Saint-Simon

Saint-Simon

Saint-Simon (spr. ßäng-ßimóng), 1) Louis de Rouvroy, Herzog von, franz. Memoirenschriftsteller, geb. 16. Jan. 1675, gest. 2. März 1755, trat als Patenkind Ludwigs XIV. in die königlichen Haustruppen, machte 1692 seinen ersten Feldzug unter dem Marschall von Luxembourg mit und focht mit Auszeichnung bei Fleurus und Neerwinden. 1693 folgte er seinem Vater in der Herzogs- und Pairswürde sowie im Gouvernement von Blaye und wurde zum Brigadegeneral befördert. Gegen Ende der Regierung Ludwigs widmete er sich dem Hofdienst und erlangte die Gunst des Herzogs von Orléans, der als Regent ihn 1715 zum Regentschaftsrat ernannte. Er war die Seele der Hofpartei gegenüber der des Parlaments. Nach dem Tode des Regenten zog er sich auf seine Güter zurück. Seine »Mémoires« (Par. 1756–58, 20 Bde.) sind eine Hauptquelle für die Geschichte seiner Zeit und verschafften ihm den (allerdings unverdienten) Namen des »französischen Tacitus«. Den größern Teil seiner literarischen Hinterlassenschaft hatte der Staat in Beschlag genommen und verweigerte die Herausgabe, bis Karl X. der Familie S. die Papiere zustellen ließ. Es erschienen nun die vervollständigten »Mémoires complets et authentiques du duc de S., etc.« (Par. 1829–30, 21 Bde.), von denen Chéruel (das. 1856–58, 20 Bde.; neue Ausg. 1873–1881, 21 Bde.) und Boislisle (das. 1879–1906, 19 Bde.) sorgfältigere Ausgaben veranstalteten; einen Auszug gab Lanneau heraus (»Scènes et portraits etc.«, das. 1876, 2 Bde.) und in deutscher Übersetzung Lotheißen (Stuttg. 1884–85, 2 Bde.). Weitere Schriften veröffentlichten FaugèreEcrits inédits de S.«, Par. 1881–92, 8 Bde.) und DrumontPapiers inédits, lettres et dépêches sur l'ambassade en Espagne, 1721«, das. 1880). Ein »Lexique sommaire de la langue de S.« gab E. Pilastre heraus (Par. 1905). S. ist einer der kühnsten und geistreichsten Memoirenschreiber. Seine Gemälde sind düster, seine Striche schwarz; da er seine Mitteilungen erst als ein in Ungnade gefallener Edelmann niederschrieb, auch von krankhaftem Adelsstolz erfüllt war, hat er die Unparteilichkeit nicht gewahrt. Vgl. Chéruel, S. considéré comme historien de Louis XIV (Par. 1865); Baschet, Leduc de S. (das. 1874); Cannan, The duke of S. (Lond. 1885), und die kürzern Biographien von Crozals (Par. 1891) und G. Boissier (2. Aufl., das. 1899).

2) Claude Henri, Graf, Schriftsteller und Gründer der ersten sozialistischen Schule, Enkel des vorigen, geb. 17. Okt. 1760 in Paris, gest. 19. Mai 1825, wurde in glänzenden Verhältnissen erzogen, von hervorragenden Lehrern, unter ihnen von d'Alembert, unterrichtet, trat mit 17 Jahren in den militärischen Dienst und ging mit Bouillé nach Amerika, um unter Washington für die Freiheit der Neuen Welt zu kämpfen. Nachdem er hierauf Amerika bereist und unter anderm vergeblich versucht hatte, den Vizekönig von Mexiko für einen großen Kanalbau zur Verbindung der beiden Weltmeere zu interessieren, kehrte er 1783 nach Frankreich zurück, wurde hier Oberst eines Regiments, nahm aber bald seinen Abschied. In den nächsten Jahren beschäftigten ihn die Pläne großartiger Unternehmungen. So versuchte er 1785 in Holland, allerdings vergeblich, eine französisch-holländische Expedition gegen die englischen Kolonien in Indien zustande zu bringen. 1787 ging er nach Spanien, um die Regierung zu dem Bau eines Kanals zwischen Madrid und dem Meere zu veranlassen; aber die Ausführung dieses Projekts wurde durch den Ausbruch der französischen Revolution verhindert. Diese wurde für S. verhängnisvoll; denn er verlor durch sie sein ganzes bedeutendes Vermögen. Um seine Existenz zu sichern, betrieb er in Gemeinschaft mit einem Grafen Redern geschäftsmäßig den Verkauf von Nationalgütern; daneben aber beschäftigte ihn mehr und mehr der Gedanke, etwas Großes für das Wohl der Menschheit zu wirken, die sozialen und moralischen Übelstände im Volksleben zu beseitigen und das allgemeine Völkerglück herzustellen. Schon damals trug er sich mit der Vorstellung, daß man zur Lösung dieser Aufgabe eine neue allgemeine, eine physiko-politische Wissenschaft schaffen müsse. 1797 schied er aus dem Geschäft mit einer Abstandssumme von 144,000 Fr., um sich fortan dieser Aufgabe zu widmen. Er studierte mehrere Jahre an der Universität in Paris Naturwissenschaften und Geschichte und bereiste dann England und Deutschland. Nach Paris zurückgekehrt, verheiratete er sich 1801 mit einem Fräulein von Champgrand und stürzte sich während seiner Ehe in den Strudel des geselligen Verkehrs und der Sinnenlust. Nach einem Jahre, in dem er den Rest seines Vermögens verbraucht hatte, gab er dies Leben auf und trennte sich von seiner Frau. Er betrachtete jetzt die experimentelle Lehrperiode seines Lebens als abgeschlossen und wollte nun die Ergebnisse seiner Studien und Erfahrungen der Welt verkünden. 1802 erschien seine erste Schrift: »Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains«, in der er versuchte, das Wesen der bürgerlichen Gesellschaft wissenschaftlich zu erfassen und eine Reform derselben sowie eine neue Gesellschaftswissenschaft und Religion zu begründen; aber seine unklaren und phantastischen Ausführungen fanden keine Beachtung. Ebenso erging es seinen folgenden Schriften: »Introduction aux travaux scientifiques du XIX. siècle« (1808, 2 Bde.), »Lettres an bureau des longitudes« (1808), »Nouvelle Encyclopédie« (1810), »Mémoire sur l'Encyclopédie« (1810), »Mémoire sur la science de l'homme« (1811), »Mémoire sur la gravitation« (1811). In die bitterste Not geraten, sah S. sich gezwungen, zur Fristung seiner Existenz eine schlecht bezahlte Kopistenstelle in einem Leihgeschäft (mont de piété) anzunehmen, bis ihn einer seiner frühern Diener, Diard, in sein Haus nahm. Als dieser aber nach zwei Jahren starb, lebte er im Elend von den Unterstützungen seiner Freunde. 1814 erschien eine neue Schrift von ihm: »Réorganisation de la société européenne«. In ihr und zahlreichen andern, die in den nächsten Jahren erschienen, geht S. direkt auf die soziale Frage ein, betont hier den Klassengegensatz von Arbeitgebern und Arbeitern, von Kapital und Arbeit, die ungerechte Verteilung, die falsche Eigentumsordnung, das Recht der arbeitenden Klassen auf eine neue Organisation der Produktion etc. Wegen einer dieser Schriften: »L'organisateur« (1820), in deren erstem Hefte: »Parabole politique«, er die Meinung vertrat, daß der Verlust von 10,000 Arbeitern für Frankreich nachteiliger wäre als der Verlust der königlichen Familie, des ganzen Hofstaates, des höchsten Klerus und der obersten Beamten, wurde er in Anklagezustand versetzt, aber von den Geschwornen freigesprochen. Ein größeres historisches Werk: »Système industriel« (1821–22, 3 Bde.), war der Versuch einer Geschichte der Arbeit. Nun begannen seine Schriften die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und führten S. auch eine Schar begeisterter und hervorragender Schüler zu, wie Augustin Thierry, Auguste Comte, Saint-Aubin u.a.; indes was S. vor allem erstrebte, die Beachtung und Anerkennung seiner Schriften durch die Männer der Wissenschaft, fand er nicht. Dazu war seine materielle Lage eine außerordentlich kümmerliche. Ihn ergriff die Verzweiflung, und im März 1823 machte er einen Selbstmordversuch, bei dem er ein Auge verlor. S. lebte noch zwei Jahre, vergöttert von seinen Schülern, deren Zahl zunahm, und schrieb außer einem Werk: »Opinions littéraires, philosophiques et industrielles« (1825), die beiden Hauptwerke seines Lebens: »Catéchisme des industriels« (1823) und »Nouveau Christianisme« (1825), in denen er die Ideen entwickelte, die dann nach seinem Tode seine Schüler zu dem sozialistischen System, dem Saint-Simonismus, ausbildeten (s. Sozialismus). In jenem Werke wird die Arbeiterfrage als das soziale Problem der Gegenwart, ihre Lösung als die eigentliche Aufgabe der Gesellschaft hingestellt und der Weg zu ihrer Lösung nach den sozialistischen Ansichten Saint-Simons gezeigt. Das zweite Werk behandelt die religiöse Reform der Gesellschaft durch ein neues Christentum der werktätigen Bruderliebe. Nach seinem Tode bildeten seine Schüler, zu denen unter andern auch Péreire, Rodriguez, M. Chevalier, Léon Halévy, J. B. Duvergier, Bailly gehörten, unter der Führung von Bazard (s. d.) und Enfantin (s. d.) als Saint-Simonisten die erste sozialistische Schule, die von 1825–32 die neue sozialistische Lehre in weitern Kreisen mit Erfolg verbreitete. Saint-Simons Werke wurden zuletzt mit denen Enfantins herausgegeben (Par. 1865–78, 36 Bde.); sein Bildnis s. Tafel »Sozialisten I«. Vgl. L. Reybaud, Etudes sur les reformateurs contemporains (7. Aufl., Par. 1864); L. Stein, Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich (Leipz. 1842) und Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich (das. 1850, 3 Bde.); Hubbard, S., sa vie et ses travaux (Par. 1857); Janet, S. et le Saint-Simonisme (das. 1878); Warschauer, Geschichte des Sozialismus, 1. Abt.: S. und der Saint-Simonismus (Leipz. 1892); G. Weill, S. et son œuvre (Par. 1894) und L'école Saint-Simonienne (das. 1896); Charléty, Histoire du Saint-Simonisme (das. 1896); Weisengrün, Die sozialwissenschaftlichen Ideen Saint-Simons (Basel 1895); E. de Witt, S. et le système industriel (Par. 1903); Muckle, S. und die ökonomische Geschichtstheorie (Jena 1906).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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