- Atheïsmus
Atheïsmus (v. griech. athĕos, »ohne Gott«). die Leugnung des Daseins Gottes oder einer Gottheit. Der A. stellt nicht eine besondere philosophische Weltansicht oder gar ein System vor, sondern bezeichnet nur die Opposition gegen irgend eine Art von Gottesglauben. die aus sehr verschiedenen Gründen entspringen kann und, je nach dem Gottesbegriff, um den es sich dabei handelt, eine sehr verschiedene Bedeutung hat. Daher ist es kein Wunder, daß zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Seiten Männer von sonst ganz verschiedener Welt- und Lebensanschauung als Atheisten bezeichnet worden sind. Vorzugsweise gilt den Anhängern des Theismus und des Deismus jede Lehre als atheistisch, welche die Vorstellung eines außerweltlichen Gottes verwirft und Gott in irgend einer Weise mit der Welt als Eins setzt (Pantheismus, Kosmotheismus). Nach dem christlichen Dogma insbes. sind Gott und Welt gesonderte Existenzen (wenn auch die Welt dabei als abhängig von Gott gedacht wird), und es erscheinen daher alle Bestrebungen, die darauf ausgehen, jenen Dualismus zu überwinden, von vornherein als atheistische, gleichgültig, ob die materiellen Atome für das absolute, letzte Sein erklärt werden, neben dem es kein andres gibt, oder ob (wie bei Spinoza) eine unbestimmt gedachte absolute Substanz angenommen wird, die durch die innere Notwendigkeit ihres Wesens alle einzelnen Erscheinungen aus sich hervortreibt. Wenn die Vertreter von Anschauungen der letztern Art dessenungeachtet zumeist dagegen Einspruch erhoben haben, als Atheisten bezeichnet zu werden, so wollten sie damit einerseits einer Verwechselung ihrer Lehre mit solchen Anschauungen entgegentreten, die ein der Vielheit der einzelnen endlichen Dinge zu Grunde liegendes und dieselbe umfassendes tieferes Sein überhaupt nicht anerkennen, dann aber auch den sittlichen Tadel von sich abweisen, den unduldsamer Fanatismus mit der Benennung A. verbunden hat. Das ist zwar nicht zu verkennen, daß mit der Beseitigung der dualistischen Vorstellung der außerweltlichen Existenz Gottes die Persönlichkeit Gottes in Frage gestellt und damit auch die kirchliche Lehre, daß die sittlichen Forderungen Gebote Gottes und als solche zu befolgen sind, erschüttert wird; falsch aber ist es, anzunehmen, daß durch den A. die Sittlichkeit selbst aufgehoben werde, und daß ein Atheist folgerichtigerweise ein unsittlicher Mensch werden müsse. Man kann vielmehr behaupten, daß die Beseitigung des Motivs der göttlichen Belohnung oder Strafe die Möglichkeit echt sittlichen Tuns nicht mindert, sondern steigert, denn nur dasjenige Handeln kann für wahrhaft sittlich gelten, bei dem jeder Verdacht selbstsüchtiger Beweggründe entfernt und der Wille von der Stimme des sittlichen Urteils allein abhängig gemacht wird. In diesem Sinne hat Kant das sittliche Handeln von der Rücksicht auf die Folgen, also auch von dem Glauben an die Existenz des Vergelters unabhängig erklärt. Die religiöse Verfolgungssucht hat jedoch die in Rede stehende Begriffsvermischung zu allen Zeiten ausgebeutet, um Gehässigkeit gegen unliebsame Freidenker zu erregen, wie aus der Lebensgeschichte eines Sokrates, Spinoza, der deutschen Philosophen Wolff und Fichte sattsam zu ersehen ist. Mit Gründen dem A. beizukommen, ist in der Tat schwer, denn die Leugnung des Daseins eines überweltlichen persönlichen Gottes ist in letzter Linie ebenso Glaubenssache wie die Annahme dieses Daseins. Unrichtig ist es daher vor allen Dingen auch, wenn von der einen oder von der andern Seite behauptet worden ist, daß die Naturwissenschaft zum A. führe. Es wird dieser Satz einerseits durch das Beispiel berühmter Naturforscher (Newton, Agassiz, Huxley u. a.), anderseits durch die Erwägung widerlegt, daß die Naturforschung sich um mit den gegenseitigen Beziehungen der Dinge, nicht aber mit dem letzten Grunde alles Seins beschäftigt. Wenn trotzdem neuere Naturforscher (Haeckel) sich vielfach im Sinne des A. geäußert haben, so haben sie damit entweder ihrem subjektiven Glaubensbekenntnis Ausdruck gegeben, oder sie wollten gegen die rohe Form des theistischen Gottesglaubens protestieren, die den Schöpfer in den natürlichen Lauf der Dinge zeitweilig eingreifen läßt, wieder Werkmeister in den Gang der Maschine eingreift. Dafür fehlt aber nicht nur jeder tatsächliche Beweis, sondern die Möglichkeit derartiger Vorkommnisse (Wunder) widerspricht den allgemeinsten Grundsätzen des Erkennens und muß deshalb von der Wissenschaft als ausgeschlossen erachtet werden. Daß übrigens auch auf atheistischer Grundlage Kultusformen sich entwickeln können, zeigt das Beispiel des Buddhismus; auch die allerdings ohne Verbreitung gebliebene »positive Religion« Comtes (s. d.) ist durchaus atheistisch. Entschieden verwerflich, wenn auch aus der Opposition gegen das hierarchische und in den Dienst weltlicher Interessen sich stellende Kirchentum erklärlich, ist der frivole A. der französischen Enzyklopädisten und Materialisten. Vgl. Noack, Die Freidenker in der Religion (Bern 1853–55, 3 Bde.); Blackie, Natural history of atheism (Edinb. 1877); Romanes, Gedanken über Religion (deutsch von Dennert, Göttingen 1899); E. Haeckel, Die Welträtsel (7. Aufl., Bonn 1901).
http://www.zeno.org/Meyers-1905. 1905–1909.