier 1824 und 1825 der Bundesmilitärkommission beigegeben und wirkte 1831 als Major und Chef des Generalstabes des Herzogs Bernhard von Weimar bei den Kämpfen der Holländer in Belgien. 1838 Kommandeur eines Dragonerregiments geworden, begleitete er 1839 den Prinzen Alexander auf der Reise nach Rußland und ging, seit 1844 General, nach Ostindien, um die dortigen holländischen und großbritannischen Kolonien zwei Jahre lang zu studieren. Nach seiner Rückkehr (1847) Gouverneur der Residenz und Provinzialkommandant von Südholland geworden, übernahm er im Frühjahr 1848 bei einer Urlaubsreise nach Deutschland, ohne die nachgesuchte Genehmigung der niederländischen Regierung abzuwarten, den ihm von Baden angetragenen Oberbefehl gegen die Heckerschen Freischaren. Als er bei Kandern 20. April auf sie stieß, suchte er ihre Führer zum Niederlegen der Waffen zu bewegen, aber hatte keinen Erfolg und ward bei Abbruch der Verhandlungen durch eine Salve der Insurgenten niedergestreckt. 1851 ward ihm an der Stelle, wo er fiel, ein Denkmal errichtet. Vgl. Heinrich von G., Das Leben des Generals Friedrich von G. (Leipz. 1856–57, 3 Bde.).

3) Heinrich Wilhelm August, Freiherr von, deutscher Staatsmann, Bruder des vorigen, geb. 20. Aug. 1799 in Bayreuth, gest. 22. Mai 1880 in Darmstadt, besuchte 1812–14 die Militärschule in München, focht als nassau-weilburgischer Offizier 1815 bei Waterloo, studierte dann die Rechte in Heidelberg, wo er die deutsche Burschenschaft mit begründete, in Göttingen, Jena und Genf und trat 1821 in den hessischen Staatsdienst. In seiner Broschüre »Über die Verlängerung der Finanzperioden und Gesetzgebungslandtage« bekämpfte er 1827 mit Erfolg den Antrag auf Verwandlung der dreijährigen in sechsjährige Finanzperioden, ward 1832 für Lorsch in die Zweite Kammer gewählt, aber nach Auflösung des Landtags als Beamter im Ministerium des Innern und der Justiz pensioniert. G., auf die Pension verzichtend. machte sich durch Ankauf von liegenden Gütern wieder wahlfähig und kam wiederholt in die Kammer, wo er die gefährdeten Rechtsinstitutionen der Provinz Rheinhessen verteidigte. Als die Bewegung von 1848 begann, nahm er 5. März zu Heidelberg an der Beratung über die Berufung eines Vorparlaments teil, ward noch an demselben Tag an die Spitze des neugebildeten liberalen Ministeriums berufen, verließ indes diesen Posten bald wieder und trat in das Vorparlament zu Frankfurt ein. Von zwei Wahlbezirken des Großherzogtums Hessen in die Nationalversammlung gewählt, und seit 19. Mai deren Präsident, setzte er es durch, daß die Nationalversammlung bei Einsetzung der provisorischen Zentralgewalt das konstitutionelle Prinzip der Neugestaltung Deutschlands zugrunde legte und dadurch das Fortbestehen der Monarchie sicherte. Als eine Verständigung mit den Regierungen über eine definitive Ordnung der Dinge immer schwieriger wurde, beantragte G. die Übertragung der provisorischen Zentralgewalt an einen verantwortlichen Reichsverweser und lenkte die Wahl auf den Erzherzog Johann von Österreich, bemühte sich indessen, den König von Preußen zur Annahme der Kaiserkrone zu bewegen. Am 16. Dez. an die Spitze des Reichsministeriums berufen, stellte er den Antrag (Gagernscher Antrag) auf einen engern Bundesstaat unter Preußens Führung, zu dem Österreich in ein bloßes Unionsverhältnis treten sollte. Als 21. März 1849 das gesamte Reichsministerium seine Entlassung nahm, behielt er noch die interimistische Leitung der Geschäfte; die Nichtannahme der Kaiserkrone von seiten des Königs von Preußen erschütterte aber seine Stellung, und als der Reichsverweser eine schroffe Stellung zum Parlament und speziell zu der Partei Gagerns einnahm, schied dieser 20. Mai 1849 aus der Nationalversammlung aus und wirkte fortan als Mitglied der Gothaer Partei für das Zustandekommen der preußischen Union. Auf dem Unionstag zu Erfurt gehörte er zu den Leitern der bundesstaatlichen Partei, welche die Annahme des Dreikönigsentwurfs durchsetzte. Als die Unionshoffnungen schwanden, zog sich G. auf sein Landgut zurück, weihte nach der Schlacht bei Idstedt Schleswig-Holstein seine Dienste und machte als Major den Rest des unglücklichen Feldzugs mit. Nach dem Ende des Krieges auf sein Gut Monsheim zurückgekehrt, siedelte er 1852 mit seiner Familie nach Heidelberg über und schrieb die Biographie seines Bruders Friedrich (s. oben 2). Seit 1859 wendete er sich von Preußen ab, das er beschuldigte, während des Krieges in Italien seine Pflicht gegen Österreich versäumt zu haben, trat seit 1862 offen auf die Seite Österreichs und der Großdeutschen über und ließ seine Kinder katholisch erziehen. Seit Januar 1864 diplomatischer Vertreter des Großherzogtums Hessen in Wien, wurde er, nachdem dieser Posten eingegangen war, 1872 pensioniert und kehrte nach Darmstadt zurück. – Sein ältester Sohn, Freiherr Friedrich Balduin von G., geb. 9. Juni 1842, war 1881–93 ultramontanes Mitglied des deutschen Reichstags.

4) Maximilian, Freiherr von, jüngster Bruder der vorigen, geb. 26. März 1810 in Weilburg, gest. 17. Okt. 1889 in Wien, studierte in Heidelberg, Utrecht und Göttingen, stand 1829–33 in niederländischen Staats- und Kriegsdiensten, habilitierte sich in Bonn als Privatdozent, um über historisch-politische Gegenstände zu lesen, trat dann aber in den nassauischen Staatsdienst. 1848 einer der Vertrauensmänner, welche die sogen. Siebzehner-Verfassung ausarbeiteten, wurde er Mitglied der Nationalversammlung, bei der Bildung des ersten Reichsministeriums zum Unterstaatssekretär im Departement des Auswärtigen ernannt und hatte in dieser Eigenschaft die deutschen Interessen bei dem Abschluß des Malmöer Waffenstillstandes zu wahren. Nach Auflösung des Parlaments nahm G. an der Versammlung in Gotha teil und ward 1850 in den Unionsreichstag zu Erfurt gewählt, zog sich aber nach dem Scheitern der Union von dem politischen Leben zurück. Schon 1843 zum Katholizismus übergetreten, wirkte er in amtlicher Tätigkeit in Nassau für die neue Zentralorganisation des katholischen Schulwesens. 1854 nach Wien berufen und 1855 zum Hof- und Ministerialrat und Leiter des handelspolitischen Departements im Ministerium des Auswärtigen ernannt, betätigte er sich im großdeutschen, antipreußischen und klerikalen Sinne. 1874 aus dem Staatsdienst ausgeschieden, ward er 1881 zum Mitglied des Herrenhauses ernannt.


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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