Arbeiterfrage

Arbeiterfrage

Arbeiterfrage. Die A., die sogen. soziale Frage, hat zu ihrem Gegenstande die Lage der von Unternehmern namentlich in den großen Unternehmungen beschäftigten Lohnarbeiter in ökonomischer, moralischer, sozialer und politischer Hinsicht. Da der Lohnarbeiterstand erst um die Wende des 18. Jahrh. seit der Erfindung der Maschinen und dem Aufkommen der Fabrikindustrie seine Ausbildung erfahren hat, so ist die A. auch erst seit dieser Zeit in Fluß gekommen. Soziale Bewegungen hat es schon im Altertum gegeben, eine A. im obigen Sinne gibt es erst in der neuesten Zeit. Zwar hatten schon die Hausindustrien und die wenigen größern Manufakturen (Fabriken) vor dem 19. Jahrh. abhängige, nur auf Lohn gestellte Arbeiter gekannt, allein da ihre Zahl gering und die Löhne meist hoch waren, so traten Mißstände nicht hervor. Dagegen entstand mit der Ausbreitung der Fabrikindustrie eine neue Arbeiterklasse. In der Fabrik konnten auch Kinder, jugendliche und weibliche Personen Verwendung finden; gleichzeitig nahm die Zahl der Arbeiter derart zu, daß ein Selbständigwerden nahezu ausgeschlossen war, zumal die neue Form des Industriebetriebes immer mehr Kapital erforderte. Zwar waren die Arbeiter persönlich frei, das Arbeitsverhältnis beruhte auf einem juristisch völlig freien Vertrag, aber den rechtlichen Verhältnissen entsprachen die tatsächlichen keineswegs. Denn die wirtschaftliche Überlegenheit der Unternehmer führte im Verein mit dem Verbote der Arbeiterkoalitionen zur tatsächlichen Abhängigkeit und zur Ausnutzung der Arbeiter durch zu lange Arbeitszeit, übermäßige Verwendung von Kindern und weiblichen Personen und schlechte Löhne. Dabei wurden auch die einfachsten Vorkehrungen gegen die aus der Fabrikarbeit fließenden Gefahren für Leben, Gesundheit, Sittlichkeit etc. der Arbeiter unterlassen. Naturgemäß traten diese Übelstände am frühesten und heftigsten in dem Lande hervor, das in der industriellen Entwickelung alle andern übertraf, in England. Hier entstand zuerst eine A., als deren Inhalt zunächst der Schutz der Fabrikarbeiter, insbes. der Kinder und weiblichen Personen, erschien. Seit den 30er Jahren des 19. Jahrh., namentlich seit der Parlamentsreform von 1832 und der Chartistenbewegung (s. Chartismus), verschwanden diese Forderungen nicht mehr aus der Diskussion und wurden auch trotz des Widerstandes des Fabrikantentums und der herrschenden Manchesterdoktrin in einer Reihe von Fabrikgesetzen durchgeführt. Die A. hat mit der Ausbreitung der Fabrikindustrie in Frankreich, Deutschland und andern Staaten auch diese ergriffen. Zugleich ist sie, vor allem unter dem Einfluß des Sozialismus, aus einer Frage der Fabrikarbeiter zu einer alle Lohnarbeiter und von einer wesentlich wirtschaftlichen zu einer die gesamte wirtschaftliche, soziale, moralische und politische Lage der Arbeiter umfassenden Frage geworden. Für ihre richtige historische Würdigung ist aber zu beachten, daß, wenn auch die Mehrzahl von Übelständen erst im letzten Jahrhundert mit der Fabrikindustrie und der Maschinenbenutzung, dem Großbetrieb und der Arbeitsfreiheit entstanden ist, das große Problem doch dadurch besonders in die Erscheinung trat, daß man sich heute in Staat und Gesellschaft für die Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen viel höhere Aufgaben stellt als früher.

In der Beurteilung der A. und in der Stellung zu ihr gehen in der Gegenwart die Meinungen sehr auseinander. Es lassen sich jedoch drei Hauptrichtungen unterscheiden. Die erste, die individualistische oder manchesterliche, sieht die Übelstände, soweit sie diese zugibt, als etwas mit der modernen Entwickelung notwendig Verbundenes an, führt sie teilweise auf die Schuld der Arbeiter selbst zurück und will jedenfalls von einem Eingreifen des Staates nichts wissen, indem sie annimmt, daß ein Eingreifen des Staates wieder nach andern Richtungen hin Nachteile mit sich bringen müsse. Die zweite, die sozialistische, behauptet, daß die vorhandenen Übelstände, weil auf dem Gegensatz von Kapital und Arbeit beruhend, ohne Beseitigung der kapitalistischen Produktionsmethode nicht beseitigt werden könnten; sie empfiehlt deshalb eine Aufhebung des bestehenden Eigentums an den Produktionsmitteln, Regelung der gesamten Produktion und Verteilung des Ertrags durch die Gesellschaft (s. Sozialismus). Die dritte, die sozialreformatorische Richtung, gibt das Vorhandensein von Übel ständen zu und hält ein Eingreifen des Staates zu ihrer Beseitigung für notwendig und berechtigt, will iedoch die Reformen auf dem Boden der bestehenden Wirtschaftsordnung, also unter Wahrung des Privateigentums und des freien Arbeitsvertrags, und unter Mitwirkung der arbeitenden Klassen selbst durchführen. Diese letztere Richtung, die zuerst vom Verein für Sozialpolitik (s. d.) vertreten wurde, hat je länger je mehr in den Parlamenten Eingang gefunden und die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte mächtig beeinflußt.

Die A. ist nun trotz gemeinsamer Grundzüge inhaltlich kein einheitliches, sondern ein nach Arbeiterklassen verschiedenes sozialpolitisches Problem. Es sind insbes. drei Gruppen von Lohnarbeitern zu unterscheiden: 1) Die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter (landwirtschaftliche A.), 2) die Lohnarbeiter in großen gewerblichen, Bergwerks- und andern auf die Gewinnung von Rohstoffen gerichteten Unternehmungen (industrielle A.), und endlich 3) die Lohnarbeiter im Kleingewerbe, die sogen. Handwerksgesellen (Gesellenfrage). In jeder dieser Gruppen sind die Übelstände, die Zielpunkte der sozialen Reform und die Heilmittel im einzelnen verschiedener Art, und daher ist auch die A. für jede derselben eine verschiedene. Die Verhältnisse der Handwerksgesellen sind jedoch nur in geringerm Grad Anlaß und Gegenstand eines sozialen Problems, die Gesellenfrage tritt an Inhalt und Bedeutung weit hinter den beiden andern zurück (s. über diese Frage den Artikel »Gesellen«). Wir beschränken uns hier auf eine allgemeine Darstellung der industriellen und der landwirtschaftlichen A.

Die industrielle Arbeiterfrage.

Diese Frage umfaßt vier Klassen von Lohnarbeitern: 1) die eigentlichen Fabrikarbeiter, d.h. die Lohnarbeiter in gewerblichen Anstalten, in denen gleichzeitig und regelmäßig eine größere Anzahl von Arbeitern außerhalb ihrer Wohnung in geschlossenen Arbeitsräumen beschäftigt und in der Regel Maschinen benutzt werden; 2) die hausindustriellen Arbeiter, d.h. gewerbliche Lohnarbeiter, die in ihren eignen Räumen auf Bestellung eines größern Unternehmers für den Vertrieb im großen arbeiten; 3) die Lohnarbeiter in Berg-, Hüttenwerken, Salinen und größern über Tage betriebenen Gruben und Brüchen; 4) die Lohnarbeiter in größern andern gewerblichen, namentlich baugewerblichen Unternehmungen.

Die reformbedürftigen Mißstände bei den industriellen Arbeitern scheiden sich in wirtschaftliche und moralische. Die wirtschaftlichen Mißstände liegen vorzugsweise in den Einkommens-, Arbeits-, Wohnungs- und Ausgabenverhältnissen der Arbeiter. Die Einkommensverhältnisse sind keineswegs allgemein ungünstig. aber sie können es sein: 1) infolge der Unsicherheit des Einkommens (herbeigeführt durch die Natur des Großbetriebs und der Absatzverhältnisse industrieller Unternehmungen mit den zeitweisen Überproduktionen und darauffolgenden Absatzstockungen und durch die Gefährlichkeit eines Teiles der industriellen Arbeitsleistungen für Gesundheit und Leben); 2) wegen der Niedrigkeit des Lohnes (bei ungelernten Arbeitern, wo der Lohn infolge der geringen Arbeitsfähigkeit und des regelmäßig die Nachfrage übersteigenden Angebots den niedrigsten Stand zeigt, und der Lohn eines erwachsenen Arbeiters einer mittelstarken Familie nur die Befriedigung der dringendsten Lebensbedürfnisse ermöglicht, ferner bei kinderreichen Familien, wenn für diese der Lohn des Familienhauptes das einzige Einkommen ist, und bei isolierten Arbeitern, wenn infolge der Übermacht des Arbeitgebers an sich berechtigte Lohnerhöhungen unterbleiben oder unberechtigte Lohnreduktionen erfolgen), und 3) wegen Mangels an Aussicht auf eine Steigerung des Arbeitseinkommens mit der Zeit, weil nur ein kleiner Teil der industriellen Arbeiter zu der Stellung eines Vorarbeiters, Aufsehers, Werkmeisters etc., geschweige gar eines Unternehmers gelangen kann. Weitere Übelstände können bestehen in übermäßiger Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit, in der regelmäßigen Vornahme von Sonntags- und Nachtarbeit, ferner darin, daß die Beschäftigung an sich oder wegen des Zustandes der Arbeitsräume gesundheitsschädlich oder lebensgefährlich ist. Als Übelstände der Arbeiterwohnungen sind hervorzuheben: ungesunde Lage, schlechte bauliche Verhältnisse, Überfüllung der Wohnhäuser und der einzelnen Wohnungen, zu hohe Mietpreise, Unsicherheit der Mietsdauer und häufiger Wohnungswechsel. zu weite Entfernung von der Arbeitsstelle etc. Bezüglich der Ausgabenwirtschaft kommen in Betracht: hohe Preise für oft schlechte Waren durch Einkauf in kleinen Läden oder in unsoliden Geschäften, die Ausbeutung der Arbeiter durch direkte oder indirekte Ablöhnung mit Waren (s. Trucksystem), übermäßig lange Lohnzahlungstermine, schlechte Kost, übermäßige Ausgaben für Spirituosen, Ausgaben unverheirateter weiblicher Arbeiter für Putz etc.

Die für die A. wesentlichen moralischen Mißstände bei industriellen Lohnarbeitern sind teils solche, die in Arbeiterfamilien vorkommen, teils solche, die bei verheirateten und unverheirateten Arbeitern sich zeigen, teils solche, welche die unverheirateten weiblichen Arbeiter betreffen. Unter den Mißständen in Arbeiterfamilien ist vor allem zu erwähnen eine schlechte Häuslichkeit und ein schlechtes Familienleben der Arbeiter, herbeigeführt nicht nur durch geringes Einkommen oder übermäßige Beschäftigung der Familienglieder, sondern häufig auch durch leichtsinnige, frühzeitige Eheschließungen, durch die Roheit und Unmoralität der Eheleute und Eltern, durch den schlechten Zustand der Wohnungen, durch die schlechte Erziehung und Unwirtschaftlichkeit der Hausfrauen, durch eine regelmäßige Beschäftigung der letztern außerhalb des Hauses etc., ferner die mangelhafte Ausbildung der Kinder in moralischer Hinsicht, die Größe der Familie bei unzureichendem Einkommen, die regelmäßige Kinderarbeit etc. Weitere Übelstände bei männlichen Arbeitern sind: geringer Arbeitsfleiß, mangelnder Sparsinn, auch wo die Lohnhöhe an sich ein Sparen gestatten würde, Unwirtschaftlichkeit in der Verwen dung des Einkommens, Trunksucht, Irreligiosität, Mißtrauen gegen Arbeitgeber, Mißachtung der Verträge, Übertretung der Gesetze, Mißbrauch der Koalitionsfreiheit, Haß gegen die besitzenden Klassen etc. Bei unverheirateten weiblichen Arbeitern treten als besondere Mißstände hervor: die mangelnde Gelegenheit, sich die für den künftigen Beruf als Hausfrauen notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten anzueignen, eine ungünstige Wirkung der industriellen Beschäftigung auf ihre Moral, geschlechtliche Unsittlichkeit. Aber moralische, für die A. wesentliche Mißstände kommen auch in den Kreisen der Arbeitgeber vor, so namentlich. wenn diese ihr Verhältnis zu ihren Arbeitern lediglich als ein reines Vertragsverhältnis, nicht auch als ein moralisches auffassen und die ihnen obliegende sittliche Pflicht, für die moralische und geistige Hebung ihrer Arbeiter nach besten Kräften zu sorgen, nicht erfüllen und sich überhaupt in ihrem Verhalten zu ihren Arbeitern ausschließlich vom Trieb des rücksichtslosen Egoismus beherrschen lassen, oder wenn sie ihren Arbeitern in ihrem eignen privaten und geschäftlichen Leben durch ein unmoralisches Verhalten ein schlechtes Vorbild sind.

Die notwendigen und zweckmäßigen Reformmaßregeln sind teils obrigkeitliche, teils private. Die obrigkeitlichen Maßregeln sind außer der Sorge für eine gute Arbeitsstatistik und für einen den Interessen der industriellen Arbeiter entsprechenden Schulunterricht im wesentlichen gesetzgeberische oder administrative, die teils den Arbeiterschutz, teils die Arbeiterversicherung betreffen. Die Sorge für eine gute Arbeitsstatistik, d.h. für eine genaue Feststellung und Klarlegung aller auf die materielle und soziale Lage der industriellen Arbeiter bezüglichen und zu deren richtiger Beurteilung wesentlichen Verhältnisse, eine der wichtigsten und dringlichsten Aufgaben der Staats gewalt, erfordert teils einmalige, allgemeine Enqueten über bestimmte Zustände und Verhältnisse. die ganze Industriezweige, resp. Arbeiterverhältnisse des ganzen Landes betreffen, teils fortlaufende Feststellungen der einzelnen Verhältnisse und ihrer Veränderungen in den einzelnen Industriebezirken. Diese letztern Feststellungen müssen den industriellen Arbeitsinspektoren (s. unten) übertragen werden; besser noch werden dafür besondere arbeitsstatistische Bureaus (Arbeitsämter, s. d.) errichtet. Bezüglich des Schulunterrichts ist hier der obligatorische Unterricht bis zum 14. Jahr, aber auch die Zulässigkeit der obrigkeitlichen Anordnung eines obligatorischen Fortbildungsunterrichts für die jugendlichen Arbeiter bis zum 18. Jahre (s. Fortbildungsschulen) zu fordern, und für die Art des Unterrichts in den Elementar- und Fortbildungsschulen muß es vom Standpunkte der Sozialpolitik als eine Hauptaufgabe desselben hingestellt werden, daß in den Schulen auch für die Ausbildung der Schüler in moralischer Hinsicht gesorgt wird, da die Schule in diesen Kreisen häufig das einzige Mittel religiöser und moralischer Erziehung ist.

Die notwendigen Maßregeln der Arbeiterschutzgesetzgebung sind folgende: 1) Die Gewährung des Koalitionsrechts, d.h. des Rechtes der freien Vereinigung der Lohnarbeiter zur Wahrung ihrer berechtigten Interessen, zur Besserung ihrer Lage, also auch zur gemeinsamen Regelung der Bedingungen ihrer Arbeitsverträge, aber mit der Einschränkung. daß die Vereins- und Agitationsfreiheit nicht zu einer widerrechtlichen Freiheitsbeschränkung Dritter ausartet oder den gewaltsamen Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezweckt, noch in gemeingefährlicher Weise den öffentlichen, resp. sozialen Frieden stört (s. Koalition). Die sozialpolitische Bedeutung und Berechtigung des so begrenzten Koalitionsrechtes liegt darin, daß es die ungünstige Stellung des einzelnen Lohnarbeiters gegenüber dem großen Unternehmer in der vertragsmäßigen Feststellung der Bedingungen des Arbeitsvertrags und der ganzen Gestaltung seines Arbeitsverhältnisses beseitigen und die rechtliche Freiheit und Gleichberechtigung des Arbeiters beim Abschluß des Arbeitsvertrags auch zu einer wirklichen machen kann. Aber die Gewährung dieses Rechtes erfordert zum Schutze der Arbeitgeber und im öffentlichen Interesse als Korrelat auch Maßnahmen zur Verhinderung und Erschwerung des Vertragsbruchs (s. Vertragsbruch). 2) Die Regelung der Arbeit von Kindern, jugendlichen und weiblichen Arbeitern. Diese drei Klassen sind absolut schutzbedürftig. Für Kinder (Personen unter 14 Jahren) ist, weil die regelmäßige industrielle Beschäftigung die körperliche. technische und moralische Ausbildung schädigt, grundsätzlich das gesetzliche Verbot dieser Beschäftigung zu fordern; jedenfalls sollte die Sonntags- und Nachtarbeit sowie jede direkt gesundheitsschädliche oder für Kinder sonst gefährliche Arbeit verboten und zu diesem Zweck die Beschäftigung nur auf Grund eines Attestes autorisierter Ärzte gestattet, ferner ein Minimalalter der Beschäftigung, eine Maximalarbeitszeit mit Arbeitspausen und die Gewährung eines regelmäßigen Unterrichts neben der industriellen Beschäftigung vorgeschrieben. zugleich aber durch wirksame Strafbestimmungen und obrigkeitliche Kontrollorgane für die Durchführung dieser Vorschriften gesorgt werden. Die Regelung muß sich auch auf die Hausindustrie. aber mit mannigfachen, den einzelnen Arten und lokalen Verhältnissen sich anpassenden Modifikationen, erstrecken. Für jugendliche Arbeiter (Personen von 14 bis unter 18 Jahren) bedarf es ebenfalls des Verbots der Sonntags- und Nachtarbeit. der gesetzlichen Bestimmung der Maximalarbeitszeit (nicht über 10 Stunden) und der Arbeitspausen, des Verbots der gesundheits- und moralschädlichen oder sonst gefährlichen Arbeit, der Ein- und Durchführung eines obligatorischen Fortbildungsunterrichts, wo er nach den lokalen Verhältnissen ausführbar ist, und der Sicherung der Durchführung der Schutzvorschriften durch Strafbestimmungen und obrigkeitliche Kontrolle. Mindestens muß dieser Schutz den Personen unter 16 Jahren gewährt werden. Für weibliche Arbeiter (weibliche Personen über 18 Jahre) rechtfertigen sich die gleichen Schutzbestimmungen wie für jugendliche Arbeiter, aber außerdem ist hier noch ein besonderer Schutz für Schwangere und Wöchnerinnen (Verbot gewisser Arbeiten, Schonzeit nach der Entbindung) und für Frauen, die ein Hauswesen zu besorgen haben (längere Mittagspause, früherer Schluß der Arbeit an Vorabenden von Sonn- und Feiertagen), geboten. 3) Die Regelung der Arbeit von erwachsenen männlichen Arbeitern. Die Bestimmung der Dauer der täglichen Arbeitszeit ist bei der Koalitionsfreiheit den Beteiligten (Arbeitgebern und Arbeitern) zu überlassen, nur ausnahmsweise ist für einzelne Industriezweige, in denen nachweislich durch übermäßige Dauer jener Zeit die Gesundheit der Arbeiter gefährdet wird, eine gesetzliche oder administrative Normierung derselben zu rechtfertigen. Dagegen sollte die Sonntags- und Nachtarbeit gesetzlich auf das unvermeidliche Maß beschränkt und ebenso durch gesetzliche und administrative Bestimmungen die Verhinderung einer an sich gesundheitsschädlichen oder sonst gefährlichen Arbeit tunlichst erstrebt werden. 4) Die Regelung der Arbeitsordnungen (Fabrikordnungen) für die einzelnen größern industriellen Betriebe durch die Vorschriften des obligatorischen Erlasses derselben und ihrer Mitteilung an die Arbeiter, durch gesetzliche Bestimmungen über die Form, den notwendigen und den zulässigen Inhalt und durch die Vorschrift einer obrigkeitlichen Prüfung derselben, damit durch diese Ordnungen den Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitern vorgebeugt und zugleich der soziale Friede befördert werde. 5) Obrigkeitliche Maßregeln bezüglich der Lohnzahlung, insbes.: strenge Vorschriften zur Verhinderung des Trucksystems (s. d.), Verbot der Auszahlung der Löhne in Wirtshäusern und Schanklokalen, Verbot von Lohnabzügen und Lohneinbehaltungen, die nicht in der Arbeitsordnung vorgesehen sind, und gesetzliche Beschränkung der Höhe der zulässigen Lohneinbehaltungen zur Sicherung von Entschädigungsansprüchen des Arbeitgebers gegen zahlungsunfähige, kontraktbrüchige Arbeiter, ferner gesetzliche Bestimmungen, die entweder die Arbeitgeber ermächtigen, in der Arbeitsordnung die Auszahlung der Löhne an minderjährige unverheiratete Arbeiter nur mit Genehmigung der Eltern, bez. des Vormundes vorzuschreiben, oder die Befugnis zu einer solchen Vorschrift den Gemeinden und größern Kommunalverbänden erteilen. 6) Die Regelung der Organisation von Gewerbegerichten zur gerichtlichen Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zwischen gewerblichen Unternehmern und ihren Arbeitern über Forderungen und Verbindlichkeiten aus dem abgeschlossenen Arbeitsvertrag (s. Gewerbegerichte). 7) Normativbestimmungen für Einigungsämter, deren Aufgabe es ist, bei entstehenden Streitigkeiten der Arbeitgeber und Arbeiter, bei denen es sich um Änderungen des bisherigen Arbeitsvertrags, resp. um die Bedingungen. den Inhalt eines nen abzuschließenden (Dauer der Arbeitszeit, Lohnhöhe, allgemeine Bestimmungen der Arbeitsordnung etc.) handelt, einen friedlichen Ausgleich herbeizuführen, event. einen für beide Teile bindenden Schiedsspruch zu fällen und durch ihre Wirksamkeit schweren Konflikten und Arbeitseinstellungen vorzubeugen (s. Einigungsämter). 8) Die Arbeiterwohnungsgesetzgebung als öffentlich-rechtliche Regelung der Benutzung von Wohnungen (Möglichkeit obrigkeitlichen Verbots der Benutzung gesundheitsschädlicher Wohnungen, Expropriationsrecht, resp. Expropriationspflicht der Gemeinden zur Beseitigung ungesunder Wohnungen, Verwendung der einzelnen Gebäudeteile nur nach Maßgabe der baupolizeilichen Genehmigung, Anordnung eines gesetzlichen Minimalluftraums für jeden Bewohner, Einsetzung besonderer Inspektionsorgane etc.) und Gesetzgebung über Mietverträge, um die Arbeiter gegen die Übermacht und Ausbeutung der Vermieter zu schützen (s. Arbeiterwohnungen). 9) Die Organisation einer besondern Arbeitsinspektion zur Beobachtung und Feststellung der tatsächlichen Zustände, zur Sicherung einer genauen Durchführung der Arbeiterschutzbestimmungen. zur Weiterbildung der sozialpolitischen Gesetzgebung und zur Anregung privater, für die Verbesserung der Arbeiterverhältnisse und für die Förderung des sozialen Friedens nützlicher Maßregeln (s. Fabrikinspektion). Inwieweit diese prinzipiellen Forderungen in der Gesetzgebung erfüllt sind, darüber s. Fabrikgesetzgebung und Gewerbegesetzgebung.

Die obrigkeitlichen Arbeiterversicherungsmaßregeln betreffen, entsprechend den einzelnen Arten dieser Versicherung: 1) die Regelung der Unfallentschädigung entweder durch gesetzliche Regelung der Haftpflicht der Unternehmer und Normativbestimmungen für private Unfallversicherungsanstalten oder durch die Einführung der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung (s. d.); 2) die Regelung der Krankenversicherung auf der Grundlage des Versicherungszwanges und der teilweisen Beitragspflicht der Arbeitgeber (s. Krankenkassen); 3) die Regelung der Alters- u. Invalidenversicherung entweder nur durch Normativbestimmungen für private Versicherungsanstalten oder durch eine öffentlich-rechtliche Regelung auch dieses Versicherungszweiges (wie in Deutschland) mit Versicherungszwang. teilweiser Beitragspflicht der Arbeitgeber, staatlicher Organisation der Versicherungsanstalten, Staatszuschuß etc. (s. Invaliditätsversicherung); 4) die normative Regelung der privaten Witwen- und Waisen-, Lebens- und Begräbnisgeldversicherung (s. die betr. Artikel). Über eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit s. d.

Zu den privaten Maßregeln gehören: 1) die Steigerung des Arbeitseinkommens durch eine rationelle, den Arbeitsfleiß steigernde Art der Löhnung oder durch die, freilich nur ausnahmsweise in einem kleinen Teil von industriellen Unternehmungen mit Erfolg anwendbare Beteiligung der Arbeiter am Gewinn; 2) die Gründung von Produktivgenossenschaften in den sehr engen Grenzen, in denen diese Unternehmungsform anwendbar ist (s. Genossenschaften); 3) die Organisation der Arbeiter in Berufsverbänden (Gewerkvereinen) zur Wahrung ihrer berechtigten Interessen und Verbesserung ihrer Gesamtlage, das Hauptmittel auch zur Lösung des Problems einer richtigen Verteilung des Ertrags der Unternehmungen zwischen Kapital und Arbeit und einer gerechten Lohnbildung (s. Gewerkvereine); 4) die Herstellung guter, gesunder und billiger Arbeiterwohnungen durch Arbeitgeber, Baugesellschaften, Baugenossenschaften (s. Arbeiterwohnungen); 5) die Gründung von Konsumanstalten, um den Arbeitern Nahrungsmittel und andre Gebrauchsgegenstände besser und billiger zu liefern, als sie dieselben sich in andern Läden verschaffen, entweder als Anstalten größerer Arbeitgeber, die auf deren Rechnung und unter deren Verwaltung betrieben werden und derart organisiert sind, daß die Anstalt keinen Gewinn für den Arbeitgeber erzielt, sondern nur ihre Betriebskosten deckt und den Arbeitern die Waren zum Einkaufs-, resp. Herstellungs,. reis mit dem zur Deckung der Geschäftsunkosten notwendigen Aufschlag verkauft werden, oder als Genossenschaften der Arbeiter, sogen. Konsumvereine (s. Genossenschaften); 6) die Förderung des Sparsinns durch besondere, entweder von den Arbeitern oder von den Arbeitgebern errichtete Fabriksparkassen, in welche die Arbeiter sich freiwillig verpflichten, regelmäßig bei jeder Lohnzahlung einen Betrag einzulegen, außerdem aber jederzeit Beträge einlegen können, und deren nützliche Wirkung gesteigert werden kann durch Gewährung von Prämien zu den Spareinlagen seitens der Arbeitgeber oder gemeinnütziger Gesellschaften oder durch Bewilligung eines höhern Zinsfußes; 7) andre Wohlfahrtseinrichtungen der Arbeitgeber mannigfaltigster Art, deren zweckmäßigste Durchführung und segensreiche Wirksamkeit in zahlreichen Unternehmungen erprobt ist, wie z. B. Krankenkassen (auch für Familienangehörige der Arbeiter), Invaliden-, Alters-, Witwen- und Waisenkassen, event. als Ergänzungs- und Zuschußkassen der gesetzlichen obligatorischen Kassen dieser Art, Vorschuß- und Unterstützungskassen (bei unverschuldeten Unglücksfällen und andern außergewöhnlichen unvermeidlichen Ausgaben, bei Beschaffung von Wintervorräten etc.), Soldatenkassen, Arbeiterspeisesäle, Umkleideräume, Wasch- und Badeeinrichtungen, Kleinkinderbewahranstalten und -schulen, Lesezimmer, Bibliotheken, Handfertigkeitsunterrichtsanstalten, Handarbeits- und Haushaltungsschulen, Mädchenheime, Fortbildungsschulen, Turnanstalten etc. (s. darüber die Zusammenstellung bei G. Meininghaus, Die sozialen Aufgaben der industriellen Arbeitgeber, Tübing. 1889); 8) die Schaffung von Arbeiterausschüssen als besondern Organen in großen industriellen Unternehmungen, zur Vertretung der Arbeiterinteressen, zur Sicherung eines guten Verhältnisses zwischen den Arbeitgebern und ihren Arbeitern und zur Herbeiführung eines guten Verhaltens der letztern; 9) Maßregeln zur Bekämpfung der Trunksucht (s. d.); 10) Vereine für unverheiratete industrielle Arbeiterinnen, die sich der Fürsorge für diese Personen hingeben, für eine ordentliche Wohnung, event. auch für eine gute Verpflegung derselben sorgen, ihr moralisches Verhalten überwachen, ihre allgemeine Bildung fördern und ihnen Gelegenheit geben, sich in den freien Stunden in Handarbeiten und in dem, was sonst eine tüchtige Hausfrau wissen soll, auszubilden; 11) Koch- und Haushaltungsschulen für Fabrikmädchen; 12) Kleinkinderbewahranstalten für solche Kinder, deren Mütter in industriellen Unternehmungen außer dem Hause beschäftigt sind; 13) Vereine zur Unterstützung der Wöchnerinnen in ihrer Haushaltung; 14) Arbeiterbildungsvereine zu dem Zweck, die allgemeine Bildung, die Berufskenntnisse, die gute Sitte, die Moral, die Religiosität und den Patriotismus unter ihren Mitgliedern zu fördern, aber auch zur Erheiterung und Verschönerung ihres Lebens bei zutragen und auf ihr Familienleben einen veredelnden Einfluß auszuüben. Zu den wichtigsten privaten Maßregeln gehört ferner noch 15) die individuelle Einwirkung der industriellen Arbeitgeber auf die Besserung der Lage ihrer Arbeiter (außer durch die oben erwähnten Wohlfahrtseinrichtungen) durch ihr persönliches Verhalten und dadurch, daß sie sich auch um das Familienleben ihrer Arbeiter bekümmern und dasselbe zu bessern sich bemühen. Unentbehrlich ist aber auch für die soziale Reform zur Förderung von Moral und Sittlichkeit bei den einzelnen Arbeitern und in den Arbeiterfamilien die energische Mitwirkung der Kirche und Geistlichkeit.

Die landwirtschaftliche Arbeiterfrage.

Eine landwirtschaftliche A. existiert als ein großes soziales Problem eigentlich nur da, wo die großen Güter und der landwirtschaftliche Großbetrieb überwiegen, und wo die auf diesen Gütern beschäftigten Arbeiter reine Lohnarbeiter sind und keine Möglichkeit haben, in den Besitz eines kleinen Gutes als Eigentümer oder Pachter zu kommen, in Deutschland daher wesentlich nur im Nordosten. Der Stand der landwirtschaftlichen A. ist in den verschiedenen Ländern durch die großen Unterschiede in der Verteilung des Grundbesitzes und der ganzen Art des landwirtschaftlichen Betriebes sehr verschieden; auf diese Unterschiede in den einzelnen Ländern, für welche überdies nur lückenhaftes Material vorliegt, kann hier nicht eingegangen werden. Die folgende Darstellung muß sich deshalb auf eine kurze Erörterung der landwirtschaftlichen A. in Deutschland beschränken.

In Deutschland sind vier Klassen landwirtschaftlicher Lohnarbeiter zu unterscheiden: 1) die Gutstagelöhner (Dienstleute, Instleute etc.), kontraktlich auf längere Zeit, mindestens auf 1 Jahr, gebundene Lohnarbeiter ohne Grundbesitz, die auf dem Gute des Arbeitgebers wohnen, eigne Hauswirtschaft haben und verpflichtet sind, ihre Arbeitskraft, in manchen Gegenden auch noch eine zweite jüngere (Scharwerker, Hofgänger) dem Dienstherrn zur Verfügung zu stellen; sie bekommen als Entgelt Naturalemolumente (außer Wohnung Land zum Anbau, Weidenutzung. Deputatkorn etc.), die in der Regel den größern Teil des Einkommens bilden, und einen Jahreslohn in Geld; 2) Einlieger, Lohnarbeiter ohne Grundbesitz und festen Wohnsitz, die in Dörfern oder auch auf Gütern zur Miete wohnen, immer nur auf kürzere Zeit den Arbeitsvertrag schließen und einen Tagelohn, in der Regel nur in Geld, erhalten; 3) grundbesitzende Arbeiter, die etwas Land, in der Regel auch ein Haus besitzen, deren Besitz aber nicht groß genug ist, sich und ihre Familie zu erhalten, und die deshalb noch als Tagelöhner, aber nicht ständig gegen Geldlohn arbeiten; 4) Dienstboten, Gesinde, Lohnarbeiter, die auch auf längere Zeit gedungen werden, sich zu bestimmten landwirtschaftlichen Dienstleistungen verpflichten und dafür außer einem festen, auf längere Termine vereinbarten Geldlohn volle Naturalverpflegung in dem Hause ihres Dienstherrn erhalten.

In der Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter besteht im allgemeinen ein großer Unterschied zwischen Süddeutschland und dem westlichen Teil von Norddeutschland einerseits und dem östlichen Teil von Norddeutschland anderseits. Die Lage der Arbeiter dort ist im allgemeinen eine günstigere. Ihr Einkommen und ihre Lebenshaltung ist höher; sie können durch Fleiß, Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit es auch zu einem kleinen Grundbesitz bringen, und ein großer Teil von ihnen hat einen solchen. Das Familienleben, das moralische Verhalten dieser Volksklassen ist ein besseres, sie haben meist das Streben, vorwärts zu kommen, ihre Bildung ist eine höhere. Die Tatsache der bessern Lage dieser Arbeiter hat zum Teil ihre Ursache in der günstigern Geschichte dieser Klassen seit dem Mittelalter, aber vorzugsweise beruht sie doch auf großen Unterschieden in heutigen allgemeinen Verhältnissen zwischen diesen beiden Teilen von Deutschland. Hier. im nordöstlichen Teil, überwiegen weitaus die großen Güter, dort ebenso die kleinern und mittlern. Die Lohnarbeiter sind hier zum größten Teil Arbeiter auf großen Gütern, eine für die Arbeiter unübersteigliche Kluft trennt sie von den Arbeitgebern; dort sind sie zum größten Teil Arbeiter auf mittlern Gütern, zu einem erheblichen Teil selbst kleine Besitzer, der soziale Unterschied zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist in der Regel kein so großer, die ganze soziale Stellung der letztern ist eine andre, viel freiere. Dazu kommt, daß hier die Arbeiter viel mehr von der städtischen Bevölkerung geschieden sind. Weit auseinander liegen die Städte und Dörfer, dazwischen die großen Güter. Der Verkehr der ländlichen Arbeiter in Städten und mit der städtischen Bevölkerung ist ein geringer. Anders dort: die Guts- und Gemeindebezirke sind viel kleiner, die Städte zahlreicher. Eng beieinander sind Dörfer und kleine Städte. Auf engem Raum nebeneinander werden Landwirtschaft und Gewerbe betrieben. Die landwirtschaftliche Bevölkerung verkehrt viel mehr mit der städtischen und lebt zumeist in Dörfern, der Inhalt ihres Lebens wird dadurch ein viel mannigfaltigerer. Den ländlichen Arbeitern bieten sich zur Beschäftigung nicht bloß landwirtschaftliche Arbeitgeber, und diese in größerer Zahl, sondern sie finden leicht auch andre Arbeitsgelegenheit. Dadurch werden sie ebenfalls viel weniger abhängig von dem einzelnen Arbeitgeber und gestalten sich die Bedingungen des Arbeitsvertrags für sie günstiger. Sehr wesentlich ist aber endlich noch, daß es im Nordosten, wo nur große Güter und größere Bauernhöfe existieren, für die große Mehrzahl der Arbeiter völlig unmöglich ist, zu einer eignen kleinen Gutswirtschaft als Eigentümer oder Pachter zu gelangen. Das ist aber dort jedem Arbeiter möglich durch Fleiß, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit. Und diese Möglichkeit wird für viele der kräftigste Antrieb, fleißig. sparsam und wirtschaftlich zu sein, um jenes Ziel zu erreichen. Übelstände moralischer und ökonomischer Art gibt es auch dort, aber sie sind viel geringer an Zahl und Ausdehnung, ihre Beseitigung bildet keine große soziale Reformfrage.

Eine solche ist aber für die landwirtschaftlichen Arbeiter im nordöstlichen Deutschland vorhanden. Die selben sind zum weitaus größten Teil Gutstagelöhner oder Einlieger, jene bilden die große Mehrzahl. Der Hauptübelstand ist für beide Klassen von Arbeitern die Unmöglichkeit, selbständige kleine Landwirte zu werden. Bei den Gutstagelöhnern ist die ökonomische Lage sehr verschieden, je nach dem Verhalten der Arbeitgeber. Ihre Einkommensverhältnisse sind in der Regel nicht gerade ungünstig, wenn ihnen die vertragsmäßigen Naturalemolumente rechtzeitig und gut geliefert werden. Dies ist jedoch nicht überall der Fall, und nicht selten sind namentlich auch die ihnen überwiesenen Wohnungen schlecht und für das Familienleben schädigend. Andre ökonomische Übelstände sind: eine übermäßige Arbeitszeit im Sommer an Wochentagen, Beschäftigung auch an Sonntagen, übermäßige Beschäftigung der Frauen im herrschaftlichen Dienst außer dem Hause, eine für die Arbeiter schädliche Abhängigkeit von den Arbeitgebern, unwirtschaftliche Verwendung des Einkommens etc. Und dazu kommen noch bei sehr vielen Arbeiterfamilien als moralische Mißstände: frühzeitige, leichtsinnige Eheschließungen und ein schlechtes Familienleben, mangelhafte Erziehung und ungenügende Schulbildung der Kinder, der moralschädliche Scharwerkerdienst in fremden Familien, geschlechtliche Unsittlichkeit der Mädchen. geringer Arbeitsfleiß, Trunksucht etc. Die ökonomische Lage der Einlieger ist im Sommer günstig, wo sie leicht Arbeit und guten Lohn finden; aber im Winter wird ihre Lage ungünstiger als die der Gutstagelöhner, und viele bleiben ohne Arbeit und Verdienst. Die moralischen Mißstände sind bei ihnen der gleichen Art.

Für die soziale Reform ist bezüglich beider Klassen die Hauptaufgabe, den Arbeitern die Möglichkeit zu eröffnen, selbständige Landwirte auf einem kleinen Gut, grundbesitzende Arbeiter zu werden. Dadurch wird zugleich der Gefahr, daß die sozialdemokratische Agitation auch die landwirtschaftlichen Arbeiter der Sozialdemokratie zuführt, vorgebeugt. Es sollte für ein Angebot solcher kleinen Besitzungen gesorgt, aber zugleich erwerbslustigen, tüchtigen Arbeitern, denen die Mittel zur Bezahlung des Kaufpreises und das weiter nötige Anlage- und Betriebskapital fehlen, der Erwerb ermöglicht werden. Die Erfüllung dieser Forderung ist keine leichte Aufgabe; sie kann in verschiedener Weise erfolgen, sowohl hinsichtlich der rechtlichen Natur der Besitzungen (gemeinrechtliche Eigentumsgüter, Rentengüter, Erbpachtguter, event. auch Zeitpachtgüter) als der Personen, welche die Reform durchführen (größere Grundbesitzer, besondere Gesellschaften nach Art der englischen Landbaugesellschaften, der Staat oder kommunale Verbände). Die Ansiedelung von Arbeitern in größerer Zahl sollte aber möglichst im Anschluß an Dörfer und bäuerliche Gemeinden, nicht in isolierten Arbeiterkolonien stattfinden, weil solche Kolonien nicht den Anforderungen an ein gesundes Gemeindelehen genügen können.

Für die Gutstagelöhner sind weitere Maßregeln zur Verbesserung ihrer Lage: 1) die Einwirkung der landwirtschaftlichen Vereine auf eine rechtzeitige und gute Lieferung der Naturalemolumente (durch Kontrolle, event. Verwarnung und öffentliche Bekanntmachung der betreffenden Arbeitgeber); 2) das gesetzliche Verbot von Arbeiterwohnungen, die für die Gesundheit oder für das Familienleben schädlich sind, und die strenge Durchführung des Verbots; 3) die Verhinderung einer inhumanen, übermäßigen Beschäftigung durch den Einfluß der landwirtschaftlichen Vereine, event. durch obrigkeitliche Bestimmungen und Einführung einer besondern Entschädigung bei der Beschäftigung über eine bestimmte Zeit hinaus; 4) die Steigerung des Arbeitsfleißes und Lohneinkommens durch Einführung des Akkordlohns, wo diese Lohnart möglich ist, event. durch Gewährung von Prämien zum Zeitlohn; 5) die Gründung von Konsumanstalten großer Arbeitgeber für ihre Arbeiter; 6) die Gründung von Gutssparkassen, mit Gewährung von Prämien für Spareinlagen; 7) die Einschränkung der herrschaftlichen Arbeit der Ehefrauen und Mütter zur ordentlichen Besorgung ihrer Hauswirtschaft und Pflege ihrer Kinder; 8) die individuelle persönliche Einwirkung des Dienstherrn und seiner Familie auf das Familienleben und die Hauswirtschaft seiner Arbeiter; 9) die Gründung von kleinen gegenseitigen Viehversicherungsanstalten (durch landwirtschaftliche Vereine); 10) die Gründung besonderer Feuerversicherungskassen für das Mobiliar und die Vorräte, deren Versicherung die bestehenden Gesellschaften nicht, jedenfalls in der Regel nicht übernehmen.

Der auch für die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter berechtigten Forderung einer öffentlich-rechtlichen Regelung der Unfall- und Kranken-sowie der Invaliditäts- und Altersversicherung hat die Reichsgesetzgebung entsprochen (s. die betr. Artikel); eine wesentliche Aufgabe für die Reform ist aber noch die Hebung der geistigen und sittlichen Bildung durch die obrigkeitliche Sorge für eine genügende Schulbildung der Jugend (hinreichende Zahl von Elementarschulen in nicht zu weiter örtlicher Entfernung voneinander, Sicherung des regelmäßigen Schulbesuchs, rechte Art des Unterrichts, namentlich auch zur Ausbildung der moralischen Eigenschaften und des religiösen Sinnes), durch die Einrichtung von Kleinkinderschulen, wo die Mütter regelmäßig im Sommer auf Lohnarbeit zu gehen pflegen, und durch die Organisation von Fortbildungsschulen, wo dies ausführbar ist. Auch gute Volksbibliotheken, die Einrichtung katechetischer Gottesdienste für die konfirmierte Jugend, die Erleichterung und Förderung des Kirchenbesuchs der Arbeiter seitens der Arbeitgeber kommen für jenen Zweck in Betracht. Arbeiterbildungsvereine werden dagegen nur ausnahmsweise, nur in solchen Gegenden anwendbar sein, wo in größern Gemeinden eine größere Zahl ständiger Einlieger wohnt und auch die Wohnungen von Gutstagelöhnern in größerer Zahl in der Nähe liegen.

Die sehr umfangreiche Literatur über die A. im allgemeinen s. im Art. »Arbeiter« von G. Schönberg im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, Bd. 1 (2. Aufl., Jena 1898) und im Art. »Arbeiterfrage« von F. Hitze im »Staatslexikon« der Görres-Gesellschaft, Bd. 1 (2. Aufl., Freiburg 1900); über die industrielle A. vgl. Schönberg in dessen »Handbuch der politischen Ökonomie«, Bd. 2 (4. Aufl., Tüb. 1896–98); Herkner, Die A., eine Einführung (3. umgearb. Aufl., Berl. 1902). Über die landwirtschaftliche A. in Deutschland ist das Hauptwerk: Th. von der Goltz, Die ländliche A. und ihre Lösung (2. Aufl., Danz. 1874); vgl. auch »Die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands, in Einzeldarstellungen nach den Erhebungen des evang.-sozialen Kongresses«, hrsg. von M. Weber (Tübing. 1899 ff.).


http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.

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