- Lust
Lust heißt die der Unlust entgegengesetzte, nicht weiter definierbare Modifikation des Gefühls (s. d.). Entgegen der durch Sokrates und in neuerer Zeit durch Schopenhauer ausgesprochenen Ansicht, daß zwar die Unlust ein selbständiger, unabhängig von der L. möglicher Zustand der Seele sei, letztere aber lediglich in der Verminderung oder dem Verschwinden einer vorhandenen Unlust bestehe, halten die meisten neuern Psychologen L. und Unlust für gleich ursprüngliche und aufeinander nicht zurückführbare Zustände. Beide sind immer an bestimmte Empfindungen und Vorstellungen geknüpft (worauf z. B. die Unterscheidung sinnlicher und geistiger L. und Unlust beruht); während nun aber nach Locke, Leibniz und Wolff L. und Unlust selbst Vorstellungen sind, indem sie in der dunkeln oder verworrenen Erkenntnis des Nützlichen und Schädlichen, bez. des Vollkommenen und Unvollkommenen bestehen, unterschied Kant beide scharf als Äußerungen des »Gefühlsvermögens« von den Erzeugnissen des Erkenntnisvermögens, und seitdem erkennt die Psychologie allgemein L. und Unlust als eigenartige (von den Vorstellungen wesentlich verschiedene) seelische Erscheinungen an. In betreff des Verhältnisses der Gefühle zum Vorstellen und Wollen nimmt Herbart an, daß L. und Unlust aus der Wechselwirkung (Förderung und Hemmung) der Vorstellungen entspringen; nach Schopenhauer und v. Hartmann wurzelt dagegen das Gefühl im Willen, dessen Hemmung Unlust, dessen Befriedigung L. hervorbringt; nach Wundt ist das Gefühl durch die »Reaktion der Apperzeption (s. d.) auf die sinnliche Erregung« bedingt, eine Ansicht, die in ihren Folgerungen mit der ältern Lehre übereinkommt, daß das Gefühl auf der Rückwirkung der Seele oder des Ichs gegen die Empfindungen und Vorstellungen beruhe. Als die leibliche Grundlage des Gefühls betrachtet Wundt den zentralen physiologischen Prozeß, der zu der von den Sinnesorganen ausgehenden Erregung hinzukommen muß, wenn sich die Tätigkeit des Bewußtseins ihr zuwenden soll. Daß eine solche Grundlage existiert, beweisen auch die physischen Rückwirkungen der L. und Unlust. Nach Lehmann sind »lustbetonte Zustände jeglicher Art begleitet von Gefäßerweiterung an der Oberfläche des Körpers, erhöhter Innervation der willkürlichen Muskeln und wahrscheinlich von Vergrößerung des Umfangs der Herzbewegungen; unlustbetonte von Gefäßverengerung an der Körperoberfläche, Innervationsstörungen der willkürlichen und der organischen Muskeln und wahrscheinlich gewöhnlich von Gefäßerschlaffungen im Innern in Verbindung mit Verminderung des Umfangs der Herzkontraktionen«. Über die objektiven Unterschiede der L. und Unlust bewirkenden Reize sind sehr mannigfache, durchweg unsichere Hypothesen aufgestellt worden. So nahe es liegt, L. und Unlust als die natürlichen Zeichen der Nützlichkeit oder Schädlichkeit einer äußern Einwirkung für den empfindenden Organismus aufzufassen, so ist doch diese Anschauung wegen der zahlreichen Ausnahmen zum mindesten dahin zu modifizieren, daß immer nur die unmittelbare Förderung der Lebenstätigkeit (der vielleicht eine Schädigung nachfolgt) durch das Lustgefühl angezeigt wird und umgekehrt. Nach einer andern Annahme beruhen L. und Unlust auf dem Einklang oder dem Widerstreite des Reizes mit den Bedingungen der Erregbarkeit der Nerven, nach einer dritten auf dem Überschuß der positiven Molekulararbeit im Nervenprozeß über die negative, bez. dieser über jene. Vgl. außer den Lehrbüchern der Psychologie: Bouillier, Du plaisir et de la douleur (4. Aufl., Par. 1891); Dumont, Vergnügen und Schmerz (Leipz. 1876); Duboc, Die L. als sozial-ethisches Entwickelungsprinzip (das. 1900).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.