- Gesicht [2]
Gesicht (Gesichtssinn, Visus), das Vermögen, zu sehen, die Gesamtheit der Verrichtungen des Auges, vermöge deren wir uns in der Außenwelt mittels des Lichts zu orientieren vermögen. Das Auge verdankt die Fähigkeit der Lichtempfindung dem Sehnerv. Das Licht, das auf die Endapparate der Sehnervenfasern, die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut (s. Text zur Tafel »Auge des Menschen«), auffällt, versetzt die mit jenen zusammenhängenden Nervenfasern in einen Erregungszustand, der dem Zentralorgan zugeleitet wird und hier den Eindruck einer Lichtempfindung veranlaßt (Lichtsinn des Auges). Zwar ruft jeder Erregungszustand der Sehnervenfasern Lichtempfindungen hervor, aber nur von den Endapparaten der Netzhaut aus können die Sehnervenfasern durch Licht in den Erregungszustand versetzt werden. Für die Auffassung des Lichtreizes und für die Unterscheidung seiner Intensität (hell und dunkel) bedürfte das Auge (abgesehen von dem zentralen Sinnesapparat im Gehirn) nur einer einzigen Nervenfaser, die mit einem die Lichtreizung vermittelnden Endorgan verbunden sein müßte. Bei absolutem Lichtmangel würde diese eine Sehnervenfaser gar nicht erregt werden, mit der Steigerung der Intensität des Lichtes würden der Reizzustand und die Lichtempfindung an Stärke zunehmen. Da wir aber auch die Fähigkeit besitzen, die Farben, d. h. die verschiedenen Qualitäten des Lichtes, als verschiedene Reize wahrzunehmen (Farbensinn), so müssen spezifische Farbenempfindungsorgane vorhanden sein, die nur durch Licht von bestimmter Wellenlänge erregbar sind. Als solche spezifische Endorgane des Sehnervs sind wahrscheinlich die Zapfen der Netzhaut anzusehen. Das Auge vermag aber endlich auch die von den einzelnen Punkten äußerer Gegenstände ausgesandten Lichtstrahlen gesondert aufzufassen (Raumsinn der Netzhaut); indem es dadurch die räumliche Anordnung der ein Objekt zusammensetzenden leuchtenden Punkte wahrnimmt, gelangt es zu einer Vorstellung von der Gestalt der außerhalb befindlichen Gegenstände. Diese Fähigkeit des Auges beruht darauf, daß auf der empfindlichen Netzhaut Bilder der lichtaussendenden Objekte entworfen werden, ganz ähnlich denjenigen, die auf der empfindlichen Platte eines photographischen Apparats, einer Camera obscura, entstehen. Wie bei dieser die Bilder durch die Einschaltung von Glaslinsen erzeugt werden, so wird das Netzhautbild erzeugt durch die Strahlenbrechung in den gekrümmten brechenden Augenmedien, der Hornhaut, der Kristallinse, dem Glaskörper. Wie bei der Camera obscura, so ist auch beim Auge das auf der auffangenden Platte (Netzhaut) entstehende Bild äußerer Gegenstände verkleinert, umgekehrt und reell. Um durch Konstruktion die Stelle der Netzhaut zu finden, auf der sich ein leuchtender Punkt abbildet, denkt man sich diesen Punkt mit einem idealen Punkt im Innern des Auges, dem Knotenpunkt, der in der Kristallinse nahe ihrem hintern Scheitel gelegen ist, verbunden und diese Verbindungslinie so weit verlängert, bis sie die Netzhaut trifft. Eine solche Linie nennt man eine Richtungslinie (Fig. 1 Aa u. Bb) und, falls sie die Mitte der Netzhaut trifft, Sehlinie oder Gesichtslinie. Den Winkel, den zwei ein Objekt begrenzende Richtungslinien miteinander bilden, nennt man den Sehwinkel.
Es ist viel darüber gestritten worden, wie es kommt, daß wir die Objekte aufrecht sehen, obschon ihre Netzhautbilder umgekehrt sind. Im Grunde genommen ist der Streit überflüssig, weil es sich dabei um eine falsche Fragestellung handelt.
Wir müssen nämlich daran festhalten, daß nicht das Auge selbst das Bild sieht, das in demselben entworfen wird, sondern daß sich der von dem leuchtenden Punkte hervorgebrachte Gesichtseindruck durch die Sehnervenfasern in das Gehirn fortpflanzt und hier erst auf eine uns freilich nicht erklärliche Weise zum Bewußtsein kommt. Das Gehirn aber versetzt stets die empfangenen Gesichtseindrücke nach den Gesetzen der Projektion, d. h. in der Richtung der Sehlinien, nach außen. Der Lichteindruck, der oben in der Netzhaut stattgefunden, wird dahin projiziert, wo, wenn wir von ihm aus durch den Knotenpunkt eine gerade Linie nach außen ziehen, diese Linie endet, also nach unten und umgekehrt; das gleiche Verhältnis findet statt zwischen rechts und links: die Gesichtseindrücke der linken Seite der Retina werden nach rechts, die der rechten Seite nach links projiziert. Das Auge kann niemals gleichzeitig Gegenstände deutlich sehen, die in erheblich verschiedener Entfernung gelegen sind. Um deutlich zu sehen, muß es auf die Entfernung des Gegenstandes eingestellt sein. Strahlen, die von Punkten kommen, auf die das Auge nicht eingestellt ist, erzeugen keine scharfen Bilder, sondern verwaschene, lichtschwache Zerstreuungskreise und Zerstreuungsbilder. Hält man in mäßiger Entfernung vom Auge einen durchsichtigen Schleier und hinter denselben in einer Entfernung von 50 cm eine Schrift, so kann man nacheinander bald die Fäden des Schleiers, bald die Buchstaben der Schrift, niemals aber beide zusammen deutlich sehen. Bei weit entfernten Gegenständen spielt die Verschiedenheit ihrer Entfernung keine Rolle; so sehen wir eine ferne Kirchturmspitze und den dahinter stehenden Mond gleichzeitig deutlich.
Da das Auge im ruhenden Zustand auf große Ferne eingestellt ist, würden sich für gewöhnlich nur weit entfernte Objekte auf der Netzhaut deutlich abbilden, besäße das Auge nicht einen Mechanismus, durch dessen Tätigkeit die Krümmung der Linse derartig verstärkt werden kann, daß auch nähere Objekte scharfe Bilder auf die Netzhaut werfen. Neben dieser Akkommodation für die Nähe besitzt das Auge noch die Fähigkeit, sich wechselnden Lichtintensitäten anzupassen, indem es durch Veränderung der Pupillenweite die Größe des in sein Inneres dringenden Strahlenkegels reguliert. Die Akkommodationsbreite, d. h. der Inbegriff aller Entfernungen, aus denen das Auge scharfe Bilder aufzunehmen vermag, liegt beim normalen oder emmetropen Auge zwischen 10 bis 12 cm (Nahpunkt) und unendlicher Entfernung (Fernpunkt). Von dieser Norm kommen häufig Abweichungen vor. Es kann nämlich der Fernpunkt in weit größerer Nähe und dann gewöhnlich auch der Nahpunkt näher rücken (kurzsichtige oder myopische Augen), oder es rückt der Nahpunkt in größere Entfernung, während der Fernpunkt unverändert bleibt (weitsichtige oder presbyopische Augen), oder endlich der Fernpunkt liegt in mehr als unendlicher Ferne, und der Nahpunkt ist weit vom Auge entfernt (übersichtige, hyperopische oder hypermetropische Augen).
Die Akkommodation erfolgt durch Formveränderungen der Linse und zwar derartig, daß beim Übergang vom Fernsehen zum Nahesehen die Linse dicker wird, indem sich ihre vordere Fläche stärker wölbt. Mit zunehmendem Alter wird die Linse weniger elastisch und dadurch die Akkommodationsfähigkeit des Auges geringer. Darauf beruht die erwähnte Presbyopie. Die Veränderung der Linsenform wird herbeigeführt durch die Wirkung eines im Innern des Auges gelegenen Muskels (musculus ciliaris), der sich um so stärker zusammenzieht, je näher der zu betrachtende Gegenstand an das Auge heranrückt.
Die Anpassung des Auges für Lichtstärken kommt durch Verengerung oder Erweiterung der Pupille zustande. Die Regenbogenhaut, deren zentraler Ausschnitt die Pupille ist, besitzt dazu zwei Muskeln: den Erweiterer und den Verengerer der Pupille (musculus dilatator und sphincter pupillae), von denen der erstere radiale, der zweite zirkuläre Faserung besitzt. Die Iris stellt eine für Lichtreize äußerst empfindliche muskulöse Blendung dar, die dadurch, daß sie sich bei wachsender Lichtstärke verengert und bei abnehmender erweitert, die zur Netzhaut gelangende Lichtmenge regelt. Bei der Einstellung des Auges für nahe Gegenstände wird die Pupille ebenfalls verengert.
Der optische Apparat des Auges hat zahlreiche Unvollkommenheiten mit künstlichen optischen Instrumenten gemein, Mängel, die teils von der Unvollständigkeit der Zentrierung (der mangelnden Gradlinigkeit der Augenachse der optischen Achse) und von kleinen Unregelmäßigkeiten in der Gestalt der brechenden Flächen, teils aber davon herrühren, daß die zentral auffallenden Strahlen weniger stark gebrochen werden als die Randstrahlen. Dieser Mangel bewirkt die sogen. sphärische Abweichung, ein Mangel, der sich durch Verzerrung der Netzhautbilder sehr bemerklich machen würde, wenn er nicht durch die Einschaltung der die Randstrahlen abblendenden Iris in der Hauptsache beseitigt wäre. Der auf dem ungleichmäßigen Bau der Hornhaut und der Linse beruhende Astigmatismus tritt unter gewöhnlichen Verhältnissen ebenfalls nicht sehr störend hervor, doch veranlaßt er, daß Sterne und entfernte Flammen strahlenförmig erscheinen, und daß wir in derselben Entfernung befindliche horizontale und vertikale Linien nicht gleichzeitig scharf sehen können. Mit vielen optischen Instrumenten teilt das Auge einen Fehler, der durch die ungleiche Brechbarkeit der verschiedenfarbigen, im Tageslicht enthaltenen Lichtstrahlen und die dadurch veranlaßte Farbenzerstreuung bedingt ist (chromatische Abweichung). Auf ihr beruhen die farbigen Säume, die man unter Umständen an betrachteten Gegenständen wahrnimmt, der blaue Hof einer Flamme, die man aus der Ferne durch ein violettes Glas sieht, u. dgl. Die Farbenzerstreuung der brechenden Medien des Auges ist geringer als die des Glases; deshalb tritt der durch sie veranlaßte Fehler weniger hervor als bei Glaslinsen und den aus solchen zusammengesetzten Apparaten, die, wenn sie tauglich sein sollen, eine sehr sorgfältige Korrektion der chromatischen Abweichung verlangen. Auf der Entstehung von Zerstreuungskreisen beruht im wesentlichen die sogen. Irradiation. Sie besteht darin, daß helle Flächen größer erscheinen als ebenso große dunkle. Weiße Handschuhe und Schuhe lassen Hände wie Füße größer erscheinen als schwarze. Wohlbeleibtheit der Damen tritt in heller Kleidung besonders auffallend hervor, während dunkle Kleider schlank machen. Die Irradiation erklärt sich daraus, daß die Zerstreuungskreise des beleuchteten hellen Gegenstandes über die dunkle Umgebung hinausgreifen, und daß sich daher der erstere auf Kosten der letztern vergrößert. Trübungen der brechenden Medien oder beschattende Objekte unmittelbar vor der Netzhaut rufen entoptische Erscheinungen hervor. Beim Eindringen des Lichtes in das Innere des Auges werden Schatten der betreffenden Körper auf die Netzhaut geworfen, und das Auge gewahrt unter Umständen diese undurchsichtigen Teile als mehr oder weniger deutliche Schattenbilder. Die Ursache der entoptischen Erscheinungen liegt meist in Trübungen der Hornhaut, der Linse oder des Glaskörpers; doch vermögen auch die vor der lichtempfindenden Schicht der Netzhaut in dieser selbst befindlichen Blutgefäße Schattenbilder zu erzeugen. Diese Wahrnehmung der Netzhautgefäße bezeichnet man als die Purkinjesche Aderfigur; sie kennzeichnet sich als deutlicher Gefäßbaum im Gesichtsfeld, der ganz demjenigen gleicht, der durch Injektion der Netzhautgefäße erhalten oder mittels des Augenspiegels wahrgenommen wird. Man kann diese Aderfigur jeden Augenblick erzeugen, wenn man in einem finstern Zimmer das Auge gegen eine Wand richtet und etwas seitwärts vom Auge ein Kerzenlicht hin und her bewegt. Auch den Blutlauf in den Netzhautgefäßen kann man unter Umständen wahrnehmen. Die entoptischen Erscheinungen des Glaskörpers zeichnen sich vor denen der andern Gebilde durch ihre Beweglichkeit aus, weshalb sie auch als fliegende Mücken (mouches volantes) bezeichnet werden.
Verbleib und Wirkung des ins Auge fallenden Lichtes. Gesichtsempfindungen.
Das auf den Augenhintergrund fallende Licht wird keineswegs von dem Pigment der Aderhaut ganz verschluckt, denn ein Flammenbildchen auf der Netzhaut wirkt als Lichtquelle und überzieht den ganzen übrigen Augenhintergrund mit einem merklichen Lichtschimmer. Früher nahm man eine Lichtentwickelung, eine Art Phosphoreszenz, im Innern des Auges selbst an und suchte hierdurch das Leuchtendes Auges mancher Tiere, das von dem Erregungszustand und dem Willen des Tieres abhängig sein sollte, zu erklären. Wir wissen jetzt, daß das Augenleuchten auf eine Zurückwerfung von solchem Licht zurückzuführen ist, das von außen eingefallen ist, und dieser Vorgang wird durch eine das Licht stark reflektierende Membran, das Tapetum lucidum, das unmittelbar unter der Netzhaut liegt, äußerst begünstigt. In völlig finstern Räumen wird niemals Augenleuchten beobachtet. Aber weil die Lichtmenge, die beim Leuchten reflektiert wird, nur gering ist, darf die Umgebung nur schwach beleuchtet sein, soll überhaupt das Augenleuchten wahrgenommen werden. Auf der Erleuchtung des Auges durch größere Lichtmassen und der Reflexion dieses Lichtes im Augenhintergrund beruht die Anwendung des Augenspiegels (s.d.).
Die Netzhaut ist die innerste Augenhaut und setzt sich zusammen aus den Fasern des Sehnervs, aus eigentümlichen Anhangsgebilden dieser Fasern und aus einer Stützsubstanz, in welche die nervösen Elemente eingelagert sind.
Fig. 2. Schichten in der Netzhaut des Menschen. Reihenfolge der Schichten (von innen nach außen): 1 Innere Begrenzungsschicht, 2 Nervenfaserschicht, 3 Ganglienzellenschicht, 4 innere Körnchenschicht, 5 innere Körnerschicht, 6 äußere Körnchenschicht, 7 äußere Körnerschicht, 8 äußere Begrenzungsschicht, 9 Schicht der Stäbchen und Zapfen, 10 Pigmentschicht.Der feinere Bau der Netzhaut ist äußerst verwickelt; auf einem zur Flächenausbreitung der Netzhaut senkrechten Schnitt unterscheidet man bei starker mikroskopischer Vergrößerung zehn verschiedene Schichten, wie bei Fig. 2 (vom Innern des Augapfels nach außen) angegeben.
Das in das Auge gelangte Licht muß unter Durchsetzung der übrigen Netzhautschichten bis zu der Schicht der auch als Sehepithel bezeichneten Stäbchen und Zapfen gelangen. Diese sind als die eigentlichen Angriffsstellen des Lichtreizes zu betrachten; hier bewirken die Ätherschwingungen eigentümliche Veränderungen, welche die mit ihnen durch Vermittelung der Elemente der übrigen Retinaschichten (Nervenfasern, Ganglien, Körner und Körnchen) verbundenen Fasern des Sehnervs, die selbst für Licht völlig unempfindlich sind, erregen und zu Gesichtsempfindungen führen.
Jedes Sehobjekt kann man als ein Mosaik vieler leuchtender Punkte auffassen. Deshalb muß auch die Netzhautschicht, in der die Nervenreizung erfolgt, mosaikartigen Bau besitzen; ein solcher kommt aber nur der Schicht der Stäbchen und Zapfen zu. Die Sehnervenfasern selbst und die Schichten der Ganglien, Körner und Körnchen sind als Angriffsstellen des Lichtreizes schon deshalb ungeeignet, weil ihre Elemente in mehreren Lagen übereinander liegen und daher der Lichtstrahl meist mehrere Elemente gleichzeitig reizen würde. Man kann aber auch direkt nachweisen, daß die Fasern des Sehnervs selbst durch Licht nicht reizbar sind. Die ziemlich große Eintrittsstelle des Sehnervs enthält nämlich gar nichts andres von nervösen Elementen als Nervenfasern. Fällt nun auf diese Stelle das Bild eines hellen Gegenstandes, so nimmt man nicht die Spur einer Lichtempfindung wahr. Fixiert man von den beiden dunkeln Marken in der folgenden Fig. 3 die rechts gelegene mit dem linken Auge (das rechte Auge wird geschlossen) aus einer Entfernung von ca. 25 cm, so wird die links befindliche unsichtbar. Ebenso verschwindet die rechts gelegene, sobald man die links gelegene mit dem rechten Auge fixiert.
Um die richtige Entfernung zu finden, nähert man das Buch aus größerer Entfernung allmählich dem Auge. Man sieht alsdann die Marke bei einer bestimmten Entfernung verschwinden und bei einer weitern Annäherung wieder auftauchen. In diesem Versuch nun verschwindet die eine Marke dann, wenn ihr Bild gerade auf die Eintrittsstelle des Sehnervs fällt; diese Stelle bezeichnet man deshalb als den blinden (Mariotteschen) Fleck. Diese Lücke im Gesichtsfeld, die groß genug ist, um ein etwa 2 m entferntes menschliches Gesicht verschwinden zu lassen, ist von Mariotte entdeckt worden; das angegebene Experiment bezeichnet man deshalb als den Mariotteschen Versuch. Daß beim gewöhnlichen Sehen keine der Eintrittsstelle des Sehnervs entsprechende Lücke empfunden wird, hat darin seinen Grund, daß in unsrer Vorstellung die Punkte, die von der Umgebung des blinden Fleckes wahrgenommen werden, aneinander rücken und diese Lücke ausfüllen. Am deutlichsten sind die Gesichtsempfindungen, die durch den sogen. gelben Fleck und seinen zentralen Teil, die Netzhautgrube (Fovea centralis) oder Netzhautmitte, vermittelt werden. Diese Stelle enthält fast ausschließlich Zapfen, während die übrigen Partien der Netzhaut an diesen Gebilden um so ärmer sind, je weiter sie von der Fovea entfernt sind. Auf ihr müssen sich die äußern Objekte abbilden, um am schärfsten wahrgenommen zu werden. Man nennt sie deshalb auch den Ort des deutlichsten Sehens. Wollen wir einen Gegenstand scharf erkennen, so müssen wir dem Auge eine solche Richtung geben, daß das Bild des Gegenstandes diese Netzhautstelle trifft. Diese Einstellung des Auges nennt man Fixieren. Erscheint dem Auge das fixierte Objekt aber auch am deutlichsten, so nimmt dasselbe doch auch neben ihm gleichzeitig eine Menge von Gegenständen wahr, deren Abbildungsörter außerhalb der Netzhautmitte fallen, und die deshalb weniger scharf erscheinen (indirektes Sehen). Der Inbegriff aller bei Fixation eines festen Punktes gleichzeitig gesehenen Punkte der Außenwelt heißt das Gesichtsfeld. Die Ausdehnung des Gesichtsfeldes wird mittels des Perimeters festgestellt.
Man nimmt an, daß durch das einfallende Licht bewirkte chemische Vorgänge in der Netzhaut die Ätherbewegung fähig machen, den Sehnerv zu erregen (optochemische Hypothese). Enthielten die wirksamen Endorgane des Sehnervs, also die Stäbchen und Zapfen, durch Licht zersetzbare Stoffe, so könne man sich vorstellen, daß durch den Lichteinfall chemische Körper in Freiheit gesetzt werden, die als Reize auf die Nervenendigungen wirken und so zu Gesichtsempfindungen führen.
Solche chemische Prozesse lassen sich nun in den Stäbchen direkt nachweisen. Die Stäbchen der meisten Wirbeltiere sind mit einem roten Farbstoff, dem Sehpurpur (s.d.), überzogen. Dieser Farbstoff wird durch die Einwirkung des Lichtes gebleicht und zerstört, so daß man, ähnlich wie auf einer photographischen Platte, bleibende Abbildungen von äußern Objekten, z. B. einem hellen Fenster, erhalten kann (Optogramme). Den destruktiven stehen regenerative Vorgänge gegenüber, indem, besonders in der Dunkelheit, der zerstörte Sehpurpur sich immer wieder erneuert. Wahrscheinlich beruht auf dieser Regeneration die Adaptation des Auges, d. h. eine Anpassung an geringe Lichtstärken und die damit zusammenhängende Zunahme des Lichtsinnes beim Aufenthalt in verdunkelten Räumen. Bemerkt sei noch, daß auch elektrische Ströme in der Netzhaut nachgewiesen sind, und daß im Verhalten dieser eine Änderung eintritt, sobald das Auge durch Licht gereizt wird. Diese Retinaströme sind indes nicht an die Gegenwart des Sehpurpurs geknüpft. An den Pigmentzellen der Netzhaut sowie an den Zapfen sind neuerdings auch unter dem Einfluß des Lichtes entstehende Bewegungserscheinungen bemerkt worden. Im belichteten Auge dringt nämlich das Pigment von außen her tief in die Stäbchen- und Zapfenschicht zwischen deren Elemente ein, während es sich im Dunkeln von ihnen zurückzieht. Die Innenglieder der Zapfen erfahren unter dem Einfluß des Lichtes eigentümliche Formveränderungen, indem sie sich verkürzen und zugleich verdicken. Die physiologische Bedeutung dieser Erscheinungen ist noch nicht genügend erforscht; doch dürfte die Pigmentbewegung mit der Regeneration des zerfetzten Sehpurpurs im Zusammenhang stehen.
Ist nun auch Licht der adäquate Reiz für die Netzhaut, so wird doch der Sehnerv mit seinen Ausbreitungen auch durch allgemeine mechanische oder elektrische Nervenreize in Erregung versetzt. Soz. B. erfüllt ein Stoß auf das Auge das Gesichtsfeld mit einem intensiven Lichtblitz. Ferner blitzt das Gesichtsfeld hell auf, sobald man einen schwachen elektrischen Strom durch das Auge sendet.
Durch Einwirkung des Lichtreizes auf die Netzhaut entstehen Lichtempfindungen. Da nun die Trägheit eine allgemeine Eigenschaft der Materie ist, so kann es nicht überraschen, daß eine gewisse Zeit verstreicht, bevor auf Einwirkung des Reizes die Netzhaut in einen merklichen Erregungszustand geraten ist, und daß anderseits die Erregung den Reiz eine Zeitlang überdauert. Daher erscheint eine glühende Kohle als Feuerkreis, sobald sie mit einer gewissen Geschwindigkeit im Kreise gedreht wird. Nach jedem Gesichtseindruck bleibt also der gesehene Gegenstand nach kurze Zeit sichtbar, es bildet sich ein sogen. Nachbild. War der Lichteindruck stark, so kann die Erregbarkeit der Netzhaut durch Ermüdung derartig abnehmen, daß eine dunkle Stelle von der Gestalt des gesehenen Gegenstandes als Nachbild erscheint (negatives Nachbild). Fixiert man kurze Zeit ein Fenster und schließt dann das Auge, so erscheint im Nachbild alles das hell, was im Vorbild hell war (also die Scheiben), das Fensterkreuz dagegen wie im Vorbild dunkel. Hat man das helle Fenster aber lange angeblickt, und richtet man danach das Auge gegen eine mäßig beleuchtete graue Wand, so erscheint ein Nachbild, in dem die Fensterscheiben dunkel, das Kreuz dagegen hell ist. Deutliche positive Nachbilder erhält man leicht, wenn man nachts eine hell brennende Lampe auslöscht. Im dunkeln Raum hat man dann das Bild der Lampe noch lange vor Augen.
Die wahrgenommenen Gegenstände besitzen alle eine gewisse Farbe, die von dem Licht herrührt, das sie durchlassen oder reflektieren. Das gewöhnliche Sonnenlicht läßt sich mit Hilfe eines Prismas in ein Farbenband zerlegen, das als Hauptfarben Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigblau und Violett zeigt, aus denen sich alle überhaupt vorkommenden Farben durch Mischung herstellen lassen. Durch Mischung mehrerer Spektralfarben kommt man zu folgenden Ergebnissen: 1) Mehrere Farbenpaare liefern, in einem bestimmten Verhältnis gemischt, Weiß. Solche Paare nennt man komplementäre Farben. Es sind das:
Rot und Blaugrün,
Orange und Cynablau,
Grünlichgelb und Violett.
2) Reines Grün besitzt keine einfache Komplementärfarbe. Um mit Grün Weiß zu erhalten, muß es mit zwei Farben, mit Rot und Violett, gemischt werden. Rot, Grün und Violett, die einzigen drei reinen Farbenqualitäten, die zusammen Weiß geben, bezeichnet man als Grundfarben, und es lassen sich alle übrigen Farbenqualitäten aus Mischungen dieser Grundfarben herstellen. 3) Durch Mischung der äußersten Farben des Spektrums, also des Rot und des Violett, entsteht eine diesem selbst fehlende Farbe, der Purpur. 4) Alle Mischfarben des Spektrums lassen sich durch Vermischung zweier Farben desselben hervorrufen. Unter Mischung von Farben ist aber in allen diesen Fällen nicht die objektive Mischung von Pigmenten zu verstehen, wie sie der Maler auf der Palette vornimmt, sondern es handelt sich um eine Mischung von Empfindungsqualitäten, um eine subjektive Mischung, deren Ort die Netzhaut des Auges ist. Am besten geschieht diese vermittelst einer in schnelle Umdrehung versetzten Scheibe, die mit den betreffenden Farben in dem gewünschten Mischungsverhältnis überzogen ist (Farbenscheibe, Farbenkreisel). Alle Farben lassen sich somit auf drei Grundfarben zurückführen, ein Umstand, der für die Beantwortung der Frage, wie es komme, daß die Netzhaut so verschiedenartiger Erregung fähig ist, von großer Bedeutung ist. Alle Erscheinungen der Farbenempfindung werden nämlich verständlich, sobald man annimmt, daß in jedem Punkte der Netzhaut so viel verschiedene farbenempfindliche Nervenfasern enden, wie Grundfarben existieren, und daß jede dieser Nervenfasern nur durch eine ganz bestimmte Grundfarbe erregt werden kann. Man lehrt deshalb, es gebe drei verschiedene farbenperzipierende Elemente, nämlich rot empfindende, grün empfindende und violett empfindende, und jede Netzhautstelle enthalte eine Vielzahl von Nervenendigungen, deren jede durch eine bestimmte Grundfarbe allein oder doch hauptsächlich erregt werde, daß es somit nur drei Grundempfindungen gebe (Young-Helmholtzsche Farbentheorie). Die Rotempfindung würde danach durch die Erregung der rotempfindenden, die Grün- und Violettempfindung durch die Erregung der entsprechenden Elemente entstehen und die andern Farbenempfindungen dadurch zustande kommen, daß die betreffende Farbe zweierlei Nervenfasern erregte. Der Empfindung des Weiß entspräche eine gleich starke Erregung aller drei Fasergattungen.
Hering hat eine auf andern Prinzipien fußende Farbenhypothese aufgestellt. Auf den Unbefangenen machen nach Hering vier Farben den Eindruck des Einfachen, nämlich: Rot, Grün, Gelb und Blau; ferner erzeugen sowohl Weiß als Schwarz Empfindungen von durchaus einfachem Charakter. Diese sechs Grundempfindungen ordnen sich zu drei Paaren: Weiß und Schwarz, Grün und Rot, Gelb und Blau (Gegenfarben). Jedem der Paare entspricht eine besondere Sehsubstanz, die als schwarz-weiße, grünrote und gelb-blaue Sehsubstanz bezeichnet werden kann. Jede dieser Substanzen ist der Sitz zweier antagonistischer chemischer Prozesse, eines Zersetzungsprozesses (Dissimilation) und eines Regenerationsvorganges (Assimilation). In der schwarz-weißen Substanz entspricht der Dissimilierung die Empfindung des Weiß, der Assimilierung die des Schwarz. Verlaufen beide Prozesse gleichzeitig, so treten je nach der Intensität derselben die Übergänge zwischen reinem Weiß und reinem Schwarz, d. h. die verschiedenen Stufen des Grau, hervor. Für die zwei andern Substanzen läßt Hering es unentschieden, welche Empfindung der Dissimilierung, welche der Assimilierung entspricht.
Bei längerer Betrachtung eines farbigen Objekts verliert dessen Farbe allmählich ihre ursprüngliche Lebhaftigkeit. Richtet man dann das Auge auf eine weiße oder schwarze Fläche, so erscheint das Nachbild des Objekts in der zugehörigen Komplementärfarbe (komplementäres Nachbild oder sukzessiver Kontrast). Soz. B. erscheint das Nachbild eines roten Gegenstandes grünlichblau (Nachfarbe). Das erklärt sich sehr leicht mit Hilfe der Young-Helmholtzschen Theorie; durch fortgesetztes Betrachten von Rot ermüden die rot empfindenden Fasern, während der Erregungszustand der grün und violett empfindenden Fasern andauert und als Blaugrün zum Bewußtsein kommt. Indessen ist auch die Heringsche Theorie diesen Erscheinungen gegenüber nicht in Verlegenheit. Farbige Gegenstände können übrigens auch positive (identische) Nachbilder geben. Als simultanen Farbenkontrast bezeichnet man die Erscheinung, daß ein auf einer farbigen Fläche befindliches kleines graues oder weißes Objekt schon nach kurzer Betrachtung sich mit der Gegenfarbe (Komplementärfarbe) zu überziehen scheint. Legt man ein kleines Stück graues auf einen Bogen grünes Papier und bedeckt beide mit dünnem Seidenpapier, so erscheint das Grau in der Komplementärfarbe des Grün, nämlich in Rosenrot. Stellt man einen Bleistift senkrecht auf ein weißes Blatt und läßt von der einen Seite Sonnen-, von der andern Kerzenlicht einwirken, so entstehen zwei farbige Schatten, der eine durch das weiße Sonnen-, der andre durch das gelbe Kerzenlicht hervorgerufen. Der von der Sonne geworfene Schatten wird durch das gelbe Kerzenlicht beleuchtet und erscheint gelb, der von der Kerze geworfene Schatten wird durch das weiße Sonnenlicht beleuchtet, erscheint aber nicht weiß, sondern blau, er hat durch Kontrastwirkung die komplementäre Farbe der durch das Kerzenlicht beleuchteten Fläche angenommen. Hierhin gehört auch das rote Aussehen von Maulwurfshügeln auf grünen Wiesen.
Die Farbenblindheit (s.d.) erklärt sich durch das Fehlen gewisser Empfindungselemente oder einer der Sehsubstanzen in der Netzhaut. Im normalen Auge sind übrigens die peripherischen Teile der Netzhaut stets farbenblind, und Gegenstände, die sich auf ihnen abbilden, erscheinen grau.
Gesichtswahrnehmungen.
Die Gesichtsempfindungen führen zu Vorstellungen von der Existenz, Form, Lage, Helligkeit und Farbe äußerer Objekte (Gesichtswahrnehmungen). Alle durch Erregungen der Netzhaut hervorgerufenen Empfindungen werden von uns in den äußern Raum versetzt (objektiviert). Die Richtung eines fixierten Punktes verlegen wir in die verlängerte Sehlinie, die Richtung aller übrigen indirekt gesehenen Punkte in ihre Richtungslinien, beziehen also jeden Netzhauteindruck auf diejenige Stelle im Raum, von der die Lichtstrahlen ausgehen mußten, um die entsprechende Netzhautstelle zu treffen. Die verschiedenen vom Lichtreiz betroffenen Stellen der Retina unterscheiden wir vermittelst der Lokalzeichen, d. h. gewisser spezifischer Empfindungsunterschiede, die deren Erregung mit sich bringt.
Einfachsehen. Obwohl wir zwei Augen besitzen und auf jeder Netzhaut ein Bild des gesehenen Gegenstandes entworfen wird, sehen wir in der Regel die Objekte nicht doppelt, sondern einfach. Aber sobald wir eins der Augen durch Schielen oder durch Druck aus seiner normalen Stellung bringen, verdoppelt sich das Bild, und wir erblicken nunmehr zwei Objekte, trotzdem nur eins existiert. Die Ursache des Einfachsehens mit beiden Augen (binokulares Sehen) liegt darin, daß das Bild auf bestimmte zusammengehörige Teile einer jeden Netzhaut fällt, und daß unser Bewußtsein gelernt hat, die Empfindungen beider zu einer Vorstellung zu verschmelzen. Solche Punkte der beiden Netzhäute, deren gleichzeitige Erregung zu einer Vorstellung führt, nennt man identische Punkte. Solche identische Netzhautstellen sind vor allem die Mittelpunkte des gelben Fleckes, wo das schärfste Sehen stattfindet. Deshalb werden Gegenstände, die man mit beiden Augen fixiert, stets einfach gesehen. Die Lage der übrigen identischen Netzhautstellen bestimmt sich nach der Regel, daß sie von der Mitte der Netzhaut (dem gelben Fleck) in gleicher Richtung gleichweit abliegen. Es hat sich nun die wichtige Frage erhoben, ob die Identität gewisser Netzhautstellen angeboren und auf gewissen anatomischen Einrichtungen des Sehnervs begründet (nativistische oder Naturanlagetheorie) oder das Resultat der Gewohnheit, Erfahrung und Erziehung sei (empiristische oder Erfahrungstheorie). Zugunsten der letztern Ansicht hat sich namentlich Helmholtz ausgesprochen. Dieser sieht in der Verschmelzung zweier Netzhautreizungen zu einem Eindruck in unserm Bewußtsein nichts Angebornes, sondern etwas Erlerntes. Der Hauptvertreter der nativistischen Lehre ist Hering.
Den Inbegriff aller Punkte im Raum, die bei einer bestimmten Augenstellung einfach gesehen werden, bezeichnet man als den Horopter. Wegen der beschränkten Ausdehnung desselben fallen die Bilder zahlreicher Sehgegenstände auf nichtidentische Punkte. Es müssen deshalb neben dem einfachen Bild auch zahlreiche Doppelbilder vorhanden sein. Diese Doppelbilder pflegen wir zu vernachlässigen, weil die einfach gesehenen Objekte einen stärkern Eindruck hervorrufen als die andern und unsre Aufmerksamkeit sich hauptsächlich den einfachen Bildern zuwendet. Die Doppelbilder erkennt man daher nur, wenn man ihnen eine besondere Aufmerksamkeit schenkt.
Schätzung der Größe, Entfernung und Bewegung. Was die Größenwahrnehmung anbetrifft, so beruht unser Urteil über die relative Größe verschieden großer Objekte, die gleichweit von dem Auge entfernt sind, teils auf dem Bewußtwerden der verschiedenen Größe der Augenbewegungen, die erforderlich sind, um die verschiedenen Punkte ihres Umfanges zu fixieren, teils auf dem verschiedenen Umfang der von ihnen erregten Netzhautpartien (oder der Größe ihres Netzhautbildes), die wir direkt als verschiedene Größen im Gesichtsfeld empfinden. Da das Gesichtsfeld für unsre Vorstellung keine bestimmte Größe hat, so können wir die wahre Ausdehnung eines Gegenstandes nur durch Zuhilfenahme anderweitig, namentlich durch den Tastsinn, gewonnener Erfahrungen schätzen. Zur Wahrnehmung der Größe des Netzhautbildes muß dabei dann noch jedesmal eine Schätzung der Entfernung hinzukommen, da auch bei gleicher Größe des Sehobjekts mit zunehmender Entfernung desselben der Umfang des Netzhautbildes kleiner wird. Bei der Beurteilung der Entfernung der Objekte von unserm Auge kommen sehr verschiedenartige Faktoren in Betracht, weshalb auch ganz gewöhnlich Täuschungen aller Art mit unterlaufen. Hauptsächlich gründet sich unser Urteil über die Entfernung auf die scheinbare Größe der Gegenstände, d. h. auf den Sehwinkel, unter dem sie uns erscheinen. Ein weiteres Maß finden wir in dem Grade der Akkommodationsanspannung, deren wir benötigen, um ein scharfes Bild des Gegenstandes zu erhalten. Je stärker wir akkommodieren müssen, desto näher liegt das Objekt. Die Bewegung eines Objekts beurteilen wir bei unbewegtem Auge daraus, ob dasselbe seine Stellung im Gesichtsfeld wechselt, d. h. ob sein Netzhautbild auf der Netzhaut seine Lage verändert. Fixieren wir dagegen ein bewegtes Objekt fortgesetzt, und folgen wir ihm mit unserm Auge, so ändert zwar das Netzhautbild seine Lage nicht, aber wir schließen aus der Größe und Schnelligkeit der von uns zum Zweck der fortgesetzten Fixation ausgeführten Bewegungen des Auges, bez. des Kopfes und des ganzen Körpers auf die Geschwindigkeit des Objekts.
Körperliches Sehen. Da die beiden Augen eine etwas verschiedene Lage einnehmen, so betrachten wir die Außenwelt gewissermaßen von zwei verschiedenen Standpunkten aus.
Es entspricht z. B., wenn wir eine abgestumpfte Pyramide (Fig. 4 A) vor uns sehen, das in das rechte Auge fallende Bild derselben der Figur R, das in das linke fallende der Figur L. Diese verschiedenen perspektivischen Bilder werden nun in der Vorstellung zu Einem Bilde vereinigt, in dem wir neben den zwei Dimensionen der Länge und Breite auch die dritte Dimension, die Tiefe, wahrnehmen. Die besonders in der Kindheit durch Vermittelung des Tastsinnes gewonnene Erfahrung hat uns nämlich gelehrt, daß nur von solchen Objekten, die eine Ausdehnung nach drei Dimensionen haben, also nur von körperlichen Objekten die beiden Augen perspektivisch verschiedene Bilder empfangen. Später geschieht der Schluß auf die Körperlichkeit des Objekts (plastisches Sehen) zwangsmäßig und unbewußt. S. auch Stereoskop. Manche nehmen an, daß die Fähigkeit des Körperlichsehens eine angeborne sei; sie führen dieselbe auf eine eigentümliche Einrichtung der die Gesichtswahrnehmungen vermittelnden Abschnitte des Großhirns zurück. Gegen diese Anschauung sprechen die Erfahrungen an Blindgebornen, die erst im reifern Alter ihr Sehvermögen erhielten. Bei ihnen ist die räumliche Wahrnehmung und damit auch die Wahrnehmung der Körperlichkeit äußerer Gegenstände so lange äußerst unsicher, bis sie die notwendigen Erfahrungen gesammelt haben.
Sehschärfe. Da sich das Bild auf der Netzhaut mosaikartig aus kleinen Punkten zusammensetzt, so ist die Genauigkeit der Wahrnehmung von der Fähigkeit abhängig, sehr nahe beieinander liegende Punkte voneinander zu unterscheiden. Diese Fähigkeit bezeichnet man als Sehschärfe. Nun steht es fest, daß wir die Eindrücke von zwei nebeneinander liegenden Elementen der Netzhaut (Zapfen) nicht zu unterscheiden vermögen, daß diese vielmehr zu Einer Wahrnehmung verschmelzen. Sollen deshalb zwei Lichtempfindungen auf räumlich getrennte Objekte als Ursachen bezogen werden, so muß mindestens ein ruhendes Element der Netzhaut zwischen den beiden gereizten liegen. Experimentell konnte man feststellen, daß der Dickendurchmesser eines einzelnen Zapfens tatsächlich annähernd mit der Sehschärfe der Netzhautmitte übereinstimmt. Die peripherischen Teile der Netzhaut besitzen eine um so geringere Sehschärfe, je weiter sie von der Netzhautgrube entfernt sind. Ein einzelnes Objekt braucht natürlich nicht die ganze Breite eines Zapfens einzunehmen, um wahrgenommen zu werden, vorausgesetzt, daß es genügende Lichtstärke besitzt. Einen Bezirk der Netzhaut, innerhalb dessen verschiedene Lichtkreise zu einem einheitlichen Eindruck verschmolzen werden, nennt man einen Empfindungskreis. Die Empfindungskreise der Netzhautmitte sind am kleinsten. Daher sehen wir mit ihr am schärfsten (s. oben).
Sehen der Tiere.
Die Sehorgane sind in dem Tierreich auf den tiefsten Stufen kaum angedeutet. Man wird zweifeln können, ob hier auch nur quantitative Verschiedenheiten des Lichtes (hell und dunkel) empfunden werden. Die sogen. Augenflecke niederer Tiere, denen man diese Funktion gern zuschreibt, sind durch ihren Pigmentgehalt vielleicht befähigt, Lichtstrahlen zu absorbieren und auf nahegelegene Empfindungsnerven wirken zu lassen. Vielleicht dienen sie aber auch nur der Wärmeempfindung. Durch geeignete Anordnung des Pigments tritt das Licht in bestimmter Richtung ein, wovon das Tier eine Empfindung erhält (Richtungsaugen). Über die höher entwickelten Augen s. Auge. Der Akkommodationsmechanismus ist bei den meisten Wirbeltieren dem des Menschen analog. Das Auge im Wasser lebender Tiere (der Fische und ebenso auch der Tintenschnecken oder Cephalopoden) ist dagegen im Ruhezustand für die Nähe eingestellt und bedarf der Akkommodation, um ferne Objekte zu sehen; dies wird nicht durch eine Formveränderung, sondern durch eine Verschiebung der Kristallinse erreicht.
Vgl. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik (2. Aufl., Hamb. 1886–96); Aubert, Physiologie der Netzhaut (Bresl. 1864) und Physiologische Optik (in Gräfe-Sämisch' »Handbuch der Augenheilkunde«, Leipz. 1874); Bernstein, Die fünf Sinne des Menschen (2. Aufl., das. 1889); Classen, Zur Physiologie des Gesichtssinns (Braunschw. 1876); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (5. Aufl., Leipz. 1902, 2 Bde.); Hering, Zur Lehre vom Lichtsinn (Wien 1878); Fick (»Dioptrik und Lichtempfindungen«), Kühne (»Chemische Vorgänge in der Netzhaut«), Hering (»Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges«) in Hermanns »Handbuch der Physiologie«, Bd. 3 (Leipz. 1879); G. Hirth, Das plastische Sehen als Rindenzwang (Münch. 1892); Kries, Abhandlungen zur Physiologie der Gesichtsempfindungen (Heft 1, Hamb. 1897; Heft 2, Leipz. 1902); Stilling, Psychologie der Gesichtsvorstellung nach Kants Theorie der Erfahrung (Wien 1901); Nagel, Der Lichtsinn augenloser Tiere (Jena 1896); Raehlmann, Über Farbensehen und Malerei (2. Aufl., Münch. 1902).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.