Turnkunst

Turnkunst

Bildungsanstalten. Unterricht. Für die weitere Entwickelung des Schulturnens und die methodische Verarbeitung des Übungsstoffes war nicht ohne Bedeutung die Gründung von Turnlehrerbildungsanstalten, wie der zu Dresden (1850) unter dem durch viele Turnschriften bekannt gewordenen Kloß (1818–81), 1882–1905 unter Bier, seitdem unter Frohberg, und der preußischen Zentralturnanstalt zu Berlin. Die letztere, die 1851–77 die Abteilungen für die Ausbildung von Militär- und Zivilturnlehrern vereinigte, suchte unter Rothsteins (s.d.) Oberleitung (bis 1863) die auf Lings (s.d.) System beruhende, sogen. schwedische Gymnastik zur Einführung zu bringen, die aber von seiten der deutschen Turnkunst entschieden und erfolgreich bekämpft wurde und auch mehr und mehr dem deutschen Turnen Platz machte, in der Zivilabteilung, die 1877 in eine selbständige Turnlehrerbildungsanstalt umgewandelt wurde, unter Karl Eulers (s.d.) und Ecklers Vermittelung. Für Württemberg besteht eine Turnlehrerbildungsanstalt seit 1862 in Stuttgart (bis 1890 unter Otto Jäger [s.d. 4], der ein eignes Turnsystem eingeführt hat, seitdem unter Keßler), für Baden seit 1869 in Karlsruhe unter Maul (s.d., gest. 12. Okt. 1907), für Bayern in München seit 1872 unter Weber (s.d.; bis 1. Okt. 1906), für Hessen seit 1895 in Darmstadt. Auch für Turnlehrerinnen bieten die meisten der gedachten Anstalten neuerdings entsprechende Ausbildungsgelegenheit. In einzelnen kleinern deutschen Staaten werden Turnlehrerausbildungskurse von Zeit zu Zeit durch geeignete Kräfte abgehalten; ebenso in mehreren preußischen Universitätsstädten._– Auch die Turnlehrerversammlungen, deren seit 1861 an verschiedenen Orten 16 stattgefunden, haben durch Vorträge, Verhandlungen und Vorführungen zur Förderung des Turnunterrichts und Klärung der für ihn geltenden Grundsätze beigetragen. Auch haben sich an vielen Orten und für mehrere deutsche Länder Turnlehrervereine gebildet. Ein deutscher Turnlehrerverein besteht seit 1893 und hatte 1907: 4657 Mitglieder.

Der Turnunterricht ist jetzt in Deutschland an den höhern Schulen und den Seminaren allgemein eingeführt, wenn auch noch mit recht ungleichen Erfolgen; auch für die Knabenvolksschulen ist er in den meisten Staaten, in Preußen seit 1862, in Baden seit 1868, in Sachsen seit 1873, in Württemberg seit 1883, in Bayern für die Kreise Mittel- und Unterfranken seit 1887 und 1879 und in vielen Städten gesetzlich zur Pflicht gemacht, läßt aber hier noch vieles, an den Landschulen vielerorts noch so gut wie alles zu wünschen übrig. Mit dem Turnunterricht an Mädchenschulen ist man bisher meist nur in Städten vorgegangen, wie das z.B. in Preußen seit 1905 auch für die Volksschulen angeordnet ist. In der Regel beschränkt sich die Einführung des Schulturnens auf zwei, seit 1891 in Preußen und andern Staaten auf drei wöchentliche Unterrichtsstunden, und selbst diese können wegen Mangels geeigneter Winterturnräume noch nicht überall das ganze Jahr hindurch fortgesetzt werden. Schulneubauten in Städten erhalten jetzt in der Regel eigne Schulturnhallen. Außer dem Schulturnen werden auch an nicht wenigen Orten noch Turnspiele gepflegt, besonders seit dem dahin gehenden Erlaß des preußischen Ministers v. Goßler vom Oktober 1882 und auch infolge der Bestrebungen des 1891 von v. Schenckendorff gegründeten Zentralausschusses zur Förderung der Jugend- und Volksspiele in Deutschland (vgl. Jugendspiele). Als Lehrvorschrift gilt für Preußen der ›Leitfaden für den Turnunterricht in den Preußischen Volksschulen‹ (Berl. 1895). Eine Übersicht über die Entwickelung des Turnunterrichts und seinen Stand um das Jahr 1870 gibt die ›Statistik des Schulturnens in Deutschland‹, hrsg. von J.K. Lion (Leipz. 1873). Eine 1904 vom Deutschen Turnlehrerverein in Angriff genommene, von Rossow bearbeitete neue Schulturnstatistik soll 1908 erscheinen. Vgl. Pawel, Kurzer Abriß der Entwickelungsgeschichte des deutschen Schulturnens (Hof 1885); Euler, Geschichte des Turnunterrichts (3. Aufl. von Rossow, Gotha 1907); ferner Euler und Eckler, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen das Turnwesen in Preußen betreffend (3. Aufl., Berl. 1902); Rud. Lion, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in Bayern betreffend (2. Aufl., Hof 1884); Geiger, Entwickelung der Turnkunst in Bayern (Leipz. 1893).

In der preußischen Armee wurde das Turnen durch die ›Instruktion für den Betrieb der Gymnastik und des Bajonettfechtens bei der Infanterie‹ von 1860 als den übrigen Dienstzweigen gleichberechtigt anerkannt und geregelt. An Stelle dieser seit 1871 für das ganze deutsche Heer maßgebenden Instruktion steht seit 1895 die ›Turnvorschrift für die Infanterie‹. Entsprechend ist an die Stelle der ›Instruktion für den Betrieb der Gymnastik bei den Truppen zu Pferde‹ vom Jahr 1869 die ›Turnvorschrift für die berittenen Truppen‹ vom Jahre 1898 getreten. Eine ›Vorschrift für das Turnen in der Marine‹ erschien 1890.

Vereine. Auch das Vereinsturnwesen hat seit den 1840er Jahren mehr und mehr an Boden gewonnen, am raschesten in Sachsen, am Mittelrhein und in Württemberg; es ist auch auf die Einführung des Jugendturnens wie auf die technische Gestaltung des Turnbetriebs von großem Einfluß gewesen. Besondere Anregung für die Vereinsbildung gab, nachdem auch hierin nach 1848 ein Rückschlag eingetreten war, der Aufschwung unsers Nationalgefühls im Jahr 1859; die deutschen Turnfeste zu Koburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) gaben unter steigender Beteiligung und Begeisterung dem neuerwachten turnerischen Leben Ausdruck und neue Anregung. Die Anzahl der Vereine war von kaum 100, die sich bis 1859 erhalten hatten, bis 1864 auf 1934 mit gegen 200,000 Angehörigen gestiegen. Die Kriege der nächstfolgenden Zeit wirkten auf die Vereinstätigkeit hemmend; doch hatte sich, während die Statistik von 1869 nur noch gegen 1550 Vereine aufwies, deren Anzahl schon 1876 wieder auf 1789 mit gegen 160,000 Mitglieder gehoben und ist seitdem allein innerhalb der deutschen Turnerschaft in stetigem Wachstum auf 7787 an 6513 Vereinsorten mit 808,525 Vereinsangehörigen über 14 Jahre (Zählung vom 1. Januar 1907) gestiegen. Von diesen nahmen an Turnübungen teil 383,616 unter 39,500 Vorturnern. Außerdem turnten in diesen Vereinen 39,765 Turnerinnen und 67,683 Kinder. Auch im Winter turnten 7243, eigne Turnplätze besitzen 1158, eigne Turnhallen 714 Vereine. (Vgl. die ›Statistischen Jahrbücher der Turnvereine Deutschlands‹ von G. Hirth [Leipz. 1863 und 1865], das dritte ›Statistische Jahrbuch‹ von Goetz und Böhme [das. 1871], das ›Handbuch der Deutschen Turnerschaft‹ [s. unten] und das ›Jahrbuch der Turnkunst‹ von Gasch [Leipz. 1907 u. 1908].) Die Deutsche Turnerschaft besteht seit 1868, nachdem die Vereine schon 1860 einen ständigen Ausschuß zur Regelung gemeinsamer Angelegenheiten eingesetzt hatten. Ihr Grundgesetz ist 1875 neu gestaltet und seitdem wiederholt verändert worden. Sie ist in 18 Kreise geteilt: Kreis I umfaßt den Nordosten, II Schlesien und Südposen, IIIa Pommern, IIIb die Mark, IIIc die Provinz Sachsen und Anhalt, IV den Norden, V Niederweser und Eins, VI Hannover, VII Oberweser, VIIIa Westfalen und Lippe, VIIIb Rheinland, IX Mittelrhein, X Oberrhein, XI Schwaben, XII Bayern ohne die Pfalz, XIII Thüringen, XIV das Königreich Sachsen, XV Deutsch-Österreich. Der letztgenannte Kreis XV umfaßt nur noch 50 Vereine mit 8880 Mitgliedern, die nicht auf den Boden der antisemitischen Bewegung getreten sind, während 525 Vereine mit 61,166 Mitgliedern im Jahre 1904 wegen Nichtbilligung dieser Bewegung durch die Deutsche Turnerschaft aus ihr ausgetreten sind und den selbständigen Turnkreis Deutsch-Österreich bilden (1907: 613 Vereine mit 70,000 Mitgliedern). Jeder dieser Kreise ist in sich besonders organisiert, in Gaue gegliedert und hat an seiner Spitze einen oder mehrere Kreisvertreter. Diese bilden mit fünf vom Turntag zu wählenden Mitgliedern den Ausschuß der Deutschen Turnerschaft. An dessen Spitze stand von 1861–87 Theodor Georgii (Rechtsanwalt in Eßlingen, geb. 9. Jan. 1826 daselbst und wohlverdient besonders um das schwäbische Turnwesen, gest. 25. Sept. 1892 in Wilhelmsdorf bei Ravensburg; vgl. seine ›Aufsätze und Gedichte‹, hrsg. von J.K. Lion, Hof 1885); ihm folgte A. Maul (s.d.) und 1895 Ferd. Goetz (s.d. 2), der sich schon seit 1861 als Geschäftsführer große Verdienste erworben hatte. Von den Abgeordneten der Deutschen Turnerschaft werden die in der Regel alle vier Jahre abgehaltenen Turntage gebildet. Die Turnfestordnung enthält insbes. die Bestimmungen der Wetturnordnung (s. Wetturnen). Weiteres über die Deutsche Turnerschaft s. Goetz und Rühl, Handbuch der Deutschen Turnerschaft (7. Ausg., Leipz. 1904). Verbandsblatt die ›Deutsche Turnzeitung‹. Das vierte deutsche Turnfest hat 1872 in Bonn stattgefunden, das fünfte 1880 in Frankfurt a.M., das sechste 1885 in Dresden, das siebente 1889 in München, das achte 1894 in Breslau, das neunte 1898 in Hamburg, das zehnte 1903 in Nürnberg, bei meist steigendem Besuch (1903: 30,000 Turner) und großen Fortschritten in den vorgeführten Leistungen.

Andre Turnverbände: a) Deutscher Turnerbund (antisemitisch), 1890 gegründet, 1907: 172 meist deutsch-österreichische Vereine mit 14,800 Mitgliedern. Zeitschrift: ›Deutscher Turnerhort‹ (Wien). b) Die jüdische Turnerschaft (seit 1903), 1906: 10 Vereine mit 1215 Mitgliedern. ›Jüdische Turnzeitung‹ (Charlottenburg). c) Der Arbeiterturnbund, 1892 gegründet und infolge seiner Begünstigung durch die Sozialdemokratie rasch gewachsen. 1907: 1335 Vereine mit 102,373 Mitgliedern. ›Arbeiterturnzeitung‹ (Leipzig). d) Polnischer Sokolverband im Deutschen Reich. 1906: 144 Vereine mit über 6000 Mitgliedern.

Akademische Turnvereine sind Studentenvereine, die das Turnen in den Vordergrund ihrer Bestrebungen stellen. Der erste (A.T.V.) ward 1860 in Berlin begründet und hatte die Gründung weiterer auf andern Universitäten zur Folge. Auf dem allgemeinen deutschen Turnfest in Bonn 1872 gründeten die Vereine von Berlin, Leipzig und Graz den Kartellverband akademischer Turnvereine, dem sich andre anschlossen. Auf dem ersten Turnfest des Verbandes 1882 in Sangerhausen waren bereits 12 Universitäten vertreten. Schon in den 1870er Jahren hatten mehrere Vereine die rein studentischen Bestrebungen mehr betont, als es ursprünglich der Fall war, und dies führte 1885 dazu, daß der Kartellverband sich nach seiner neuen gesetzgebenden Körperschaft Vertreterkonvent (V.C.) nannte. Die einzelnen Vereine nennen sich seitdem zum Unterschied von den nichtfarbentragenden Vereinen Turnerschaften. Der Verband zählt jetzt 44 Vereine mit rund 1100 studierenden Mitgliedern, die Farben (Couleur) tragen, eigne Waffen haben und unbedingte Satisfaktion geben. Der V.C. hält alljährlich zu Pfingsten ein Turnfest in Gotha ab. Sein Organ ist die seit 1883 in Leipzig 14täglich erscheinende ›Akademische Turnzeitung‹._– Ein Verein nichtfarbentragender akademischer Turner wurde Anfang der 1880er Jahre in Jena gegründet. Mit ihm vereinigten sich 1883 die Vereine in Freiburg, München und Aachen (Polytechnikum) sowie der älteste (Berliner) A.T.V. zum (nichtfarbentragenden) Akademischen Turnbund (A.T.B.). Dieser Bund erstreckt sich, ebenso wie der V.C., auch auf die technischen Hochschulen. Er zählte 1907 in 33 Vereinen 1381 Mitglieder und veranstaltet gleichfalls regelmäßige Turnfeste, die alljährlich im Orte des jeweilig vorsitzenden Vereins stattfinden.


II. Im Ausland.

Die Wiederbelebung der Gymnastik in der deutschen Turnkunst hat auch den meisten Kulturländern außerhalb Deutschlands zu geregelter Pflege der Leibesübungen die Anregung und vielfach auch den Stoff gegeben; insbesondere sind der Aufschwung des deutschen Vereins- und Schulturnens seit dem Jahre 1859 sowie Deutschlands Kriegserfolge in den darauffolgenden Jahren, vielfach auch die Gründung von Turnvereinen durch Deutsche im Ausland die Veranlassung gewesen, sich in Förderung und Betrieb von Leibesübungen mehr oder minder eng an das Vorbild des deutschen Turnens anzuschließen. Schon die Wirksamkeit von Guts Muths hat im Ausland kaum weniger Nachfolge gefunden als bei uns. So haben vor allem in Dänemark die Leibesübungen nach seinem Vorbild durch F. Nachtigall früh Eingang und seitdem in Schule und Heer Verbreitung gefunden, im Vereinsturnen erst seit 1861. Schon 1827 wurde hier Turnunterricht für alle Knabenschulen vorgeschrieben, ist aber mehr und mehr auch für Mädchen eingeführt und steht besonders an den höhern Schulen bei vier Wochenstunden in Blüte. Auch betreiben Vereine Gymnastik, von denen 23 mit 3000 Mitgliedern im Dansk Gymnastik Forbund vereinigt sind. Auf in Dänemark erhaltenen Anregungen fußend, hat in Schweden P.H. Ling (s.d.) ein eignes System der Gymnastik aufgestellt, das bei uns sogen. schwedische Turnen, aber im Gegensatz zu der aus lebendiger Praxis herausgewachsenen deutschen Turnkunst auf Grund von anatomischen und physiologischen Spekulationen. Es hat, abgesehen von seiner Verwendung als Heilgymnastik (s.d.), außer Schweden vorübergehend durch Rothstein (s.d. und oben) in Preußen Eingang gefunden und beeinflußt noch jetzt das deutsche Militärturnen und zum Teil das Turnen in Dänemark, Norwegen, Belgien und andern Ländern. An den Schulen Schwedens, wenigstens den höhern, werden jetzt die Leibesübungen, und zwar nicht mehr in der vollen Einseitigkeit des Lingschen Systems, in ausreichenderer Zeit gepflegt als in Deutschland; in geringerm Umfang aber durch Vereine (in Schweden 1906 etwa 25 mit 2200, in Norwegen etwa 125 mit 8500 Mitgliedern) betrieben.

Am unmittelbarsten ist mit der Entwickelung der deutschen Turnkunst das Turnwesen Österreichs und der Schweiz Hand in Hand gegangen. In den deutschen Ländern Österreichs, vor allen in Siebenbürgen, wurde das Turnen nach den Befreiungskriegen vereinzelt in Schulen und Vereinen gepflegt; das Mißtrauen der Behörden wich auch hier nach 1848 allmählich einer wohlwollenden Duldung, bis der Turnunterricht seit 1869 an allen Knabenvolksschulen, fast allgemein an den Realanstalten und etwa 50 (= 25 Proz.) Gymnasien gesetzlich eingeführt wurde (vgl. Hein, Das Schulturnwesen in Österreich, Wien 1891). Dies war auch hier wesentlich mit eine Folge großer Verbreitung und rühriger Tätigkeit der Turnvereine seit 1860. Über diese s. oben ›Vereine‹. Ein Verein österreichischer Turnlehrer besteht seit 1869. Lehrgänge zur Ausbildung von Turnlehrern werden in Wien, Graz, Prag und Lemberg abgehalten. In Ungarn haben besonders Bakody und der aus Hannover stammende Turnlehrer Bokelberg (1839–91) dem Turnen nach deutscher Art Boden gewonnen. Der Ungarische Turnbund zählte 1906: 51 Vereine mit 9000 Mitgliedern. In den tschechischen Ländern gab es 1907: 711 zu einem Bunde vereinigte Sokolvereine, außerdem andre Sokolbünde in andern slawischen Ländern Österreichs.

Das Turnwesen der Schweiz hat schon durch Wirken von Männern wie Spieß und Maul (s.d.) enge Fühlung mit dem deutschen behalten. Auch hier liegen die Keime der spätern Entwickelung, abgesehen von der Tätigkeit Pestalozzis und des durch Guts Muths angeregten Offiziers Phokion Heinrich Clias (Käslin; geb. 1782, gest. 1854), hauptsächlich im Vereinsturnen, besonders an den Hochschulen deutschen Stammes (Zofingervereine). Schon 1832 wurde ein Eidgenössischer Turnverein gebildet, der früher in die einzelnen Sektionen (Vereine) zerfiel, seit 1888 aber ein Bund der 21 kantonalen Turnverbände ist und 1907: 702 Vereine mit 57,683 Mitgliedern zählte. Er feierte früher alljährlich, seit 1873 alle zwei, seit 1888 alle drei Jahre das eidgenössische Turnfest, in dessen Wettkämpfe schon 1855 auch die in der Schweiz seit langem volkstümlichen Künste des Schwingens, Ringens (s.d.), Steinstoßens u.a. als sogen. Nationalturnen mit aufgenommen wurden, und das durch die Ausbildung des Vereinswetturnens auch Einfluß auf die Gestaltung der deutschen, zunächst süddeutschen Turnfeste gewonnen hat (vgl. Niggeler, Geschichte des Eidgenössischen Turnvereins, Bern 1882). Auch das Schulturnen der Schweiz ist infolge des Wirkens trefflicher Turnlehrer, wie Iselin, Niggeler, Jenny, dem deutschen entsprechend fortgeschritten. In einigen größern Städten gehen neben ihm noch die auf unmittelbare militärische Jugenderziehung abzielenden sogen. Kadettenkorps her (s. Jugendwehren); auf dem Land ist es vor allem um der Vorbildung für das Milizsystem willen nach der ›Turnschule für den militärischen Vorunterricht‹ zur Einführung gekommen. Seit 1905 werden die Rekruten beim Eintritt einer Prüfung in Leibesübungen unterworfen.

Aus der Schweiz wurde die Turnkunst, und zwar wesentlich auf Grund der Betriebsweise von Spieß, nach Italien, wo schon vorher Guts Muthssche Anregungen gefruchtet hatten, verpflanzt durch Rud. Obermann, der (geb. 1812 in Zürich, gest. 1869 in Turin) 1833 nach Turin berufen wurde zur Einführung der Gymnastik in das sardinische Heer, doch auch den Anstoß gab zu ihrer Verbreitung in Schulen und Vereinen, hierbei insbes. unterstützt durch den Graten Ernesto Ricardi di Netro. 1906 gab es 192 zu einem nationalen Turnerbund (gegründet 1888) vereinigte Vereine mit 20,175 Mitgliedern. Für die höhern Schulen wurde das Turnen 1862, für die Elementarschulen 1878 als Pflichtfach erklärt und kommt allmählich zur Durchführung. Seit 1863 gibt es eine Turnlehrerbildungsanstalt in Turin, seit 1888 in Rom, diese unter einem Schüler Obermanns, Emilio Baumann. In den Gymnasien Griechenlands ist teils gymnastischer, teils militärischer Unterricht durch Verfügungen von 1862 und 1882 und Gesetz von 1883 zur Einführung gekommen und in Athen eine Turnlehrerbildungsanstalt errichtet worden. Zur Hebung des Mädchenturnens hat der ›Verein der Griechinnen‹ mit Erfolg Turnlehrerinnen aus der Schweiz berufen. In Erneuerung der altgriechischen Kampfspiele sind hier nach Herstellung des panathenäischen Stadiums durch den Griechen Averof 1896 u. 1906 internationale, sogen. olympische Spiele abgehalten worden. In Belgien und Holland sind nach schwachen Anfängen in den 1830er Jahren seit 1860 sowohl zahlreiche Vereine entstanden mit einer der deutschen Turnkunst entlehnten Betriebsweise als auch ein entsprechendes Schulturnen. In Belgien umfaßte die Fédération belge de gymnastique 1907: 215 Vereine mit etwa 17,500 Angehörigen. Für die Verbreitung des Turnens in den Niederlanden waren besonders tätig Isenbaert, Happel und Cupérus in Antwerpen sowie Karl Euler der Ältere (s.d.). Die letztern traten auch dem in den belgischen Schulen eingeführten, dem schwedischen verwandten Turnsystem des Hauptmanns Docx entgegen. In Holland gab es 1907: 223 Vereine, die dem Nederlandsch Gymnastiek Verbond angehörten, mit 17,430 Mitgliedern. Hier sind auch Vereine für allerlei Sport stark vertreten. In England beherrscht der Sport noch so sehr das Feld mit der Pflege von angewandten Fertigkeiten, wie Rudern, Boxen, und von athletischen Übungen und Ballspielen, daß die allgemeine Gymnastik hier außer dem Heere, in das sie schon 1822–28 Clias (s. oben) einführte, und den von Deutschen gegründeten Vereinen noch nicht viel Boden gewonnen hat. Am meisten hat für sie der auch in Deutschland angeregte Schotte Archibald Maclaren (1821–84) getan, der erst in Oxford eine gymnastische Anstalt und dann 1861 in Aldershot, dem großen Lager, eine militärische Turnanstalt einrichtete. Auch bemühen sich die christlichen Jünglingsvereine und seit 1886 die National Physical Recreation Society durch Erbauung von Hallen und Gründung von Vereinen um Einführung geregelter Leibesübungen. Ein 1905 ausgearbeiteter und auf Anordnung des Königs dem Parlament mitgeteilter syllabus of physical exercises beschränkt sich auf Frei- und Ordnungsübungen. In Frankreich haben sich gymnastische Übungen, besonders durch die Tätigkeit des von Pestalozzi und Guts Muths angeregten Spaniers Amoros (1770–1848), in erster Linie in der Armee Eingang verschafft und sind auch seitdem hauptsächlich als ein wichtiger Zweig der militärischen Vorbildung in und außer demHeere gepflegt worden. Einen noch engern Anschluß der leiblichen Jugendbildung an das Heerwesen veranlaßten die Erfahrungen von 1870/71 in Form der Schülerbataillone, die aber auch hier mehr und mehr Gegner gefunden haben und einer allgemeinen Gymnastik gewichen sind. Seit 1880 ist der gymnastische Unterricht an sämtlichen Knabenschulen gesetzlich zur Pflicht gemacht. Die Militärturnschule in Joinville-le-Pont dient auch zur Bildung für Schulturnlehrer. Die von der deutschen Turnkunst eingeführten Geräte, wie Reck und Barren, sind auch hier in Benutzung. Vereine entstanden in geringer Zahl in den 1860er Jahren, in größerer seit 1871 und unter wirksamer Förderung durch die Regierung, so daß die Union fédérale des sociétés de gymnastique de France 1907: 1070 Vereine mit 300,000 Mitgliedern umfaßte. Auch nach Rußland ist das Turnen durch Deutsche verpflanzt worden, zuerst um 1825 nach den Ostseeprovinzen durch den verdienten Leiter der Erziehungsanstalt Birkenruh bei Wenden in Livland, A.W. Hollander (1796–1868), einen Schüler Jahns; später auch nach den Städten mit größern deutschen Kolonien, wie Petersburg, Moskau und Odessa. Aber auch das schwedische Turnen gewann Boden in Rußland, und die seit den 1860er Jahren eingeführte Militärgymnastik vermittelt zwischen beiden Turnweisen. Für die russischen Knabenschulen ist das Turnen zum Pflichtfach geworden durch Verordnungen von 1886 und 1889, doch fehlt es auch jetzt meist noch an ausreichend geschulten Lehrkräften und an Übungsräumen. In Spanien hatte die von Amoros (s. oben) 1800 in Madrid gegründete gymnastische Anstalt weder langen Bestand noch nachhaltigen Erfolg; auch die Bemühungen des Grafen Villalobos hatten um 1850 nur die Gründung einiger Anstalten zur Folge. Auch die 1886 durch die Regierung erfolgte Gründung einer Zentralschule für Turnlehrer und Lehrerinnen in Madrid und die 1898 nach der Niederlage im amerikanischen Kriege von Madrid aus gegebene Anregung zur Gründung eines spanischen Turnerbundes haben nur geringen Erfolg gehabt. Abgesehen von den höhern Militärakademien pflegt nur eine Anzahl von Mittelschulen geregelte Leibesübungen. Mehrere größere Städte haben öffentliche Turnplätze._– Eine Anzahl der genannten außerdeutschen gymnastischen Verbände haben sich 1897 zu den Fédérations Européennes de gymnastique unter dem Vorsitz von Cupérus in Antwerpen zusammengeschlossen.

Die Gründung von Turnvereinen in überseeischen Ländern ist in der Regel durch Deutsche erfolgt. Am ausgebreitetsten ist das Turnvereinswesen der Vereinigten Staaten, wohin zuerst Schüler Jahns, wie Karl Beck, Franz Lieber und Karl Follen (s.d.), die Turnkunst übertrugen. Die Gründung von Turnvereinen nach deutschem Muster erfolgte seit 1848 in wachsendem Umfang trotz der Anfeindungen des Puritanismus. Viele ihrer Mitglieder nahmen Anteil am Bürgerkrieg gegen die Sklavenstaaten. Nach verschiedenen frühern Verbänden bildete sich 1865 der Nordamerikanische Turnerbund, der 1907: 238 Vereine mit gegen 39,000 Mitgliedern umfaßte. Er gründete auch ein eignes Turnlehrerseminar, das am meisten unter dem um das deutsche Turnwesen in Amerika hochverdienten Georg Brosius (geb. 1839) blühte und 1891–1907 seinen festen Sitz in Milwaukee hatte, seitdem unter Kroh in Indianapolis. Eine größere Anzahl deutscher Turnvereine steht außerhalb dieses Bundes; außerdem bestehen auch hier die Turnsektionen der ›Vereinigung christlicher junger Männer‹ und schweizerische, skandinavische und böhmische Turnvereine. Das eigentliche Amerikanertum neigt mehr dem sportmäßigen Betrieb der Leibesübungen in den Athletic Clubs zu, die in allen größern Städten blühen (vgl. Leibesübungen). Die Universitäten besitzen meist vorragend ausgestattete Anstalten für Leibesübungen.


Literatur.

Eine Zusammenstellung des ganzen einschlägigen Stoffes bietet: Euler, Enzyklopädisches Handbuch des gesamten Turnwesens und der verwandten Gebiete (Wien u. Leipz. 1894–96, 3Bde.). Aus der übrigen, schon stark angewachsenen Literatur des Turnwesens sind außer den oben und in den betreffenden Artikeln aufgeführten Werken von Spieß, Waßmannsdorff, Jäger, Lion, Angerstein, Euler, Maul, G.H. Weber und F.A. Schmidt noch zu erwähnen:

a) Allgemeines: G. Hirth, Das gesamte Turnwesen (Leipz. 1865; 2. erweiterte Aufl. in 4 Abtlgn. und mit einer geschichtlichen Einleitung [Ergänzungsband], besorgt von Rud. Gasch, Hof 1893–95, eine Sammlung von 182 Aufsätzen verschiedener Verfasser); F.A. Lange, Die Leibesübungen (Gotha 1863); Striegler, Das deutsche Turnen in seinem ganzen Umfange (Leipz. 1905, in Reclams Universal-Bibliothek).

b) Für die Übungslehre: Deutsche Volksturnbücher, herausg. von Gasch (Leipz., bis 1907: 39 Hefte); A. Ravenstein, Volksturnbuch (4. Aufl. von Böttcher, Frankf. 1894); Puritz, Merkbüchlein für Vorturner (13. Aufl., Hannov. 1905; auch ins Französische, Englische und Holländische übersetzt) und Handbüchlein turnerischer Ordnungs-, Frei-, Hantel- und Stabübungen (5. Aufl., Hof 1904); Möller, Der Vorturner (2. Aufl., Leipz. 1904); Frohberg, Handbuch für Turnlehrer und Vorturner (1. Teil, 9. Aufl.; 2. Teil, 11. Aufl., das. 1905 u. 1907); Schützer, Die Turnerin (Hof 1901); Heeger, Turnen der weiblichen Jugend (3. Aufl., Leipz. 1899).

c) Für das Schulturnen: Zettler, Methodik des Turnunterrichts (3. Aufl., Berl. 1903); Wickenhagen, Turnen und Jugendspiele (Münch. 1898); Niggeler, Turnschule für Knaben und Mädchen (2 Tle.; 8. u. 5. Aufl., Zürich 1888 u. 1877); F. Marx, Das Knabenturnen in der Volksschule (5. Aufl., Bensh. 1897) und Das Mädchenturnen in der Schule (das. 1889–90, 2 Tle.); Hausmann, Das Turnen in der Volksschule (4. Aufl., Weim. 1882); Stöckl, Das Schulturnen (Graz 1885); Schurig, Hilfsbuch für das Gerätturnen in der Volksschule (Hof 1883); Schröer, Methodik des Turnunterrichts (Leipz. 1904); Böttcher und Kunath, Lehrgang für das Mädchenturnen (3. Aufl., Hannov. 1906).

d) Verschiedenes: Kohlrausch, Physik des Turnens (Hof 1887); Zander, Die Leibesübungen und ihre Bedeutung für die Gesundheit (Leipz. 1900); Dornblüth, Hygiene des Turnens (Berl. 1897); Broesike, Der menschliche Körper mit besonderer Berücksichtigung des Turnens (das. 1894); Bach und Fleischmann, Wanderungen, Turnfahrten und Schülerreisen (2. Aufl., Leipz. 1885–87, 2 Tle.).

e) Geschichtliches: Iselin, Geschichte der Leibesübungen (Leipz. 1886); Brendicke, Grundriß zur Geschichte der Leibesübungen (Köthen 1882); Rühl, Entwickelungsgeschichte des Turnens (3. Aufl., Leipz. 1902) und Deutsche Turner in Wort und Bild (Wien 1901); Cotta, Leitfaden für den Unterricht in der Turngeschichte (2. Aufl., Leipz. 1906).

Zeitschriften: ›Deutsche Turnzeitung‹ (Leipz., seit 1856); ›Monatsschrift für das Turnwesen‹ (1882 begründet von Euler und Eckler, Berl.; jetzt hrsg. von Schröer und Neuendorff); ›Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel‹ (1894 begründet von Schnell und Wickenhagen; seit 1902 unter dem Namen ›Körper und Geist, Zeitschrift für Turnen, Bewegungsspiel und verwandte Leibesübungen‹, hrsg. von Möller, F.A. Schmidt und Wickenhagen, Leipz.). Literaturnachweise: Lenz, Zusammenstellung von Schriften über Leibesübungen (4. Aufl., Berl. 1881); ›Bücherverzeichnis des Archivs der deutschen Turnerschaft‹ (2. Aufl., Leipz. 1885, mit zwei Nachträgen 1890 u. 1891); Brendicke, Verzeichnis einer Turnvereinsbibliothek (Eisleben 1885).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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