- Turnkunst
Turnkunst (Turnen; hierzu Textbeilage), die Kunst der Leibesübung (Gymnastik) in ihrer deutschen Entwickelungsform. Den Namen brachte der Turnvater Jahn auf, der das althochdeutsche turnan (drehen) als echt deutsches Grundwort zu turnieren ansah, während es nur ein Lehnwort aus dem griechisch lateinischen tornare (runden, drehen) ist. Die T. umfaßt die Gesamtheit der bei uns einer geregelten Ausbildung des menschlichen Körpers um dieser selbst willen dienenden Leibesübungen, bietet so auch die Grundlage für die bestimmten Zwecken dienenden leiblichen Fertigkeiten, wie z. B. für den Tanz und die militärischen Bewegungsformen, für Fechten und Reiten, schließt aber solche nicht schon in. sich. Sie ist somit als allgemein vorbildend ein wesentlicher Teil der Erziehung und eine Pflicht der letztern insofern, als ihr die Ausbildung der menschlichen Kräfte zu harmonischer Zusammenwirkung obliegt. Hierdurch unterscheidet sie sich von der die leibliche Kraft und Gewandtheit ausschließlich oder berufsmäßig ausbildenden Athletik wie von dem nur einzelne Fertigkeiten pflegenden Sporte. Die T. hat mit ihrem Einfluß auf die Verrichtungen der Leibesorgane eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit, indem sie sowohl durch Bewegung, Kräftigung und Abhärtung Krankheit verhütet als eingetretenen Störungen des Organismus entgegenwirkt. Das Turnwesen bildet somit einen wichtigen Teil der auf Volksgesundheitspflege gerichteten Bestrebungen. Da nun aber Leib und Geist in steter Wechselwirkung stehen, so wird die leibliche Ausbildung zur Pflicht nicht nur um des Leibes willen, sondern die T. kann und will auch an ihrem Teil geistige Frische und Rüstigkeit, Selbstvertrauen in die Leibeskräfte, männliche Wehrhaftigkeit, sittliche Beherrschung des Leibes mit fördern helfen. Auf den Namen einer Kunst hat die T. nur in beschränkter Weise, aber insofern Anspruch, als sie, wie die Baukunst und andres Kunsthandwerk, bei der Ausführung ihrer einem praktischen Zwecke dienenden Übungen nach Schönheit der Form strebt. Vielfach folgt auch die Übungserfindung einem dem freien künstlerischen Schaffen verwandten Triebe; insbes. werden manche reigenartige Gebilde in den Ordnungsübungen, gewissen Formen der Tanzkunst verwandt, oder Übungsfolgen an den Geräten nur um der Gestaltung wohlgefälliger Formen willen geschaffen. Für den Zusammenhang der T. mit geistigen Bestrebungen ist bezeichnend, daß, wie die griechische Gymnastik sich bei dem geistig am höchsten und vielseitigsten entwickelten Volke des Altertums findet, so auch die T. einer Zeit voll höchster geistiger Regsamkeit und begeisterten patriotischen Aufschwungs ihren Anstoß verdankt, und daß auch ihre weitern Schicksale mit den Wandlungen unsers nationalen Geisteslebens engen Zusammenhang zeigen.
[Geschichte.] Das Leben setzt in jeder Form ein gewisses Maß leiblicher Fertigkeit und Übung voraus, und wenn man von mönchisch-asketischen, auf Ertötung des Leiblich-Sinnlichen gerichteten Bestrebungen absieht, konnte der Nutzen leiblicher Kraft und Gewandtheit kaum irgendwo verkannt werden; vielmehr hat sich die Lust an leiblicher Regung, in welcher Form es auch sei, noch zu allen Zeiten geltend gemacht. Daher finden sich auch in Deutschland seit der Zeit des Mittelalters, wo die Bewegungslust mit dem Waffenhandwerk den Bund zu ritterlichem Kampf- und Turnierwesen eingegangen war, mannigfache Leibesübungen in den verschiedenen Kreisen unsers Volkslebens, an die dann die T. vielfach nur anzuknüpfen brauchte (vgl. Gymnastik); so einmal als eine Art Nachklang jener ritterlichen Zeit die Fechtkünste und das Voltigieren (s. d.) am lebenden oder am nachgebildeten Pferd, wie besonders an Universitäten und adligen Schulen; ferner die mehr allgemein als Jugendspiele oder gelegentliche Volksbelustigungen auftretenden Ballspiele (s. d.), das Ringen (s. d.), Wettlaufen, Klettern u. a.; endlich besondere Fertigkeiten, wie Schwimmen, Schlittschuhlaufen und die mancherlei Schießübungen mit Armbrust und Feuergewehr. Der Leibesausbildung um ihrer selbst willen redeten zuerst wieder Vertreter der in der Zeit vor der Reformation erwachenden humanistischen Studien das Wort, die ja auch hierin auf das Vorbild des klassischen Altertums hinweisen konnten. Vgl. Rossow, Italienische und deutsche Humanisten und ihre Stellung zu den Leibesübungen (Leipz. 1903). Ein Zeugnis solcher Bestrebungen ist das Buch des italienischen Arztes Hieron. Mercurialis: »De arte gymnastica« (2. Aufl. 1573). Daß man seitdem besonders um der Erziehung. willen Leibesübungen befürwortete, ihre Vernachlässigung beklagte, hier und da auch zu einem Versuch leiblicher Schulung Hand anlegte, dafür sind Aussprüche und Lehren von Männern wie Luther, Zwingli, Camerarius und Comenius am bezeichnendsten. Auch von seiten der realistischen philosophischen Betrachtung kam man wegen der Wirkung des Sinnlichen auf das Geistige zu der Forderung einer geregelten Leibeserziehung, wie besonders Locke in seinen »Gedanken über Erziehung« (1693) als höchstes Ziel der Erziehung den gesunden Geist im gesunden Körper hinstellte. Mit noch größerm Nachdruck und weit allgemeinerer Wirkung besonders auf das deutsche Erziehungswesen erhob dieselbe Forderung J. J. Rousseau (s. d.) in seinem epochemachenden Erziehungsroman »Émile« (1762), der ein Ideal naturgemäßer Erziehung geben sollte gegenüber der unnatürlich künstelnden Erziehung seiner Zeit. Zum Teil unter dem Eindruck Rousseauscher Ideen und selbst wieder weitern Kreisen Anregung gebend, machte in Deutschland Basedow in der 1774 zu Dessau ins Leben gerufenen, Philanthropin genannten Erziehungsanstalt auch zuerst den Versuch einer geregelten Leibesausbildung. Er wurde hierbei unterstützt von seinem Gehilfen Joh. Friedr. Simon und dem Schweizer Du Toit. Von hier übertrug solche Übungen Salzmann in die von ihm 1784 zu Schnepfenthal gegründete Erziehungsanstalt, in der die Leibesübungen seit 1786 mit größter Sorgfalt und nachhaltigster Wirkung J. Chr. Guts Muths (s. d.) leitete. Diesem gebührt außerdem das große Verdienst, in seiner zuerst 1793 erschienenen »Gymnastik für die Jugend« öffentlich nicht nur als ein begeisterter Fürsprecher der Leibesübungen aufgetreten zu sein, sondern auch besonders den von ihm in emsigem Nachforschen und Prüfen stark erweiterten und geordneten Übungsstoff weitern Kreisen erschlossen zu haben. Zu gleicher Zeit gab G. U. A. Vieth in Dessau (1763–1836) in seinem »Versuch einer Enzyklopädie der Leibesübungen« (Teil 1 u. 2, 1794–95; Teil 3 mit Nachträgen, 1818) sowohl eine Übersicht der Leibesübungen vieler Völker aus alter und neuer Zeit als auch den ersten Versuch einer systematischen Einteilung der Leibesübungen. Auch Pestalozzi stellte sich seit 1807 in der Schweiz die Aufgabe, Leibesübungen nach einem der Bewegungsfähigkeit der Körperteile folgenden systematischen Plan zu erfinden und zu üben. Der sogen. Tugendbund (s. d.) machte 1809 den ersten Versuch mit Einrichtung eines öffentlichen Turnplatzes in Braunsberg, wo die Leibesübungen auch in dem 1811 errichteten Normalinstitut (Seminar) besondere Pflege fanden. Während aber die bisher angegebenen Anregungen nur zu ganz vereinzelter Einführung der Leibesübungen und meist in geschlossenen Erziehungsanstalten geführt hatten, war es das Verdienst von F. L. Jahn (s. d.), mit dem nach Deutschlands tiefer Erniedrigung in den Napoleonischen Kriegen zumal in Preußen erwachenden ernsten Streben nach einer Wiedergeburt unsers Volks- und Staatslebens und unsrer Wehrkraft, wie es sich besonders in Arndts »Geist der Zeit«, in Fichtes »Reden an die deutsche Nation«, in Jahns »Volkstum«, in Steins Reformen und in den Gneisenau-Scharnhorstschen Plänen zur Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht zeigte, den lauten Ruf nach einer »volkstümlichen« Leibeskunst zu verbinden und mit Einsetzung seiner ganzen kraftvollen, jugendliche Begeisterung weckenden Persönlichkeit in Berlin dieser »T.« die erste öffentliche Stätte zu bereiten. Im Frühjahr 1811 wurde von ihm der Turnplatz in der Hasenheide bei Berlin eröffnet, von dem aus durch seine Schüler die Keime einer wirklich jugendfrischen, die Knaben in ihrer Vollkraft packenden Leibeskunst bald auch nach andern Orten Deutschlands, insbes. an die Hochschulen Halle, Jena und Breslau, verpflanzt wurden. Nachdem das Treiben auf dem Turnplatz natürlich durch die Unruhe der folgenden Kriegsjahre beschränkt worden, auch manche der eifrigsten Jünger der Turnsache, wie besonders Friedr. Friesen (s. d.), im Felde geblieben waren, wurde die Sache mit erneutem Eifer und größerer Vertiefung und Sichtung des Übungsstoffes wieder aufgegriffen. Diesen durch Einführung von reicher Ausnutzung fähigen Geräten, wie des Recks und des Barrens, erweitert und über das Gebiet der einfachen volksüblichen Übungen noch mehr erhoben zu haben, ist neben seiner Sorge für die sprachliche Bezeichnung (s. unten) Jahns technisches Verdienst um die T. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind von ihm in der 1816 mit seinem Schüler E. Eiselen zusammen herausgegebenen »Deutschen T.« niedergelegt. Die in dieser Zeit im Gegensatz zu der erwarteten freiheitlichen Gestaltung unsers Staatslebens eintretende Reaktion glaubte natürlich gegen die mit freiheitlichen und nationalen Ideen erfüllten, dazu allerdings hier und da auch ungebundenes und ungeschlachtes, renommistisches Wesen zur Schau tragenden Jahnschen Turnerscharen besonderes Mißtrauen hegen zu müssen. Die Schattenseiten des turnerischen Treibens und das unreife Gebaren von Mitgliedern der mit der Turnerei enge Fühlung unterhaltenden Burschenschaften auf dem Wartburgfest (18. Okt. 1817) veranlaßten zunächst die literarische Breslauer Turnfehde, die besonders durch Heinrich Steffens (s. d.) und K. A. Menzel auf gegnerischer Seite, auf turnerischer geführt ward von Franz Passow, Chr. W. Harnisch (s. d.) und dem Hauptmann W. v. Schmeling, dem Verfasser von »Die Landwehr, gegründet auf die T.« (Berl. 1819). Nach Kotzebues Ermordung durch den Burschenschafter und Turner Sand (1819) folgte die Schließung sämtlicher (über 80) preußischer, bald auch der meisten andern deutschen Turnplätze und Jahns Verhaftung. Nun wurde zwar auch während dieser Zeit der sogen. Turnsperre an nicht wenigen Orten fortgeturnt, und namentlich hatte Ernst Eiselen (s. d. 2) Verdienste um die dauernde Pflege und innere Weiterbildung der T., desgleichen Klumpp in Stuttgart, H. F. Maßmann (s. d.) in München, O. L. Heubner (s. d. 1) im sächsischen Vogtland, Aug. Ravenstein (1809–81) in Frankfurt a. M. Der eigentliche Lebensnerv war aber der Sache durch den Ausschluß der Öffentlichkeit und Jahns erzwungene Fernhaltung unterbunden. Erst der durch Ignaz Lorinsers (s. d.) Schrift »Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen« (Berl. 1836) hervorgerufene Schulstreit über die körperliche Schädigung der Jugend durch den Schulunterricht, ferner die Erweckung des deutschen Nationalgefühls durch die französischen Rheingrenzgelüste im Jahre 1840 und der gleichzeitige Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. brachten für die Turnsache wieder bessere Zeiten; durch die Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurden die Leibesübungen als ein »notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung« anerkannt und 1843 Maßmann zur Einrichtung des Turnunterrichts im preußischen Staate nach Berlin berufen. Während dieser jedoch an die Überlieferungen des Jahnschen, eine gemeinsame Beteiligung von jung und alt auf den Turnplätzen voraussetzenden, also Schul- und Vereinsturnen noch nicht scheidenden Turnbetriebs enger anknüpfte, als es sich mit der Aufgabe einer allgemeinen Einführung des Turnens an den Schulen vertrug, war mittlerweile durch Adolf Spieß (s. d.), der die Gebiete der Frei- und Ordnungsübungen erschlossen, den turnerischen Übungsstoff systematisch gegliedert und mit Rücksicht auf das Schulturnen beider Geschlechter reich entwickelt hatte, der T. die nötige Ergänzung zuteil geworden, um als Schulunterrichtsfach allgemein zur Einführung gelangen zu können. – Über Turnunterricht und Turnvereine in Deutschland und im Ausland s. die Textbeilage.
Turngeräte, Übungsgebiet, Betriebsweise.
Während die hellenische Gymnastik (s. d.) zu ihren Übungen außer dem Diskus, dem Wurfspeer, den Halteren und Bällen fast kein Gerät brauchte, sehen wir die neuere Kunst der Leibesübung von vornherein darauf bedacht, für ihre Übungen, die nicht nur im Wettkampf gipfeln, sondern planmäßig den Leib schulen und auch su geschlossenen Räumen betrieben werden sollen, Geräte in ihren Dienst zu nehmen oder zu erfinden. So wurde das Springen und Schwingen (Voltigieren, s. d.) am künstlichen Pferd (s. d.) schon von Basedow (im Anschluß an den Reitunterricht der Zöglinge) und dann auch von Guts Muths und Jahn aus den Fechtböden und Reitschulen herübergenommen; Basedow verwendete außerdem den Schwebebalken (Balancierbalken), einen Springel zur Messung von Hochsprüngen, Stangen zum Springen, Sandsäcke zur Belastung u. a. Bei Guts Muths finden wir auch Vorrichtungen zu Weit- und Tiefsprung und ferner vor allem ein Gerüst mit Mastbaum, Leitern, Strickleitern, Kletterstangen, einen schräg ansteigenden Querbalken und Seile zum Ziehen, Schwingen und Springen u. a. Die der vielseitigsten Verwendung fähigen Geräte Reck und Barren und außerdem den Pfahl zum Gerwerfen fügte Jahn hinzu. Bei Clias findet sich um dieselbe Zeit (1816) auch der Triangel (Trapez, Schaukelreck) und ein Klettertau mit Sprossen in großen Abständen. Bei Eiselen begegnen uns zuerst der Bock (Springbock), die Streckschaukel (die sogen. römischen Ringe), der Rundlauf, das Sturmlaufbrett, die wagerechte Leiter, die Wippe und die wohl schon von Jahn eingeführten Hanteln. Den schon von Eiselen benutzten kurzen Stab (Windestab) verwendete als Eisenstab (Wurfstab) besonders Jäger. Lion verwendete zuerst den kurzen und den dreiholmigen Barren und Gerätverbindungen, wie das Kreuzreck, das Doppelreck (mit zwei Stangen untereinander), den hohen Barren (mit zwei Stangen nebeneinander). Waßmannsdorff erfand die Handstützen, die sich besonders in Italien eingebürgert haben. Das Schwingen hölzerner Keulen ist um 1880 aus England herübergekommen. Die Militärgymnastik führte an Stelle des Recks den Querbaum ein, an Stelle des Pferdes den Sprungkasten oder Tisch (s. d., S. 571), der 1881 abgeschafft, aber 1897 wieder eingeführt wurde, und die Hindernisbahn mit dem Steigegerüst. Über den seit Jahn vielfach vervollkommten Bau der Turngeräte und die Einrichtung von Turnräumen vgl. Lion, Werkzeichnungen von Turngeräten (3. Aufl., Hof 1883); Euler und Kluge, Turngeräte und Turneinrichtungen (Berl. 1872); W. Angerstein, Anleitung zur Einrichtung von Turnanstalten (das. 1863); Kregenow und Samel, Gerätkunde für Turnlehrer und Turnvereine (das. 1905); Supply, Turngerätkunde (Stettin 1907); Goetz und Rühl, Anleitung für den Bau und die Einrichtung deutscher Turnhallen (Leipz. 1897); Lindheimer, Turnanstalten, im »Handbuch der Architektur«, 4. Teil, 1. Heft (2. Aufl., Stuttg. 1903).
Das Übungsgebiet der T. umfaßt Übungen ohne Geräte und Übungen mit oder an solchen. Die erstern beschränken sich auf die Ausnutzung der Bewegungsfähigkeit des Leibes in sich oder mit andern Übenden, im erstern Fall als sogen. Freiübungen (s. d.) die einfachen oder miteinander verbundenen Gliederbewegungen im Stehen, Gehen, Laufen, Hüpfen und Springen umfassend, im letztern Fall Ordnungsübungen (s. d.) genannt, welche die Aufstellungen, Gliederungen und Bewegungen einer Mehrzahl von Übenden lehren und sich mit den militärischen (taktischen) Formen des Exerzierens oder denen des Tanzes berühren. Beide, insbes. die letztern, können ihres rhythmischen Gehalts wegen mit Gesang oder Musikbegleitung in Verbindung treten. Hier reihen sich dann die Bewegungsspiele an, welche die T. von jeher mit in ihren Bereich gezogen hat (vgl. Spiel), ferner das Ringen (s. d.) und Boxen und auch die Turnfahrten genannten Dauermärsche. Die Gerätübungen sind einmal solche, bei denen das Gerät selbst bewegt wird, also die Übungen mit Hanteln (s. d.), Stäben (s. Stabübungen), Keulen (s. d.) u. dgl., das Ziehen und Schieben, das Werfen von Kugeln, Steinen, Stangen (Gerwerfen), Scheiben (vgl. Diskos) und Bällen, endlich verschiedene Arten des Fechtens. Die andern Gerätübungen gliedern sich nach der Art der an ihnen vollzogenen Leibesbewegungen in die sogen. Turnarten des Schwebens auf beschränkter (Schwebepfähle, Schwebebaum, Kante) oder beweglicher Unterlage (z. B. Stelzen, Schaukeldiele), des Springens (Springbrett, Schwungbrett, Sturmspringel, Springen im Reisen und im Seil), des Stützens auf den obern Gliedern (besonders am Barren, Reck und Pferd), des Hangens (Leiter, Ringe, Rundlauf, Reck). Aus abwechselndem Hangen der obern und Stemmen der untern Glieder bildet sich das Klettern (Kletterstange, -Mast und -Seil); das mit vorübergehendem Stützen verbundene Springen ergibt die Übungen des gemischten Sprunges (besonders am Bock, Pferd, Tisch, doch auch am Reck und Barren, dazu auch das Stangenspringen). Die Verbindung von Hangen und Stützen in Form von Auf- und Umschwüngen erlaubt am ausgiebigsten das Reck (vgl. Schaukelgeräte). – Volkstümliche Übungen heißen solche, die schon vor dem Aufkommen des plan- und schulmäßigen Betriebs des Turnens im Volke gepflegt worden sind und auch neben ihm noch zu Spiel oder Wettkampf gepflegt werden. Es sind besonders das Laufen, Springen, Stangenspringen, Steinstoßen, Gerwerfen, Gewichtheben und Stemmen, Klettern, Ringen. Auch manche Tänze und Spiele sind verwandter Art. In einzelnen Gegenden und Ländern sind besondere Übungen dieser Art in Brauch, soz. B. das Eisschießen im Pinzgau (s. Eisspiele), das Hammerwerfen in England. Viele dieser volkstümlichen Übungen sind von der T. in ihren Bereich gezogen und besonders für die Zwecke des Wetturnens (s. d.) bestimmtern Regeln unterworfen worden. Vgl. Schnell, Die volkstümlichen Übungen des deutschen Turnens (Leipz. 1897); Gasch, Die volkstümlichen Wettübungen (das. 1906).
Die bis 1905 allgemeiner bekannt gewordenen Höchstleistungen in meßbaren turnerischen Übungen sind verzeichnet im Artikel »Leibesübungen«.
Daß das reiche Gebiet der Turnübungen auch eine angemessene sprachliche Bezeichnung gefunden hat, ist wesentlich das Verdienst des Turnvaters Jahn, den sowohl in Aufnahme von im Volksmund üblichen Worten für Übungen und Geräte als in freier Gestaltung von neuen Bezeichnungen ein sicherer Blick geleitet hat. Um die Entwickelung der Turnsprache hat sich dann besonders Waßmannsdorff (s. d.) Verdienste erworben.
Die Eigenart des deutschen Turnens andern Betriebsweisen der Leibesübungen gegenüber ist zu suchen einmal in der Vielseitigkeit des von ihm erschlossenen Übungsstoffes, aber doch unter Vorwalten des Turnens an den Geräten, insbes. den Hauptgeräten Reck, Barren, Pferd und Bock, und in dem durch stufenweises Fortschreiten geweckten Wagemut zu diesen Gerätübungen (vgl. Koch, Erziehung zum Mute, Berl. 1900); ferner in der Gemeinschaft des Übens, die dem Turnen, insbes. der Vereine, einen geselligen Charakter zu geben vermag; und endlich in der Gesinnung, die diese Übungen als eine vaterländische Sache angesehen wissen will.
Die Übungsauswahl und Betriebsweise richten sich natürlich sowohl nach dem Zweck, der die Übenden auf den Turnplatz geführt hat, als nach ihrem Alter und Geschlecht. Daher beim Turnen der Soldaten außer den Rücksichten auf die besondere Verwendung der einzelnen Waffengattungen (Übungen der Hindernisbahn) eine beschränktere Auswahl von der großen Masse erreichbaren Übungen in der straffen Übungsform militärischer Disziplin; beim Vereinsturnen, der freiwilligen Beteiligung und der Vereinigung der verschiedensten Altersklassen entsprechend, ein Zurücktreten der lehrhaften Form, größerer Einfluß der Bewegungs- und Leistungslust auf Auswahl und Ausführung der Übungen, also eine Bevorzugung des Kunstturnens an Geräten; dabei größere Freiheit sowohl für das Vortreten von Stammeseigentümlichkeiten als für individuelle Ausbildung. Das Schulturnen zeigt je nach der Art der Schule und dem Alter und der Menge der Übenden bald eine mehr spielartige Form des Betriebs, bald eine Annäherung an die straffe militärische Drillung, wie besonders in der Form der Gemeinübungen, wie sie die Schule von Maul (s. d.) auch taktmäßig an den Geräten pflegt, oder auch an die freiere Betriebsart der Vereine in Riegen unter Schülern als Vorturnern. Doch weicht die letztere Form wegen der für sie zu oft mangelnden Vorbedingungen mehr und mehr dem Turnen der geschlossenen Schulklassen unter einzelnen Lehrern. Das Mädchenturnen bevorzugt unter Beschränkung der Übungen an Geräten Frei- und Stabübungen, tanzähnliche Hüpfarten und reigenartige Ordnungsübungen. (Über Zimmergymnastik und Heilgymnastik s. d.) In allen diesen Betriebsformen hat das frühere, meist Übungen verschiedenster Art regellos durcheinander werfende Verfahren in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr dem auf der systematischen Gliederung des Turnstoffs fußenden, Gleichartiges zusammenstellenden, schwierigere Übungen stufenweise aus ihren Elementen entwickelnden sogen. Schuleturnen, bez. Gruppenturnen, Platz gemacht. – Angefochten wird die bis jetzt vorwiegende Betriebsweise neuerdings besonders wegen des Hinarbeitens auf zu künstliche und gefährliche Gerätübungen und wegen zu vielen Turnens in den Hallen; und zwar teils von außerhalb stehenden Pädagogen und Ärzten, wie dem italienischen Physiologen Mosso (s. d.), teils aus der Turnerschaft selbst von den Fürsprechern für Freiluftturnen, Jugendspiele und volkstümliche Übungen. Dies hat mehrfach auch zu einer Begünstigung des schwedischen Turnens, insbes. für das Turnen der Mädchen geführt, dessen größere Einfachheit aber offenkundig mit geringerer anregender Kraft verbunden ist. – Die wichtigste Literatur des Turnwesens s. Textbeilage.
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.